Theosophie

[271] Theosophie – So verschieden die Namen sind, mit denen man die Lehre bezeichnet, alle verraten den Schwindel oder den Selbstbetrug, der dahintersteckt. Der »Okkultismus« behauptet keck, Kenntnis vom Unerkennbaren zu besitzen, Einsicht in das Verborgene, Erfahrung vom Unerfahrbaren. Vornehmer klingt »Xenologie«1, Bekanntschaft mit dem Fremden. Die neueste Form des Betrugs und Selbstbetrugs heißt »Theosophie«; die Spekulation auf menschliche Dummheit ist niemals selbst dumm: die »Theologie« als das angebliche Wissen von Gott hat abgewirtschaftet, auch bei den geistig minder Bemittelten; da setzt man an die Stelle von »Logie«, was durch Jahrhunderte ein verstandesgemäßes[271] Wissen bedeutete, jetzt ein geheimes Wissen, eine unkontrollierbare Weisheit, eine »Sophie«, und fängt so die guten Leute ein, die den alten Glauben verloren haben, aber eine ungestillte Sehnsucht nach irgendeinem Glauben besitzen. Hinter all diesen Gestaltungen des unvertilgbaren Gespensteraberglaubens verbirgt sich nur schlecht die uralte »Magie«, wofür man, wenn die Herren Okkultisten es freundlichst erlauben wollen, den schon ganz übel klingenden, ebenso uralten Ausdruck »Zauberei« setzen könnte.

Die Magie ist die angebliche Kunst, durch geheimnisvolle Wörter oder symbolische Handlungen übernatürliche Wirkungen hervorzurufen; Übernatürlichkeit ist selbstverständlich ein sinnloser Begriff, weil die Welt oder die Natur nur einmal da ist, also die magischen Erscheinungen, wenn sie nicht Schwindeleien wären, eben mit zu der Welt oder der Natur gehören würden. Darin ist ja Magie jeder Wunder-Religion gleichzusetzen, daß da und dort die Einheit der Welt in zwei Teile zerspellt wird, um eine Welt der Wunder über die natürliche Welt stellen zu können. Auch verstand man unter den »Magiern« in geschichtlicher Zeit die persischen Priester, orientalische Zauberer, zu denen doch offenbar auch die Magier aus dem Morgenlande gehören, die nach christlicher Legende dem neugeborenen Heiland die erste Huldigung brachten. Es scheint mir aussichtslos, darüber zu streiten, ob die Wurzel des Wortes »Magier« semitisch oder arisch sei; es scheint mir noch aussichtsloser, sich auf die fabelhaften Akkado-Sumerier und auf ihre Keilschriften zu berufen. Allen Völkern des fernen (Perser, Inder, Chinesen) und des nahen (Israeliten, Ägypter) Orients war die Magie ein untilgbarer Bestandteil ihrer Religion; es ist eine Fälschung, wenn dieser Sachverhalt für das Christentum geleugnet wird. Jede positive Religion übt eben die angebliche Kunst, durch geheimnisvolle Wörter oder symbolische Handlungen übernatürliche Wirkungen hervorzurufen. Immer wieder hat auch das Christentum (wie von Zeit zu Zeit das römische Kaisertum) die Magie bekämpft, doch nicht als ein Unding, sondern als ein strafbares Geschehen; das ganze Mittelalter hindurch[272] war das Christentum Magie und zur Zeit der Reformation war es – von einer Seite gesehen – Teufels- oder Hexenreligion. Seit dem heiligen Thomas, der den Dämonenglauben kanonisch festlegte. Und der Protestantismus gab zunächst der römischen Kirche nichts nach. Nur beschränkte Selbstgerechtigkeit kann einen ernsthaften Unterschied machen zwischen der verbotenen schwarzen Magie, die man für schädlich hält, und der erlaubten weißen Magie, die man für nützlich hält. Agrippa von Nettesheim, der sich – abgesehen von seinem erzskeptischen Bekenntnisbuche – zu der erlaubten weißen oder natürlichen Magie hinneigte, redete schon von okkulten Kräften, war also schon ein theosophischer Charlatan in den Stunden, in denen er nicht ein lachender Kritiker aller Wissenschaften war. Magie treiben die orthodoxen Kirchen, Magie treiben genau ebenso die Sekten, die irgendwelche Wunderheilungen versprechen; ich denke zunächst an die christian science, die in Nordamerika just damals (vor 40 Jahren) Anhänger fand, als der Aufstieg des Spiritismus auf »übernatürliche« (wörtlich »metaphysische«) Erscheinungen gröblich vorbereitet hatte. Die Religion ist nicht ehrlich, wenn sie Magie, Theosophie, Okkultismus und dergleichen Von sich abschütteln will; auch die Religion kann, wie Faust, Magie nicht von ihrem Pfad entfernen; sie kommt ja von der Magie her.

