[314] Bei Oliviers Vorliebe zu den alten Römern und den homerischen Griechen wurde ich auf dem Hingange zum Schlosse ein wenig wegen des Mittagsmahls besorgt; denn nach seinem Bart, Barett und übrigen Anzug zu schließen, konnte ich nur eine für mich höchst unbequeme Haltung am Tisch erwarten; nämlich daß ich entweder altrömisch, auf Polstern der Länge nach hingelagert, oder wohl gar schneidermäßig, auf gut orientalisch, die Beine kreuzweis untereinander geschlagen, die Suppe einnehmen müsse.
Die liebenswürdige Baronin kam uns entgegen und führte uns ins Speisezimmer. Meine Sorge wurde sogleich durch den Anblick europäischer Tische und Stühle gehoben. Es waren zwölf Gedecke auf dem runden Tische. Die Gäste fanden sich auch bald ein; es waren Mägde, Knechte, Schreiber des Barons.[314] Ein artiges junges Stubenmädchen blieb ohne Stuhl und bediente, als Hebe, die andern beim patriarchalischen Mahle. Der Baron verrichtete, ehe wir uns setzten, ein kurzes Gebet; dann ging's an die kräftige Suppe. Die Speisen waren vortrefflich zubereitet, doch einfach. Ich bemerkte, daß, außer dem Wein alle Gerichte aus den Erzeugnissen des eigenen Bodens und benachbarten Meeres bestanden; daß alle fremden Gewürze fehlten, selbst der Pfeffer, deren Stelle Salz, Kümmel, Fenchel usw. einnehmen mußten.
Die Unterhaltung war heiter und allgemein; sie betraf meistens ländliche Geschäfte oder Ereignisse in der Umgegend von Flyeln. Die Leute betrugen sich in Gegenwart ihrer Herrschaft weder blöde, noch unbescheiden, sondern mit vielem Anstande. Ich kam mir unter diesen hübschen bärtigen Männern in ihrer schlichten Tracht, mit ihrem brüderlichen und doch ehrerbietigen Du – ich möchte fast sagen, etwas albern oder lächerlich vor und saß, mitten in Europa, mit meinem Puderkopf, meinen steifen Zöpfen, dem Frack und geglätteten Kinn, wie in einem fremden Weltteil da. Es war mir recht wohltuend, daß, so sehr ich auch von allen abstach, und so häufig mir auch zwischen dem Du, besonders wenn ich damit die reizende Baronin anreden sollte, ein Sie durchschlüpfte, doch niemand dadurch zum Lachen gereizt wurde.
Nach einer halben Stunde ließ uns die Dienerschaft allein; wir drei andern aber pflogen des Mahles und wurden beim alten goldenen Rheinwein traulicher im Gespräch.
Ich sah dir's wohl an, sagte die Baronin lächelnd zu mir, indem sie einige Leckereien von Backwerk auftrug, du vermissest in Flyeln die Hamburger oder Berliner Küche.
Und ich sehe es meiner liebenswürdigen Freundin an, versetzte ich, daß ich der Küche von Flyeln noch das gebührende Lob schuldig bin, das ich ihr selbst auf Unkosten der Berliner und Hamburger Küche zollen kann, ohne eine Schmeichelei erborgen zu müssen. Nein, ich bekenne dir, zum ersten Male in[315] meinem Leben lernte ich bewundern, was für eine leckere Kost unser heimatlicher Boden uns liefern kann, und wie leicht wir der Molukken entbehren können!
Setze hinzu, Freund Norbert, sagte Olivier, und mit den Molukken auch die Überreizungen unserer Nerven und die fremden Laster, die sich aus den überreizten oder abgestumpften Nerven im krankhaften Leibe entwickeln! Ohne gesundes Fleisch und Blut, kein gesunder Sinn und Mut! Die meisten Europäer sind heut zu Tage, durch ihre Kochkunst, Selbstmörder, Leibes-und zugleich Seelenmörder. Was eure Rousseaus und Pestalozzis gut machen wollen, verderbt ihr wieder mit Kaffee, Tee, Pfeffer, Muskatnüssen und Zimt. Lebt einfach, lebt natürlich, und ihr könnet zwei Drittel eurer Predigten, Moralbücher, Zuchthäuser und Apotheken ersparen!
Ich gebe es zu, sagte ich, und man wußte das schon längst; allein ...
Nun denn! rief er, eben darin besteht die bis jetzt heillose Narrheit der Europäer. Sie wissen das Bessere und meiden es; sie verabscheuen das Schlechtere und suchen es. Sie vergiften ihre Speisen und Getränke mit teuern Giften, und halten Doktoren und Apotheker, nun wieder genesen und die Vergiftung erneuern zu können. Sie befördern die vorschnelle Reife der Knaben und Mädchen, und jammern hinterher erschrocken über deren verwilderte Triebe. Sie ermuntern durch Gesetze und Belohnungen, ohne es zu wollen, das Sittenverderben, und strafen es hinterher mit Galgen und Schwert. Sind sie nicht allesamt den Irrenhäuslern gleich?
Aber, lieber Olivier, das war doch wohl von jeher so?
