Zweites Kapitel

[331] In der Jean-Bart-Grube schob Katharina seit einer Stunde die Karren bis zur Ablösungsstelle; sie war dermaßen in Schweiß gebadet, daß sie einen Augenblick innehalten mußte, um sich das Gesicht abzutrocknen.

Chaval, der mit den Kameraden seiner Gruppe im Schlage arbeitete, war erstaunt, als er das Rollen der Karren nicht mehr hörte. Die Lampen brannten schlecht, der Kohlenstaub hinderte ihn zu sehen.

»Was gibt es?« schrie er.

Als sie ihm geantwortet hatte, daß sie schier zerfließe, und daß ihr das Herz aus dem Leibe zu fallen drohe, erwiderte er wütend:

»Dummes Vieh, mach' es wie wir und wirf das Hemd ab!«

Es war siebenhundertacht Meter tief im Norden, in dem ersten Teile der Désirée-Ader, drei Kilometer von der Einfahrt entfernt. Wenn die Bergleute von diesem Teil der Grube sprachen, erbleichten sie und dämpften die Stimme, als hätten sie von der Hölle gesprochen; sie schüttelten zumeist nur die Köpfe und zogen es vor, nicht von den glühenden Höllentiefen zu reden. In dem Maße, wie die Galerien sich nach Norden ausdehnten, näherten sie sich dem Gebiet des unterirdischen Brandes, der weiter oben die Felsen verkalkte. An der Stelle, wo man angelangt war, hatten die Schläge eine Durchschnittstemperatur von fünfundvierzig Grad. Man befand sich mitten in der verwünschten Gegend, unter den Flammen, die jeder, der durch die Ebene kam, in den Schlünden sehen konnte, die Schwefel und abscheuliche Dämpfe spien.

Katharina, die schon ihren Kittel abgelegt hatte, zögerte einen Augenblick, dann zog sie auch das Beinkleid aus. Mit nackten Armen und nackten Schultern, das Hemd nach Art eines Kittels mittels einer Schnur um die Hüften befestigend, machte sie sich wieder an die Arbeit.[332]

»Es wird so besser gehen«, sagte sie laut.

In ihre Beklemmung mengte sich eine unbestimmte Angst. Seit den fünf Tagen, da sie hier arbeiteten, dachte sie an die Geschichten, mit denen man sie in ihrer Kindheit erschreckt hatte, an die Schlepperinnen von ehemals, die unter der Erde brannten zur Strafe für Dinge, die man nicht zu wiederholen wagte. Sie war jetzt allerdings zu groß, um an solche Dummheiten zu glauben; und doch, was hätte sie getan, wenn plötzlich aus der Kohlenwand ein Mädchen hervorgekommen wäre, rot wie ein Ofen und mit zwei glühenden Kohlen an Stelle der Augen? Dieser Gedanke vermehrte noch ihren Schweiß.

Bei der Ablösungsstelle, achtzig Meter vom Schlage, übernahm eine andere Schlepperin den Karren und rollte ihn achtzig Meter weiter, bis zur schiefen Ebene, wo der Übernehmer ihn mit den von den höheren Gängen ankommenden zugleich an die Oberfläche schaffte.

»Du machst dir's aber bequem«, sagte dieses Weib, eine magere Witwe von dreißig Jahren, als sie Katharina sah. »Ich tu es nicht; die Jungens ärgern mich mit ihren unflätigen Reden.«

»Ich kümmere mich wenig um die Mannsleute; ich leide zu stark durch die Hitze«, antwortete das Mädchen.

Nach zwei Fahrten glaubte Katharina von neuem ersticken zu müssen.

