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Auf meiner letzten Reise im Norden unsers Vaterlandes ließ ich mich einen kleinen Umweg nicht verdrießen, um einen meiner Lieblinge aus dem goldenen Zeitalter des Lebens einmal wieder zu sehen. Man erlaube mir indessen, in der folgenden Erzählung Namen von Gegenden, Ortschaften und Personen zu verschweigen oder zu verändern. Die Geschichte bleibt darum nicht weniger wahr, wie unwahrscheinlich sie auch Vielen vorkommen mag.
Jener Liebling also war der Freiherr Olivier von Flyeln, mit dem zugleich ich auf der Göttinger Hochschule den Wissenschaften obgelegen hatte. Er war damals einer der trefflichsten und zugleich einer der geistvollsten jungen Männer gewesen. Die Liebe zu den römischen und griechischen Schriftstellern hatte uns zusammengeführt und verbunden. Ich nannte ihn nur meinen Achilles, er mich seinen Patroklus. Aber er hätte in der Tat jedem Künstler zum Urbild eines Achilles dienen können. In Gestalt und edler Haltung einem jungen Halbgott ähnlich, Trotz und Güte im dunkeln Feuer seines Blicks, gelenk und gewandt wie keiner, der kühnste Schwimmer, der schnellfüßigste Renner, der wildeste Reiter, der anmutigste Tänzer, hatte er dabei das edelmütigste und furchtloseste Herz. Sein Edelmut verwickelte ihn in mancherlei unangenehme Händel, weil er sich, oft ungerufen der Unterdrückten annahm. Er mußte sich deshalb mehrmals mit andern schlagen; er scheute die besten Fechter nicht; ging in den Kampf wie zu einer Lustpartie, wurde dabei, als wäre er am ganzen Leibe gefeit, niemals verwundet, ließ aber keinen ungezeichnet von sich gehen.
Seit unserer Trennung hatten wir uns mehrere Male geschrieben; aber wie es denn so geht, wenn man in den Wogen des Lebens auseinander kömmt; wir vergaßen uns zwar nie,[297] aber zuletzt doch den Briefwechsel. Ich wußte zuletzt nur von ihm, daß er Hauptmann bei einem Infanterie-Regiment gewesen. Jetzt mochte er etwa fünfunddreißig Jahre alt und im Range vorgerückt sein. Sehr zufällig erfuhr ich auf der Reise den Standort seines Regiments, und das verleitete mich, wie gesagt, zu dem Umwege.
Der Postillon fuhr mit mir in die Straßen der alten, weitläufigen, reichen Handelsstadt und hielt vor dem ansehnlichsten Gasthof. Sobald ich vom Aufwärter mein Zimmer angewiesen erhalten hatte, fragte ich ihn, ob es bei dem hier stehenden Regimente nicht einen Freiherrn von Flyeln gebe?
Sie meinen den Major? fragte der Aufwärter.
Major kann er wohl sein. Ist seine Wohnung entfernt von hier? Trifft man ihn um diese Zeit an? Es ist schon spät; aber ich wünsche, daß mich jemand zu ihm führe.
Verzeihen Sie, der Herr steht nicht mehr beim Regimente, schon lange nicht mehr! Er hat den Abschied genommen oder nehmen müssen.
Müssen? Warum?
Er hat allerlei Geschichten getrieben, wunderliches Zeug; ich weiß selbst nicht, was? Er ist zuletzt nicht recht im Kopf gewesen; übergeschnappt und verrückt geworden. Man sagt, er habe sich um den Verstand studiert.
Diese Antwort erschreckte mich so, daß ich die Fassung verlor.
Und wie denn? stammelte ich endlich, um doch etwas zu fragen und um Genaueres zu erfahren.