Vor dreißig bis vierzig Jahren hieß die Sache also »Spiritismus«; ich hatte damals vielfach Gelegenheit, den Unfug an dem Zahnarzt Slade und an geringem sogenannten Medien zu beobachten. Die blödsinnige Tischrückerei und Geisterklopferei war – an halb vergessene Fabeln anknüpfend – in Amerika aufgekommen, erfolgreich seit 1846, hatte mit groben und feinen Taschenspielerkunststücken Handschriften, sichtbare Erscheinungen und auch Lichtbilder von Geistern zustande gebracht, hatte so ungünstig veranlagte Physiker wie Crookes und Zöllner angesteckt und dadurch – in England und in Deutschland – dem Spiritismus zahlreiche Anhänger zugeführt. Es ißt bezeichnend für den Feldzugsplan bewußter Betrüger, daß man auf den Nachahmungstrieb der Menschen rechnete, daß man die Zahl der Spiritisten maßlos übertrieb, von 20, ja von 60 Millionen redete,[273] in der schlauen Erwartung, der gewöhnliche Dummkopf werde sich sagen: was so viele glauben, das will, das muß ich auch glauben. Zu Anfang der achtziger Jahre war die Mode des Spiritismus auf ihrem Höhepunkte. Dann kam der Rückschlag als Folge einiger skandalöser Entlarvungen. Schon ein Jahrzehnt zuvor war ein Meister des Spiritismus, Mr. Home, als gemeiner Erpresser verurteilt worden und hatte bei einer wissenschaftlichen Prüfung erbärmlich versagt; hohe Gönner hatten damals die Geschichte vertuscht. Nun aber wurde ein Medium nach dem andern – der Zahnarzt Slade, Mrs. Corner, Mr. Bastian – in oft lustiger Weise der Taschenspielerei überwiesen, und ihre Anhänger begannen sich zu schämen. Dazu kam, daß seit 1879 die Erscheinungen der sogenannten Hypnose, die zuerst spiritistisch ausgelegt wurden, sich gefallen lassen mußten, von kritischen Psychologen nachgeprüft und in ihre Bestandteile aufgelöst zu werden: in wirklich nachweisbare kataleptische Zustände und in Einbildungen. Gegen Ende des Jahrhunderts wurde endlich die spiritistische Mode – etwas weniger plump, für die Halbgebildeten und für die Viertel- und Achtelgebildeten um so gefährlicher – durch die theosophische Mode abgelöst.

Die Theosophie, deren Cagliostro Rudolf Steiner heißt, hatte bereits vor dem Weltkriege zu einer Art von Sektenbildung geführt, der es durchaus nicht an den Kennzeichen aller religiösen Sekten fehlte: Geheimbündelei, Autorität eines suggestiv wirkenden Mannes, Schwärmerei und Opferbereitschaft zahlungsfähiger Weiblein, Verfolgungssucht gegen alle, die den neuen Cagliostro und seine Rednerei nicht ernst nehmen konnten 2. Die Theosophie[274] war schon vor dem Kriege eine kleine Gefahr für die Taschen der Gläubigen; durch den Weltkrieg wurde sie erst zu einer eigentlichen Gefahr für die geistige Volksgesundheit.

Ich habe die Überzeugung gewonnen, daß die bestehenden alten Kirchen falsch spekuliert hatten, als sie darauf rechneten, der Zusammenbruch Europas werde ganze Scharen von Halb- bis Sechzehntel-Gebildeten, die abzufallen drohten, zurückführen. Es kam etwas anders. Das Friedensbedürfnis der Menschheit wandte sich beinahe rachsüchtig gegen die Geistlichen, die während des Weltkrieges zum Morden gehetzt hatten, als ob sie Unteroffiziere gewesen wären; Millionen Soldaten kamen aus den Schützengräben als Feinde der Kirche zurück; das äußerte sich nicht immer deutlich, weil die Heimgekehrten sofort von Müttern und Weibern zum Besuche der Kirchen überredet wurden. Doch der Haß gegen die Kirche und ihre Diener ist vorhanden, dazu der unklare Wunsch, die Kirche durch etwas Ähnliches zu ersetzen, wobei man Ruhe finden kann vor den drängenden Fragen: Woher? Wozu? Wohin? Verzicht auf die Antworten, Resignation also, Erkenntnis der Unmöglichkeit, in Menschensprache Lösung der Rätsel zu finden, diese ganze neue Weltanschauung, ist auch dem Ganzgebildeten nur schwer erreichbar, noch schwerer mitteilbar. Da bietet sich dem geistigen Mittelstande die Theosophie an mit ihrer verwaschenen Rednerei, mit ihren bauernschlauen Schlagwörtern, sammelt die, die müde geworden sind der Kirche und des Kriegs und des Denkens, zu einer Gemeinde und hindert so den Mittelstand, durch eigene geistige Arbeit aus der Verzweiflung hinauszukommen. Die Theologie hat es durch Jahrhunderte verstanden, alle guten Wirkungen unserer Hochschulen zu vernichten; die Volkshochschulen,[275] die jetzt die Leistungen der alten Universitäten zugleich erhöhen und verallgemeinern sollen, sind von Anbeginn in Gefahr, wenn die theosophische Lüge ihnen nicht fern gehalten wird.