»Schläfst du denn?« rief Chaval heftig, sobald er ihre Bewegungen nicht mehr hörte. »Wer hat mir ein solches Faultier an den Hals gehängt? Willst du wohl deinen Karren füllen und schieben?«

Katharina stützte sich auf ihre Schaufel. Unwohlsein erfaßte sie, während sie mit blöder Miene und ohne zu gehorchen die anderen betrachtete. Sie sah sie nur undeutlich bei dem rötlichen Schein der Lampen, ganz nackt wie die Tiere, so schwarz, so schmutzig von Schweiß und Kohle, daß ihre Nacktheit ihr nicht anstößig schien. Es war, als verrichteten Affen mit gestrecktem Rücken ihr finsteres Werk; ein höllisches Bild[333] von geröteten Gliedern, die sich unter dumpfen Schlägen und Ächzen erschöpften.

Katharina hatte sich mühselig wieder entschlossen, ihren Karren zu füllen, und schob ihn fort. Die Galerie war zu breit, als daß sie auf beiden Seiten an die Hölzer hätte anstoßen können. Ihre nackten Füße krümmten sich in dem Geleise, wo sie einen Stützpunkt suchten, während sie langsam, die Arme vorgestreckt, den Leib vorgebeugt, sich fortbewegte. Der Schweiß rann von ihrem ganzen Körper in großen Tropfen. Sie hatte noch nicht den dritten Teil der Strecke zurückgelegt und war schon in Schweiß gebadet, geblendet, mit schwarzem Schmutz bedeckt.

Was hatte sie denn heute? Niemals hatte sie sich so matt gefühlt. Es mußte an der verschlechterten Luft liegen. In diesem fernen Gang war keine Lüftung. Man roch alle Arten Dämpfe, die mit leisem Brodeln aufstiegen, manchmal so reichlich, daß die Lampen zu erlöschen drohten; von den schlagenden Wettern nicht zu reden, die jahraus, jahrein den Arbeitern um die Nase wehten. Sie kannte diese schlechte Luft sehr gut, diese tote Luft, wie die Grubenarbeiter sie nennen; unten erstickende, schwere Gase, oben leichte Gase, die sich entzünden und in einem einzigen Donnerschlage alle Werkplätze einer Grube, Hunderte von Menschen vernichten. Seit ihrer Kindheit hatte sie davon so viel verschluckt, daß sie sich wunderte, wie sie diese Luft heute so schwer ertrug, daß ihr die Ohren sausten und der Hals brannte.

Sie fiel jetzt auf die Knie. Die auf dem Karren zwischen den Kohlen stehende Lampe schien erlöschen zu wollen. In dem Wirrsal ihrer Gedanken erhielt sich nur der Wunsch, den Docht der Lampe emporzuschrauben. Zweimal wollte sie die Lampe untersuchen, und beide Male, als sie dieselbe vor sich auf den Boden hinstellte, sah sie die Flamme kleiner werden, als sei auch ihr der Atem ausgegangen. Plötzlich erlosch die Lampe. Alles versank in Finsternis, ein Mühlstein[334] kreiste in ihrem Schädel, ihr Herz hörte auf zu schlagen, gelähmt durch die ungeheure Mattigkeit, die ihre Glieder einschläferte. Sie lehnte sich zurück und lag in der erstickenden Luft wie tot am Boden.

»Ich glaube gar, sie faulenzt wieder«, grollte die Stimme Chavals von neuem.

Er lauschte von der Höhe des Schlages und hörte das Rollen der Räder nicht.

»He, Katharina, verdammte Blindschleiche!«

Seine Stimme verlor sich in der Ferne, in der finsteren Galerie; kein Laut antwortete.

»Soll ich dir auf die Beine helfen?« schrie er wieder.

