Richtung

[72] Richtung – Das Wort richten (von recht abgeleitet, natürlich wie dieses ein Lehnwort und nicht etwa mit lat. rectus »urverwandt«) hatte ursprünglich, was man so ursprünglich nennt, die Bedeutungen: gerade machen, senkrecht stellen, schlichten (besonders einen Streit); die Bedeutung gerade machen steckt noch in dem militärischen Kommando richt' euch; sie steckt auch noch in dem Substantiv Richtung (ohne Richtung zu Pferde sitzen), das ganz besonders die Tätigkeit des Richtens bezeichnete und als Übersetzung von lat. directio am häufigsten die Einhaltung einer der unendlich vielen Richtungen des Raums. Bildlich wurde das Wort häufig auf die Tendenz des Willens nach einem bestimmten Ziele hin angewandt, wie denn richten (der Geschütze) mit zielen fast gleichbedeutend ist.

Seltsamerweise wurde der Begriff der Richtung durch Jahrhunderte selbst in der Bewegungslehre vernachlässigt; wahrscheinlich darum, weil die quantitative Berechnung der Bewegung die Physiker und Mathematiker zu sehr in Anspruch nahm, und weil sie ahnten, daß die Richtung sehr leicht eine Beziehung zum Qualitativen annehmen könne. Erst nachdem Wundt den Richtungsbegriff für den Raumsinn und für den Zeitsinn zu untersuchen angefangen hatte, nachdem für die Biologie die Frage nach der Richtung oder der Tendenz der Entwicklung brennend geworden war, nachdem man in äußerster Verlegenheit versucht hatte, den gefährdeten Zweckbegriff durch das neue Wort Zielstrebigkeit (K. E. v. Baer hat es erfunden) zu ersetzen, konnte man an die ganz neue Frage herantreten: wie verhält sich die Richtung der mechanischen Bewegung zu der Richtung der biologischen und dann der soziologischen Entwicklung? Haben wir es da und dort mit dem gleichen Begriffe zu tun oder nicht?

Über diese Frage hat Goldscheid vor wenigen Jahren als der Erste eine sehr anregende und wertvolle Untersuchung veröffentlicht: »Der Richtungsbegriff und seine Bedeutung für die Philosophie« (Annalen der Naturphilosophie VI). Interessant ist es schon, daß Goldscheid nicht von der Mechanik herkam, sondern von der Soziologie, wie er denn auch die Frage bereits in seiner »Kritik der Willenskraft« gestreift und gegen die Theorien von[72] Marx die Persistenz der Willensrichtungen (S. 181) hervorgehoben hat. So kommt es Goldscheid besonders darauf an, die Ergebnisse seiner Richtungstheorie auf die Soziologie anzuwenden; gerade auf dieses Gebiet kann ich ihm nicht folgen, vielleicht aus Unkenntnis, vielleicht nur deshalb, weil ich die gerichteten Kräfte in der geschichtlichen Entwicklung nicht wahrnehmen kann; um so mehr verdanke ich ihm dort, wo die gerichteten Kräfte der Mechanik und der Biologie verglichen werden.

Man sagt, es gebe im Raum unendlich viele Richtungen; auch lasse sich jede Richtung im Raume durch ein Koordinatensystem bestimmen. Das ist insofern nicht ganz richtig, als für die Geometrie die Richtung A B ebenso aussieht wie die Richtung B A und just für die Entscheidung zwischen A B und B A etwas zu Hilfe genommen werden muß, was eben erst die Richtung ausmacht. Die Richtung ist der entscheidende Faktor einer Bewegung; während aber die andern Faktoren einer Bewegung quantitativ gemessen werden können, hat die Richtung keine Quantität, keine Intensität, ist von der Kraft untrennbar, ist fast wie eine Qualität. Nur daß die Qualitäten sonst als Wirkungen der Kräfte aufgefaßt werden können, jede Kraft aber ihre Richtung schon mit sich führt; auch latente Kräfte sind gerichtete Kräfte.