Ja, Norbert, von jeher; das heißt, so bald und so oft die Menschen sich einen Schritt weit von der Natur zur Entartung entfernten! Wir, durch den Schaden der Väter endlich gewarnt, sollen aber nicht nur wissensreicher, als sie, sondern auch weiser sein. Wozu sonst unser Wissen? Denjenigen achte ich für den Vernünftigsten, welcher mit der Unschuld und Lebensreinheit[316] der Naturkinder die mannigfaltige Kenntnis und Geistesbildung des Zeitalters vereint. Gibst du dies zu, Norbert?
Wie sollte ich nicht?
Wie, du gibst dies zu? und machst in deinem Hause und in deinem Innern nicht den Anfang des Bessern?
Es könnte doch unter gewissen Umständen möglich werden. Indessen bekenne ich dir, Olivier, wir Kunstmenschen so gut, wie die einfachsten Naturmenschen, hangen in den schwer zerbrechlichen Banden der Gewohnheit! Unser gekünsteltes Sein ist schon wieder eine Art Natur geworden, die wir ungestraft nicht plötzlich ablegen können.
Vormals dachte ich gleich dir, Norbert! Jetzt habe ich mich durch Erfahrung vom Gegenteil überzeugt. Es gehört nur ein einziger schwerer Augenblick dazu, ein starkes Herz, den ersten Kampf mit der Torheit der Welt zu bestehen, um zur Glückseligkeit und Ruhe durchzubrechen. Ich schwankte lange; ich kämpfte lange vergebens. Ein bloßer Zufall entschied mein Glück und das Glück meiner sämtlichen Angehörigen.
Und dieser Zufall? Erzähle mir auch den, sagte ich, denn ich war begierig, das kennenzulernen, was unmittelbar auf Gemüt und Verstand meines Freundes so mächtig eingewirkt hatte, ihn zu den seltsamsten Grillen und zu der schwärmerischen Lebens- und Handlungsweise zu bringen.
Er stand auf und verließ uns.
Nicht so, lieber Norbert, sagte die Baronin, indem sie mich eine Weile schweigend anblickte, und es lag in dem zärtlichen Lächeln ihres Auges eine ernste Frage an mein Herz, du fühlst Mitleiden mit meinem Manne?
Nur mit den Unglücklichen, nicht mit den Glücklichen sollen wir Mitleiden haben! versetzte ich ausweichend.
Vielleicht weißt du's, er wird von seinen Verwandten verabscheut, von seinen ehemaligen Bekannten verachtet und von aller Welt als Verrückter behandelt.[317]
Liebenswürdige Freundin, einiges vielleicht abgerechnet, was mir wohl Übertreibung zu sein scheint, die, um nicht anstößig zu werden, mit kluger Umsicht zu meiden wäre – dies abgerechnet, bekenne ich, fand ich bisher an Olivier nichts, was des Abscheues oder der Verachtung wert wäre! Doch ich kenne ihn noch viel zu wenig.
Lieber Freund, fuhr sie fort, und gilt dir die Stimme der öffentlichen Meinung nichts?
Wenigstens noch über meinen Olivier noch nichts, erwiderte ich, denn ich weiß sehr wohl, daß die öffentliche Meinung Jerusalems einst nach der Kreuzigung der Unschuld rief; daß die öffentliche Meinung Weltenzerstörer groß nannte; daß sie Weise für Wahnsinnige hielt, und Priester der Torheit und Üppigkeit mit dem Beinamen der Göttlichen schmückte.
Ich freue mich, sagte die Baronin mit einiger Lebhaftigkeit, du wirst meinen Olivier liebgewinnen; du bist ein edler Mann, seiner Freundschaft würdig! Glaube mir, Olivier ist ein Engel, und man stößt ihn von der menschlichen Gesellschaft wie einen Verbrecher oder Tollhäusler aus!
Als wir so miteinander redeten, trat Olivier wieder zu uns; er trug in der Hand ein kleines Buch; mit dem warf er sich in seinen Sessel und sprach: Sieh hier des Zufalls oder der himmlischen Vorsehung Werkzeug zu meiner Genesung von Schwäche und zum Erwachen vom Wahnsinn. Es ist ein unbedeutendes Buch, der Verfasser ungenannt und unbekannt; es sagt viel Gemeines und Alltägliches, aber es gewährt zwischendurch ganz unerwartete Lichtblicke. Selbst der Titel »Träumereien eines Menschenfreundes« verspricht nicht viel. Ich fand es eines Tages, als ich noch in Garnison lag, auf dem Tische eines Bekannten, und steckte es zu mir, um allenfalls etwas zu lesen zu haben, da ich mich im freien Grünen vor den Stadttoren ein wenig ergehen wollte. Als ich draußen im breiten Schatten eines Ahorns lag und über mancherlei Verkehrtheiten des Lebens ärgerlich war, schlug ich mein Buch auf und es fiel mir ein[318] Abschnitt mit der Aufschrift in die Augen: »Fragmente aus der Beschreibung der Reise des jüngeren Pytheas nach Thule«.
Laß hören, sagte ich, was der alte Grieche aus Massilia von unserm Norden zu erzählen weiß; er war ein Zeitgenosse von Aristoteles.
Er las:
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