Nichts bewegte sich; die nämliche Totenstille. Er stieg wütend herab und lief mit seiner Lampe so heftig dahin, daß er beinahe über den Körper der Schlepperin strauchelte, die querüber auf dem Wege lag. Erstaunt betrachtete er sie. Was hatte sie denn? Das war doch nicht etwa Verstellung, um sich ein Schläfchen zu gönnen? Doch als er die Lampe senkte, um ihr ins Gesicht zu leuchten, drohte sie zu erlöschen. Er hob sie in die Höhe, senkte sie wieder und begriff endlich: es mußte Stickluft sein. Seine Heftigkeit wich, und seine Zuneigung erwachte angesichts der in Gefahr befindlichen Genossin. Er schrie, man solle ihm sein Hemd bringen; er hatte das ohnmächtige Mädchen mit beiden Armen umfangen und hob sie so hoch, wie er konnte. Als man ihm seine und ihre Kleider über die Schultern geworfen hatte, eilte er davon, mit der einen Hand seine Last, mit der andern die beiden Lampen tragend. Die tiefen Galerien dehnten sich dahin: er rannte rechts, er rannte links, um die eisige Luft zu erreichen, die der Ventilator in die Grube strömen ließ. Ein Geplätscher, wie von einer Quelle, ließ ihn plötzlich stillhalten; es war eine Wasserader, die den Felsen durchbrochen hatte. Chaval hatte den Kreuzweg einer großen Abfuhrgalerie erreicht, die ehemals zum Gaston-Marie-Schacht gehört hatte. Die Lüftung wehte hier mit der Macht eines Sturmwindes; es war so kühl, daß er von einem Frösteln[335] geschüttelt wurde, als er seine Geliebte zu Boden setzte, die noch immer bewußtlos war.

»Katharina, hör'! ... Mach' keine Dummheiten ... Halte dich ein wenig, damit ich das Hemd ins Wasser tauchen kann.«

Er erschrak, als er sie so ohnmächtig sah; indes konnte er sein Hemd in die Quelle tauchen und wusch ihr das Gesicht damit. Der schmächtige Körper war wie tot und begraben hier tief unter der Erde. Dann lief ein Frösteln über ihre Glieder, sie schlug die Augen auf und stammelte:

»Mich friert.«

»Ach, das ist mir lieber!« rief Chaval erleichtert.

Er kleidete sie an. Sie war noch völlig betäubt, begriff nicht, wo sie sich befand, noch auch, weshalb sie nackt war. Als sie sich endlich erinnerte, überkam sie ein Gefühl der Scham.

Niemals hatte sie ihn so freundlich gesehen. Gewöhnlich tauschte sie für ein gutes Wort zwei Grobheiten ein. Es wäre so schön gewesen, in Eintracht zu leben. In ihrer Mattigkeit kam eine Regung der Zärtlichkeit über sie. Sie lächelte ihm zu und flüsterte:

»Küsse mich!«

Er küßte sie und setzte sich neben sie, um zu warten, bis sie wieder gehen könne.

»Sieh,« fuhr sie fort, »es war nicht recht von dir, daß du vorhin schriest. Ich konnte nicht weiter, wahrhaftig nicht! Ihr habt im Schlage weniger unter der Hitze zu leiden; aber wenn du wüßtest, wie man in dem Gange gebraten wird!«

»Gewiß wäre es unter den Bäumen angenehmer«, antwortete er. »Für dich ist's schlimm, auf diesem Werkplatz zu arbeiten, mein armes Mädchen, das merke ich wohl.«

Sie war sehr gerührt, als sie ihn so einsichtig sah, daß sie die Tapfere spielte.

»Es ist nur heute«, sagte sie; »ich bin so schwach, und die Luft ist so schlecht ... Aber du sollst gleich sehen, ob[336] ich eine Blindschleiche bin. Wenn man arbeiten muß, arbeitet man, nicht wahr? Ich würde lieber verenden als die Arbeit im Stich lassen.«

Ein Schweigen trat ein. Er hatte den Arm um ihren Leib gelegt und drückte sie an seine Brust, damit sie, keine Erkältung davontrage. Obgleich sie sich schon stark genug fühlte, zum Werkplatz zurückzukehren, vergaß sie sich doch mit Wonne an seiner Seite.

»Ich wünschte nur, daß du freundlicher seiest«, fuhr sie leiser fort. »Man ist so glücklich, wenn man sich ein wenig liebt.«

Sie begann still zu weinen.

»Aber ich liebe dich; ich habe dich zu mir genommen«, schrie er.