Halten wir fest im Auge, daß eine solche gerichtete Kraft sich in einem Hauptpunkte, der Richtung nämlich, der ziffernmäßigen Berechnung entzieht, ja sogar der Anwendung des Kausalitätsbegriffs, und denken wir jetzt daran, daß auch in der Biologie die sog. Zielstrebigkeit der Organismen nicht restlos durch chemische Gesetze zu erklären ist, daß der Begriff eines Zwecks oder eines Ziels immer wieder zu Hilfe genommen werden muß, dann halten wir uns für berechtigt, in dem Richtungsbegriffe den lange gesuchten Oberbegriff zu erkennen, der die Kausalität und die irgendwie sich immer aufdrängende Teleologie verbindet; das zweckmäßige Wachstum eines Organismus wird der mechanistischen Welterklärung dadurch unverständlich, daß Ursachen immer nur aus der Vergangenheit her wirken, daß aber die Entwicklung des Organismus einem künftigen Ziele zustrebt,[73] dem fertigen Lebewesen; wenn nun aber auch der fallende Körper oder der rotierende Planet in seiner Richtung ein Ziel hat, meinetwegen nur ein räumliches Ziel, dessen letzte Ursache aufzuklären selbst einem Newton nicht gelungen ist, dann ist auch die mechanische Bewegung nicht restlos durch Kausalität zu erklären, und die Zielhaftigkeit (Teleologie) jeder Bewegung muß zugegeben werden. Will man die Gravitation als eine Ursache gelten lassen, so ist sie nur die Ursache von Quantitäten, von Intensitäten, nicht von einer Richtung; auch das Kant-Laplacesche Weltbild erklärt die Richtung der Bewegungen nicht. Der Richtungsbegriff in der organischen Welt ist nicht geheimnisvoller als in der mechanischen Welt. Die Ursache einer Bewegungsrichtung (durch Gravitation, durch Elektrizität) ist uns ebenso unbekannt wie die Ursache jedes Zwecks, der nicht von einer menschlichen Absicht gesetzt worden ist. Man beachte dabei, daß der Begriff Teleologie von griech. telos abgeleitet ist, daß dieses Wort ursprünglich das räumliche Ende, das Ziel bedeutete, daß unser Zweck dieses griech. telos nur sehr drastisch übersetzte, nur bildlich alle diese Ausdrücke auf das Ziel menschlicher Absichten übertragen wurden (vergl. Art. Zweck) und man wird begreifen, daß auch wortgeschichtlich das räumliche Ziel mit dem Zwecke menschlichen Wollens zusammenhängt. Goldscheid, der sich sprachkritischen Anregungen nicht verschlossen hat, ist leider diesen Spuren nicht nachgegangen. Er hat auch die Frage nicht untersucht, deren mathematischer Untersuchung ich mich nicht gewachsen fühle: ob die Richtung einer Kraft (ich denke zunächst an die Mechanik) geradlinig sein müsse. Ich meine, wir sollten uns von dem Schema der Schwerkraft nicht irreführen lassen; wir sollten an die Kurven eines elektrischen Feldes denken, die wenigstens die Anordnung der Richtungen im Raume nicht geradlinig darstellen. Die Richtungen der Biologie scheinen nicht geradlinig zu sein. Ich habe diesen Punkt nur erwähnt, damit nicht wieder ein Gegensatz zwischen den gerichteten Kräften der Mechanik und den gerichteten Kräften der Biologie von da aus aufgerichtet werde. Mir will scheinen, als könnte die Lehre des Panpsychismus,[74] welche ebenso wie der Pantheismus eine Sehnsucht der Gegenwart mit Hilfe veralteter Worte ausdrückt, durch die neue Richtungstheorie wenigstens sprachlich verbessert werden. Was der Panpsychismus als ein Analogen zu der sog. Seele des Menschen in die unorganischen Dinge hineinverlegt, und was mit noch weit größerer Ähnlichkeit als Pflanzenseele uns nahegebracht worden ist, was also die Einheit der Natur, die Einheit zwischen dem wollenden Menschen und dem fallenden Steine für die Phantasie herstellen würde, das ist der Begriff der gerichteten Kraft. Ja, wir empfinden eigentlich das, was man in der Gemeinsprache die Seele oder den Willen nennt, geradezu als eine gerichtete Kraft, als eine gespannte und nach einem Ziele gerichtete Kraft. Der Unterschied zwischen dem wollenden Menschen und dem fallenden Steine bestünde demnach nur in einem Sekundären, in der Empfindung. Für die Biologie, sogar für die Psychologie ist diese Ausdehnung des Richtungsbegriffs gut vorstellbar.

Ich wiederhole, daß mir diese Ausdehnung des Richtungsbegriffs auf Geschichte und Soziologie nicht vorstellbar ist. Man wollte denn auf ein sensorium commune der Völker verzichten, auf eine Psyche der Völkerpsychologie, so daß die Geschichte allerdings noch materialistischer würde, als Marx sich das gedacht hat: materialistisch wie der fallende Stein. Die Richtung der Organismen, also ihr Zweck, ist so offensichtlich, daß wir über Darwin hinaus zu dieser Vorstellung zurückgekehrt sind; eine Richtung, ein Zweck also, in der Geschichte ist für viele unter uns unsichtbar, unvorstellbar.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 2 1923, Band 3, S. 72-75.
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