Verzeihen Sie, sagte der dienstfertige Aufwärter; was ich weiß, habe ich nur von Hörensagen; denn er hat den Abschied genommen, bevor ich hierher kam. Man erzählt aber noch viel von ihm; zum Beispiel hat er mancherlei Händel mit Offizieren gehabt und jeden Du geheißen, sogar den General, jeden, er mochte sein, wer er wollte. Als er eine reiche Erbschaft von seinem Oheim in Empfang genommen hatte, bildete er sich ein, er[298] sei bettelarm geworden, könne seine Schulden nicht bezahlen und verkaufte, was er um und an sich hatte. Er soll auch gotteslästerliche Reden in seinem Wahne ausgestoßen haben. Das Lustigste aber ist, daß er seiner Familie zum Trotz ein unehrliches Mädchen, ein Gaunerkind, geheiratet hat. Auch sein Anzug soll zuletzt gar toll gewesen sein, ganz hanswurstmäßig, so daß ihm alle Gassenbuben nachliefen. Man hat ihn in der Stadt sehr bedauert; denn er war vorher allgemein geliebt und muß, so lange er noch bei vollem Verstande war, ein vortrefflicher Herr gewesen sein.
Und wo befindet er sich jetzt?
Ich kann es nicht sagen. Er hat die Stadt verlassen; man hört und sieht jetzt nichts mehr von ihm. Vermutlich hat ihn seine Familie irgendwo untergebracht, um ihn heilen zu lassen.
Mehr wußte der Aufwärter nicht zu berichten. Ich hatte schon zuviel gehört und warf mich, wie gelähmt, in einen Sessel. Ich dachte mir noch die Heldengestalt des geistvollen Jünglings, von dessen Zukunft ich so hohe Erwartungen gehegt hatte, der sowohl durch seinen Stand, als durch seine großen Familienverbindungen Ansprüche auf die ersten Stellen im Heere oder im Staate hätte machen können; der durch seine Kenntnisse, durch seine seltenen Geistesgaben zu allem Großen berufen zu sein schien – und der nun einer jener Unglücklichen war, vor deren Anblick die Menschheit mitleidig zurückschaudert! Hätte ihn doch der Engel des Todes lieber der Welt entrückt, als ihn zum traurigen Schauspiel, als klägliches Zerrbild, leben zu lassen!
Wie gern ich den guten Olivier wiedergesehen hätte, war mir's doch lieb, ihn nicht mehr in der Stadt zu wissen. Ach, er wäre ja doch nicht mehr Olivier, nicht mehr mein herrlicher Achilles gewesen, sondern ein kläglicher, unkenntlicher Torso! Ich wollte ihn nicht sehen, auch wenn es mir leicht gewesen wäre, ihn zu finden. Dann hätte ich meinen Göttinger Achilles in Gedanken mit der Gestalt eines Wahnsinnigen wechseln[299] müssen; das hätte mir eine der liebsten und anmutigsten Erinnerungen geraubt. Ich wollte ihn aus demselben Grunde nicht wiedersehen, wie ich keinen meiner Freunde im Sarge betrachten mag, weil ich nur die Gestalt des Lebendigen in Gedanken bewahren will; oder wie ich's meide, Zimmer, die ich vor Zeiten bewohnte, die nun aber von andern bewohnt werden, die nun ganz anders eingerichtet sind, wieder zu betreten. Das Ehemals und Jetzt verwirrt sich immer in meinen Vorstellungen auf eine unausstehlich-peinliche Weise.
Ich war noch in allerlei Betrachtungen über die Natur des menschlichen Wesens verloren, und wie derselbe Geist, welcher die Räume des Weltalls mißt, das Höchste ahnt – durch Druck oder Verletzung eines unsichtbaren Teils seines Nervengewebes zum widerlich verstimmten Saitenspiel, sich und der übrigen Welt ein unverständlicher Fremdling, werden muß, da trat der Aufwärter herein und rief mich zum Nachtessen.
Die Wirtstafel im hell erleuchteten Speisesaal war von vielen Gästen besetzt. Es traf sich, daß mir ein Platz in der Nachbarschaft einiger Offiziere der hiesigen Besatzung angewiesen wurde. Natürlich leitete ich das Gespräch, sobald es einmal unter uns angeknüpft war, auf meinen Freund Olivier. Ich gab die genauesten Einzelheiten über ihn an, so viel ich deren wußte, um jede Verwechselung der Personen zu verhüten; denn es war ja möglich, und ich glaubte die Möglichkeit, daß der wahnsinnige Freiherr von Flyeln ein ganz anderer, als mein Achilles von Göttingen sei. Allein alles, was ich sagte, alles, was ich dagegen hörte, bestätigte zu sehr, daß hier keine Verwechselung stattfinde.