Sie antwortete nur mit einem Kopfschütteln. Die Männer nahmen oft Besitz von den Weibern, bloß um sie zu haben, unbekümmert darum, ob das Weib auch glücklich sei. Ihre Tränen flossen heißer; sie war jetzt trostlos, wenn sie daran dachte, welch schönes Leben sie führen würde, wenn sie einen andern Burschen gefunden hätte. Einen andern? In ihrer tiefen Bewegung tauchte das Bild dieses andern vor ihr auf. Doch das war vorüber; sie hatte nur noch den Wunsch, mit diesem da zu leben, wenn er sie nur weniger rauh behandeln wolle.

»Suche wenigstens von Zeit zu Zeit so zu sein wie jetzt«, sagte sie.

Ein Schluchzen unterbrach ihre Worte; er küßte sie von neuem.

»Sei nicht dumm«, sagte er. »Ich verspreche dir, daß ich artig sein will. Ich bin nicht schlimmer als jeder andere, glaub' mir!«

Sie schaute ihn an und lächelte wieder unter Tränen. Vielleicht hatte er recht, und es gab keine glücklichen Frauen. Dann – obgleich sie seinem Versprechen nicht traute – überließ sie sich der Freude, ihn liebenswürdig zu sehen. Mein Gott, wenn es von Dauer sein könnte! Sie hatten sich wieder umarmt und wurden durch[337] Schritte aufgeschreckt. Drei Kameraden, die sie hatten vorübereilen sehen, kamen näher, um zu erfahren, was es gebe.

Alle machten sich auf den Weg. Es war bald zehn Uhr, und man nahm sein Frühstück in einem kühlen Winkel, ehe man nach dem Schlag zurückkehrte, um dort zu schwitzen. Sie hatte eben ihren »Ziegel« verzehrt und einen Schluck Kaffee dazu aus der Feldflasche getrunken, als ein Lärm, der von den entfernten Schlägen herkam, sie in Unruhe versetzte. Was gab's denn? Vielleicht wieder einen Unglücksfall? Sie erhoben sich und eilten hin. Jeden Augenblick kreuzten Häuer und Schlepperinnen ihren Weg; niemand wußte etwas, und alle schrien; es mußte ein großes Unglück sein. Allmählich geriet die ganze Zeche in Aufruhr; entsetzte Schatten strömten aus den Galerien hervor, die Laternen zogen hüpfend durch die Finsternis dahin. Wo war's? Warum sagte man es nicht?

Plötzlich kam ein Aufseher vorüber und schrie:

»Man durchschneidet die Kabel! Man durchschneidet die Kabel!«

Da fuhr allen der Schreck in die Glieder. Es entstand ein wütendes Laufen durch die dunklen Galerien. Alle hatten den Kopf verloren. Weshalb durchschnitt man die Kabel? Wer durchschnitt sie, während noch Leute in der Grube waren? Das schien ihnen ungeheuer.

Doch jetzt kam ein anderer Aufseher, dessen Geschrei sich in den Galerien verlor.

»Die Arbeiter von Montsou durchschneiden die Kabel! Alle Leute hinaus!«

Als Chaval begriffen hatte, hielt er Katharina jäh zurück. Der Gedanke, daß er oben den Arbeitern begegnen werde, lähmte ihm die Beine. So war sie denn doch eingetroffen, diese Bande, die er in den Händen der Gendarmen glaubte! Einen Augenblick dachte er daran, umzukehren und durch den Gaston-Marie-Schacht aufzusteigen; allein der Fahrstuhl war dort nicht mehr in Betrieb. Er fluchte, zögerte, suchte seine Furcht zu verbergen[338] und wiederholte, es sei albern, so zu laufen. Man werde sie doch nicht in der Grube lassen.

