[30] Kain

Hier holte ich frischen Atem. Alles Geschehene war so gräßlich, so plötzlich – ich konnte selbst nicht daran glauben. Ich sah mich um – aber durch die Kiefern glühte der rote Widerschein der Feuersbrunst. Ich betastete mich und besudelte meine Finger mit dem Blut des Starosten.

Das verrät mich dem ersten, der mich findet! dachte ich und riß mir die befleckten Kleider vom Leibe und verbarg sie in dichtes Gesträuch und wusch mir die Hände im Tau des Grases rein. So halb entkleidet rannte ich auf der Landstraße hin.

»Wer bist du nun?« sprach ich zu mir selbst: »Wer dich erblickt, wird dir nachsetzen. Nur Wahnsinnige oder Mörder laufen im Hemd durch die Wälder; oder ich muß sagen, ich sei beraubt worden. Würde mir ein Bauer begegnen, den ich übermannen könnte, er müßte mir seinen Kittel geben. So wäre ich für die ersten Augenblicke geborgen. Über Tag kann ich im[30] Dickicht der Wälder verborgen bleiben, nachts meinen Lauf fortsetzen. Aber woher Nahrung nehmen? Woher Geld?« – Jetzt fiel mir bei, wie ich meine Brieftasche im weggeworfenen Rock gelassen und mich aller Barschaft beraubt hatte.

Ich stand still und unentschlossen. Einen Augen blick dachte ich daran, umzukehren und meine Brieftasche zu suchen. Aber – das Blut des Starosten! Ich hätte es nicht wieder sehen mögen, und wäre eine Million zu holen gewesen. – Und zurückgehen, die spielende Feuerglut zwischen den Kiefern beständig vor Augen haben ... nein, die Flammen der offenen Hölle lieber! – So wanderte ich weiter.

Da hörte ich das Rasseln eines Wagens – vielleicht eine Feuerspritze und zu Hilfe eilende Bauern. – Ich stürzte ich mich ins Gebüsch, von wo ich die Landstraße beobachten konnte. Ich zitterte wie ein Espenblatt. Da kam langsam, von zwei Pferden gezogen, ein geschmackvoller, offener Reisewagen und mit Koffern gepackt. Ein Mann saß darin und lenkte die Rosse. Er fuhr immer langsamer und hielt endlich still nahe vor mir. Er stieg aus, ging um den Wagen herum, besah ihn von allen Seiten; dann verließ er den Wagen und ging abwärts vor mir über die Straße ins Gebüsch.

»Dir wäre geholfen, wenn du im Wagen säßest!« rief's in mir: »Deine Beine sind wie gebrochen. Sie schleppen dich nicht mehr. Du wärest gerettet. Kleider, Geld, schnelle Flucht, alles wäre vorhanden. Der Himmel will sich deiner annehmen. Benutze den Wink. Der Wagen ist leer. Schwing dich hinein!«

Gedacht, getan. Denn mit Überlegen war kein Augenblick zu versäumen. Jeder ist sich selbst der Nächste; man rettet sich, wie man kann. Verzweiflung und Not haben kein Gesetz. Ein Satz, und ich war aus dem Gebüsch auf der Straße, von der Straße im Wagen. Ich ergriff den Leitriemen und lenkte die Rosse mit dem Wagen um, von meiner brennenden Heimat ab. Da sprang der Eigentümer aus dem Wald hervor, und in dem Augenblick, da ich die Pferden die Peitsche fühlen ließ, wollte[31] er ihnen in die Zügel fallen. Er stand vor ihnen. Ich schlug heftiger – jetzt mußte alles gewagt sein. Die Rosse bäumten sich und drangen vorwärts. Der Eigentümer fiel und lag unter den Pferden. Ich fuhr über ihn weg. Er schrie Hilfe. Seine Stimme durchbohrte mich. Es war eine bekannte Stimme – eine geliebte Stimme. Ich traute meinen Ohren nicht. Ich hielt still und lehnte mich aus dem Wagen, um nach dem Unglücklichen zu sehen. – Ich sah ihn! – Aber – ich schaudere, indem ich's sage – ich sah meinen Bruder, der seine Sachen in Prag unerwartet abgetan oder andere Ursachen zur Heimreise gehabt haben mußte.

Ich saß da, wie vom Blitz gerührt; gelähmt, erstarrt. Unter mir winselte der Geräderte. Das hatte ich nicht gewollt, nicht gedacht. Ich schleppte mich langsam aus dem Wagen. Ich sank zu meinem geliebten Bruder nieder. Das schwere Rad war ihm über die Brust gegangen. Ich rief mit bebender, leiser Stimme seinen Namen. Er hörte mich nicht mehr, er erkannte mich nicht mehr. Er hatte ausgelitten. Ich war der Verruchte, der ihm ein Leben geraubt hatte, das mir so teuer war als das meinige. – Entsetzlich, zwei Morde in gleicher Nacht! freilich beide unwillkürlich, beide in der Verzweiflung begangen. Aber sie waren doch begangen und Folgen des ersten Verbrechens, das ich hätte meiden sollen.

Meine Augen wurden naß, aber es waren nicht Tränen der Wehmut über den geliebten Toten, sondern Tränen der rasenden Wut gegen mein Schicksal, gegen den Himmel. Nie in meinem Leben hatte ich mich mit einem groben Verbrechen besudelt. Ich war gefühlvoll gegen alles Schöne, Gute, Große und Wahre gewesen. Ich hatte keine süßere Freude gehabt als am Glücklichmachen. Und nun, ein verdammter Leichtsinn – ein unseliger Augenblick von Selbstvergessenheit – und das – und das frevelvolle Spiel des Zufalls oder der Notwendigkeit hatten mich zum elendesten, verworfensten Wesen unter dem Himmel gemacht. O prahle doch niemand mit seiner Tugend, mit seiner[32] Kraft, mit seiner Besonnenheit! – Es gehört nicht mehr als eine Minute dazu, in der man seine bessern Grundsätze ein wenig auf die Seite stellt, – nicht mehr als eine Minute, und der Engelreine ist aller Schandtaten fähig. Wohl ihm, wenn sein Verhängnis es besser mit ihm will als mit mir und ihm nicht elenderweise einen Bruder zu rädern in den Weg legt!

Doch nichts von Moral. Wer sie hier nicht von selbst gefunden hat, für den gibt es keine. Ich will zum Ende meiner Unglücksgeschichte eilen, die kein Dichter jemals schauerlicher ersinnen konnte.

Quelle:
Heinrich Zschokke: Hans Dampf in allen Gassen. Frankfurt a.M. 11980, S. 30-33.
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