Es ist jammerschade um den Baron! seufzte einer der Offiziere, jedermann hatte ihn gern. Er war einer der Bravsten beim Regiment, ein verwegener Teufel; das sahen wir beim letzten Feldzug in Frankreich. Was keiner von uns wagte, das wagte er spielend; aber es glückte ihm auch alles. Denkt nur an die Batterie bei Belle-Alliance! Wir hatten sie verloren; der General riß[300] sich die Haare aus dem Kopf; Flyeln rief: Wir müssen sie wieder nehmen, sonst ist alles dahin! Drei Angriffe hatten wir vergebens gemacht; da geht Flyeln mit seiner Compagnie noch einmal vor, nimmt's mit einem ganzen Bataillon Garden auf, und, bei Gott, er schlägt sich in gräßlicher Metzelei durch und nimmt die Batterie!
Aber es kostete auch die halbe Compagnie! rief ein alter Hauptmann neben mir; ich war Augenzeuge. Er kam, wie gewöhnlich, ohne Schramme davon; ungeheures Glück begleitete den Menschen, und der gemeine Soldat läßt sich's noch jetzt nicht ausreden, der Baron habe sich hieb-, stich- und kugelfest machen können.
Ich hörte mit wahrer Wonne dem lobreichen Gespräch über den guten Olivier zu; ich erkannte ihn an allen seinen Tugenden wieder. Man pries besonders seine wohltätigen Handlungen; er war der Gründer und Verbesserer einer Schule für Soldatenkinder, und hatte dafür große Ausgaben gemacht. Er hatte im Stillen viel Gutes gewirkt; immer ein einfaches, eingezogenes Leben geführt; nie zu Mutwillen, nie zu Ausschweifungen sich geneigt, zu welcher Jugend, Schönheit, Kraftfülle und Reichtum so leicht verlocken. Ja, die Offiziere gestanden mir, daß der Freiherr einen bedeutenden Einfluß auf die Veredelung des Tons unter dem Offizierskorps, auf die ernstern Sitten desselben und auf dessen wissenschaftlichere Bildung gehabt. Er selbst habe Vorlesungen über verschiedene, dem Krieger nützliche Gegenstände gehalten, bis es untersagt worden sei.
Und warum untersagt? fragte ich verwundert.
Eben in diesen Vorlesungen, antwortete mir einer meiner Tischnachbarn, offenbarten sich die ersten Spuren seiner beginnenden Geisteszerrüttung. Kein Jakobiner im Pariser Nationalkonvent hat jemals rasender gegen monarchischen Einrichtungen, so wie gegen die verschiedenen europäischen Höfe und ihre Politik, als er zuweilen. Er sagte geradezu, die Völker selber würden früh oder spät sich selber helfen, sich und den[301] Königen, gegen Ministerwillkür, Priesterherrschaft und Handelsbedrängung. Er meinte auch, die Revolution werde unvermeidlich von Volk zu Volk, mild oder stürmisch, übergehen, und binnen einem halben Jahrhundert die politische Gestalt Europas verändern. Genug, die Vorlesungen wurden ihm billig und mit Recht untersagt. Eben so toll deklamierte er zuweilen gegen den Adel und dessen Vorrechte. Wenn man ihn dann daran erinnerte, daß er ja selbst Baron wäre, antwortete er: Ihr habt die Torheit, mich so zu nennen; ich bin ein vernünftiger Mensch und von Geburt eben so viel, wie unser Profos.
Das waren aber nur die ersten Vorspuren der Geisteszerrüttung! rief ein junger Lieutenant; allein der erste Akt seiner Narrheit war, als er den Obristlieutenant von Berken anfiel, mit Maulschellen bewirtete und die Treppe hinunterwarf, nachher aber die Herausforderung nicht anzunehmen wagte, und bei der Gelegenheit das ganze Offizierkorps beleidigte.