Abermals ertönte die Stimme des Aufsehers, jetzt wieder näher:

»Alle hinaus! Zu den Leitern! Zu den Leitern!«

Chaval wurde von den Kameraden mitgerissen. Er drängte Katharina vor sich her, beschuldigte sie, nicht schnell genug zu laufen. Sollten sie allein in der Grube bleiben, um Hungers zu sterben? Die Räuber von Montsou seien imstande, die Leitern zu zerstören, noch ehe alle Arbeiter draußen waren. Dieser gräßliche Gedanke brachte alle völlig aus der Fassung; es entstand ein wütendes Rennen die Galerien entlang; jeder suchte dem andern zuvorzukommen. Einige Männer schrien, die Leitern seien zerbrochen, niemand gelange mehr ins Freie. Als sie in entsetzten Gruppen in dem Aufzugssaal ankamen, entstand eine Stockung; alle stürzten nach dem Schacht, arges Gedränge herrschte vor der schmalen Pforte, die zu den Leitern führte; ein alter Stallknecht, der vorsichtshalber die Pferde nach dem Stall zurückgeführt hatte, sah mit verächtlicher Sorglosigkeit dieses Treiben mit an, er war gewohnt, Nächte in der Grube zuzubringen, und war sicher, daß man ihn schließlich hinaufbefördern werde.

»Spute dich, steige vor mir hinauf«, rief Chaval Katharina zu; »so kann ich dich wenigstens festhalten, wenn du fällst.«

Atemlos und völlig erschöpft durch diesen drei Kilometer weiten Lauf, der sie wieder mit Schweiß bedeckt hatte, ließ sie sich von der Menge fortschieben, ohne die Sache zu begreifen. Er faßte sie am Arm mit solcher Gewalt, als wollte er ihn zerquetschen; sie stieß einen Wehruf aus, und Tränen stürzten ihr aus den Augen. Schon hatte er sein Versprechen vergessen; sie würde niemals glücklich werden.

»Vorwärts!« brüllte er.

Doch sie hatte zu große Furcht vor ihm. Wenn sie vor ihm hinaufstiege, würde er sie die ganze Zeit mißhandeln.[339] Darum widersetzte sie sich, während die tolle Menge der Kameraden beide zur Seite stieß. Wasser fiel in schweren Tropfen herab, der Fußboden, durch das Getrappel der Menge erschüttert, zitterte über der mit schmutzigem Wasser gefüllten Senkgrube, die eine Tiefe von zehn Meter hatte. Gerade im Jean-Bart war vor zwei Jahren das Unglück geschehen, daß ein Kabel riß und die Schale in die Senkgrube stürzte, wo zwei Arbeiter ertranken. Dieses Unglücksfalles erinnerten sich jetzt alle; wenn man auf dem Bretterboden in allzu großer Menge sich ansammelte, könnten alle in der Senkgrube ihren Tod finden.

»Verwünschter Dickschädel!« schrie Chaval. »Krepiere also! Ich bin dich dann los.«

Er ging voraus, und sie folgte ihm.

Von der Tiefe der Grube bis zur Erdoberfläche führten hundertzwei Leitern von je sieben Meter Länge. Jede Leiter stand auf einem schmalen Absatz, der die Breite des Schachtes hatte, in dem ein viereckiges Loch knapp so viel Raum ließ, daß man die Schultern durchschieben konnte. Es war wie ein glatter Kamin von siebenhundert Meter Höhe; ein feuchter, finsterer, endloser Schlauch, wo Leiter auf Leiter stand, fast gerade, in regelmäßigen Stockwerken. Ein kräftiger Mann brauchte fünfundzwanzig Minuten, um diese Riesensäule zu ersteigen. Dieser Schacht diente übrigens nur zum Aufstieg, wenn ein Unglücksfall sich ereignete.

Anfänglich stieg Katharina munter hinan. Ihre Füße waren daran gewöhnt, über die kleinen Kohlenstücke zu schreiten, die auf den Wegen lagen; sie litten denn auch nicht durch die viereckigen Leitersprossen, die mit Eisen belegt waren, um nicht abgenützt zu werden. Ihre abgehärteten Hände faßten mutig die dicken Pfosten der Leitern. Sie fand sogar Zerstreuung daran und vergaß ihren Kummer bei diesem unvorhergesehenen Aufstieg, dieser langen Schlange von Menschen, die sich hinaufwand, drei auf jeder Leiter, so daß die ersten oben sein mußten, wenn die letzten noch über der Senkgrube[340] standen. Man war aber noch nicht soweit. Die ersten mochten kaum ein Drittel des Schachtes zurückgelegt haben. Niemand sprach mehr; die Füße stapften mit dumpfen Geräusch dahin, während die Lampen – gleich irrenden Sternen – in immer wachsender Linie aufstiegen.

Katharina hörte hinter sich einen Jungen die Leitern zählen. Dies brachte sie auf den Gedanken, ebenfalls zu zählen. Man hatte fünfzehn erstiegen und gelangte jetzt zu einem Absatz. In demselben Augenblick stieß sie an die Füße Chavals. Er fluchte und schrie ihr zu, sie solle besser aufpassen. Die ganze Säule blieb stehen und wurde unbeweglich. Was war's? Was ging vor? Jeder fand seine Stimme wieder, um zu fragen und zu erschrecken. Die Angst stieg immer drückender aus der Tiefe herauf; das unbekannte Hindernis dort oben schnürte allen immer mehr die Kehle zu. Jemand verkündete, man müsse wieder hinabsteigen, die Leitern seien gebrochen. Dann wieder ging eine andere Erklärung von Mund zu Mund: ein Häuer sei von einer Leitersprosse abgeruscht. Man wußte nichts Genaues; in dem Geschrei war nichts zu hören. Sollte man denn auf den Leitern übernachten? Endlich wurde, ohne daß man Aufklärung bekommen, der Aufstieg fortgesetzt mit derselben langsamen und mühseligen Bewegung, dem dumpfen Geräusch der Tritte und dem Tanz der Lampen. Die zerbrochenen Leitern mußten höher sein.

Bei der zweiunddreißigsten Leiter – man war eben bei einem dritten Absatz vorbeigekommen – fühlte Katharina ihre Beine und Arme steif werden. Zuerst hatte sie ein leichtes Prickeln der Haut gefühlt. Sie verlor jetzt das Gefühl für Eisen und Holz unter den Füßen und in den Händen. Ein immer mehr anwachsender, brennender Schmerz wütete in ihren Muskeln. In der Betäubung, die sich ihrer bemächtigte, erinnerte sie sich der Geschichten des Großvaters Bonnemort aus der Zeit, als es noch keine Aufzüge gab und kleine Mädchen von zehn Jahren die Kohle auf ihren Schultern[341] hinaufschafften auf den Leitern, die an der kahlen Wand aufgestellt waren. Wenn eine ausglitt oder ein Stück Kohle aus einem Korbe fiel, stürzten gleich drei, vier Kinder ab. Die Krämpfe in ihren Gliedern wurden unerträglich; sie verzweifelte daran, hinaufzugelangen.

Es traten neue Stockungen ein, und diese gestatteten ihr, sich ein wenig zu verschnaufen. Allein das Entsetzen, das jedesmal von oben herabwehte, vollendete ihre Betäubung. Der Atem der Menschen über ihr und unter ihr floß zusammen, ein Schwindelgefühl ging von diesem endlosen Aufstieg aus, dessen Übelkeit sie ebenso durchrüttelte wie die anderen. Sie erstickte fast, betäubt von der Finsternis, verzweifelt über das fortwährende Anstoßen an die Mauern des engen Schlundes. Sie fröstelte auch infolge der Feuchtigkeit; ihr Körper war in Schweiß gebadet, und die Nässe drang in eiskalten Tropfen auf sie ein. Der Regen fiel so dicht, daß er die Lampen auszulöschen drohte.