Er war doch sonst ein guter Schläger, der die blanke Klinge eben nicht fürchtete! sagte ich.
Wir kannten ihn bis dahin auch nur als solchen; aber, wie gesagt, seine ganze Natur änderte sich. Als er auf den Platz kam, wo er sich schlagen sollte, erschien er ohne Degen, bloß mit einer Rute in der Hand, und sagte in unser aller Gegenwart zum Oberstlieutenant mit lachendem Munde: Du verächtlicher Bock, wenn ich Dich wirklich mit dem Degen zerfetzte, würdest Du darum mehr wert sein? Und als der Oberstlieutenant seinen Zorn nicht mehr mäßigen konnte und den Degen zog, entblößte der Major kaltblütig die Brust, hielt sie ihm hin und sagte: Hast Du Lust, Meuchelmörder zu werden: stoß zu! – Wir wollten uns in den Wortwechsel mischen, ihn zwingen, sich mit dem Oberstlieutenant zu schlagen, wie Pflicht und Ehre geboten; da nannte er uns allesamt Narren, die mit ihren Grundsätzen von Ehre ins Irrenhaus oder ins Zuchthaus gehörten. Nun konnten wir bald merken, daß es bei ihm nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen wäre. Einige unter uns schimpften[302] ihn; daraus machte er nichts, sondern lachte. Wir begaben uns zum General, wir erzählten demselben offenherzig den ganzen Vorfall. Der General ward sehr verdrießlich, um so mehr, da er an demselben Tage für den Major einen Orden vom Hofe erhalten hatte. Er bat uns, ruhig zu sein; er wolle alles vermitteln, der Major müsse Genugtuung geben. Am folgenden Morgen bei der Parade überreichte der General, laut Vorschrift, mit einer angemessenen Rede dem Major den Orden. Der Major nahm ihn nicht an, sondern antwortete in den ehrerbietigsten Worten die unehrerbietigsten Dinge, des Inhalts: Er habe für das Vaterland, und nicht für ein Endchen Band gegen Napoleon gefochten. Habe er einiges Lob verdient, so wolle er's doch nicht vor aller Augen an der Brust zur Schau tragen. Der General war außer sich vor Schrecken. Keine Bitten, keine Drohungen konnten den Major bewegen, das königliche Gnadenzeichen anzunehmen. – Nun traten die Offiziere vor und erklärten, sie könnten nicht mehr mit dem Major dienen, wenn er nicht Genugtuung leiste. – Die Sache kam zur Untersuchung; der Major in Verhaft und dann vom Hofe die Entlassung des Majors. Nun brach die volle Narrheit erst recht aus. Er ließ sich den Bart wachsen wie ein Türke; trug lächerliche Kleider; heiratete, seinen Verwandten zum Trotz, ein ganz gemeines, übrigens hübsches Mädchen, ein Findelkind, wegen dessen er schon mit dem Oberstlieutenant Händel gehabt hatte; hielt sich eine Zeitlang für blutarm und beging so vielerlei Torheiten, daß er endlich auf königlichen Befehl unter Aufsicht gestellt und auf seine Güter verwiesen wurde.
Wo lebt er jetzt? fragte ich.
Auf seinen Gütern, zu Flyeln, im Schlosse seines verstorbenen Oheims; es mögen ungefähr zehn Meilen von hier sein. Ein Jahr lang durfte ohne Erlaubnis niemand zu ihm, sogar die Verwaltung seines Vermögens wurde ihm entzogen. Sie ist ihm jetzt wieder überlassen, doch muß er jährlich Rechnung ablegen, darf sich auch keinen Schritt über die Grenzen seiner[303] Gerichtsherrlichkeit entfernen. Er dagegen hat die ganze Welt feierlich in den Bann getan, und läßt weder Verwandte noch Bekannte oder Freunde zu sich. Man hat schon seit Jahr und Tag nichts mehr von ihm vernommen.
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