Chaval fragte zweimal Katharina, ohne eine Antwort zu erhalten. Was trieb sie denn da unter ihm? Hatte sie ihre Zunge fallen lassen? Sie konnte ihm doch sagen, ob sie sich noch halte. Der Aufstieg währte schon eine halbe Stunde, ging aber so langsam vor sich, daß man erst auf der neunundfünfzigsten Leiter war. Noch dreiundvierzig waren übrig. Katharina stammelte endlich, daß sie sich noch halte. Er hätte sie wieder eine Blindschleiche genannt, wenn sie ihm ihre Müdigkeit gestanden hätte. Das Eisen der Sprossen schien jetzt die Füße einzuschneiden; ihr war, als säge man sie bis auf die Knochen durch. Jedesmal, wenn sie die Hände nach den Pfosten ausstreckte, war sie darauf gefaßt, sie abgleiten zu sehen; sie waren dermaßen zerschunden und steif, daß sie die Finger nicht schließen konnte; sie glaubte abstürzen zu müssen; ihr war, als seien ihre Schultern losgerissen, ihre Knie aus den Gelenken geraten. Sie litt besonders durch die geringe Neigung der Leitern, die fast senkrecht standen, so daß sie genötigt war, sich durch die Kraft der Handknöchel emporzuziehen,[342] wobei der Leib an das Holz gepreßt war. Das Keuchen der Menge verdeckte jetzt das Stapfen der Tritte; ein ungeheures Röcheln, zehnfach verstärkt durch die engen Wände des Schlundes, erhob sich aus der Tiefe und erstarb an der Erdoberfläche. Jetzt ward ein Ächzen hörbar, Worte flogen von Mund zu Mund: ein Junge hatte sich an der Kante eines Absatzes den Schädel eingerannt.

Katharina stieg immer höher. Der Regen hatte aufgehört, Nebel verdichtete die Kellerluft, die durch den Geruch alten Eisens und feuchten Holzes verdorben war. Hartnäckig fuhr sie fort, im stillen zu zählen: einundachtzig, zweiundachtzig, dreiundachtzig; noch neunzehn. Diese immer wiederholten Ziffern allein waren es, die sie mit ihrem gleichmäßigen Takt aufrechthielten. Sie hatte nicht mehr das Bewußtsein ihrer Bewegungen. Wenn sie die Blicke erhob, sah sie die Lampen spiralförmig kreisen. Ihr Blut fieberte; sie fühlte, daß sie sterbe, daß der leiseste Hauch genügen werde, um sie hinabzuschleudern. Das schlimmste war, daß die nach ihr kommenden Leute jetzt drängten und die ganze Säule aufwärts stürmte, getrieben von der wachsenden Verzweiflung über ihre Ermüdung und von dem wütenden Bedürfnis, die Sonne wiederzusehen. Die ersten waren jetzt aus dem Schacht, es gab also keine zerbrochenen Leitern; doch der Gedanke, daß man sie zerbrechen könne, um die letzten an der Ausfahrt zu hindern, während die anderen sich schon oben erholen konnten, machte sie vollends toll. Als wieder eine Stockung eintrat, wurden wilde Flüche ausgestoßen, alle fuhren fort aufzusteigen, einander stoßend, über Leiber hinwegschreitend, damit man um jeden Preis ins Freie gelange.

Da stürzte Katharina. Sie hatte einen verzweifelten Hilferuf nach Chaval ausgestoßen. Er hörte nicht; er rang mit einem Kameraden, um vor ihm hinaufzugelangen. Sie wurde fortgerissen und getreten. In ihrer Ohnmacht hatte sie einen Traum: ihr schien, sie sei[343] eine der kleinen Schlepperinnen von ehemals, und ein Stück Kohle, das über ihr aus einem Korbe gefallen, habe sie in die Tiefe des Schachtes hinabgeschleudert wie einen Sperling, den ein Kieselstein getroffen. Nur fünf Leitern waren noch zu ersteigen. Der Aufstieg hatte fast eine Stunde gedauert. Niemals erfuhr sie, wie sie ans Tageslicht gelangt war, von Schultern getragen, durch die Enge des Schlotes festgehalten. Plötzlich befand sie sich in der blendenden Sonnenhelle inmitten einer schreienden, wütenden Menge.

Quelle:
Zola, Emile: Germinal. Berlin [1927], S. 331-344.
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