Ich habe bisher von den Theosophen so oft als meist bewußten Betrügern gesprochen, daß ich mich verpflichtet fühle, bevor ich das Wesen der gegenwärtig grassierenden Bewegung darstelle, auf einen Mann hinzuweisen, der gewöhnlich nur als ein Theosoph genannt wird, sicherlich kein Betrüger war und nach dem sich heute noch, 200 Jahre nach seinem ersten Auftreten, eine zahlreiche Sekte nennt. Ich denke an Emanuel Swedenborg (geb. 1688, gest. 1772; er hieß eigentlich Swedberg, wurde erst später unter dem Namen Swedenborg geadelt); der immer feine Stilist Emerson hat sein Bild in dem Essay »Swedenborg oder der Mystiker« sehr hübsch umrissen, nur daß die Überschrift nicht stimmt; Swedenborg war in denjenigen Schriften, die ihn allein berühmt gemacht haben, kein Mystiker, fühlte sich nicht Eins mit der Natur, war von einer handgreiflichen Geisterwelt umgeben, war ein entschiedener Dualist wie sein Meister Descartes, war überdies seit seiner kritischen Stunde ein Theosoph, in dessen krankem Hirn es nur so von Engeln wimmelte. Wir dürfen uns nicht davon irre machen lassen, daß zwei deutsche Männer ersten Ranges, Kant und Goethe, sehr ungleich über ihn urteilten; Kant hatte sich in seiner heitersten und darum populärsten Schrift weidlich über den Geisterseher lustig gemacht: Goethe – hier ein Schüler von Hamann – stellte den schwedischen Naturphilosophen so hoch, daß er ihm allerlei abgründige Symbolik entlehnte, in den »Bekenntnissen einer schönen Seele« und in dem christelnden Schlüsse des »Faust«. Kant aber wußte, Goethe hätte durch Kant und Hamann wissen können, was ich hervorheben muß: daß bei Swedenborg einfach eine Geisteskrankheit ausgebrochen war, als er sich plötzlich in seinem 58. Jahre, an einem Apriltage 1745, um die Mittagszeit, aus einem vielfach anregenden Naturphilosophen in einen Geisterseher, in einen Boten Gottes, in den Stifter einer neuen Religion verwandelte. Ich muß es den Durchforschern der Geisteskrankheiten überlassen, die Art des Wahnsinns von Swedenborg ordentlich[276] zu klassifizieren; leicht wird es nicht sein, weil Swedenborg nicht nur seine nüchterne Sprachkraft und seinen logischen Scharfsinn beibehielt, sondern auch in gewissem Sinne seinen tapfern Wahrheitsdrang. Hat er es doch gewagt, die Dreieinigkeitslehre zu verwerfen, weil sie der Vernunft widerstreite, über das Geheimnis des Abendmahls ketzerische Ansichten auszusprechen und, fast wie ein Aufklärer, vom Christen nicht nur den Glauben zu verlangen, sondern auch gute Werke. Hat er doch, der den Himmel wie seine Tasche kannte, eigentlich die Hölle geleugnet: des Menschen Wille sei wie sein Himmelreich so seine Hölle.

Der Aufmerksamkeit der Psychiater empfehle ich besonders Swedenborgs eignen Bericht über die Vision, die ihm an jenem Apriltage wurde. Er hatte (in London) eben eine sehr reichliche Mahlzeit eingenommen; da sah er, wie in einem Nebel, den Boden des Zimmers mit Schlangen und Kröten bedeckt. Es wurde immer finsterer, dann wieder heller; da erblickte er in einem Winkel einen Mann, der zu ihm sagte: »Iß nicht so viel!« In der folgenden Nacht erschien ihm der Mann wieder und sprach jetzt: »Ich bin Gott, der Herr, der Welt Schöpfer und Erlöser. Ich habe dich erwählt, den Menschen den geistigen Sinn der Heiligen Schrift auszulegen; ich werde dir selbst diktieren, was du schreiben sollst.«

Die grenzenlosen Schriften, die Swedenborg nach dieser Erleuchtung oder Katastrophe herausgegeben hat, auf eigene Kosten oder auf Kosten fürstlicher Beschützer, sind natürlich in Sprache und Richtung nicht ohne Zusammenhang mit seinen früheren Arbeiten; er hatte sein Ich nicht völlig mit einem andern Ich vertauscht; wie denn auch – ähnlich geht es bei allen spiritistischen Medien zu – Schwedenborgs eigene Stimme gehört wurde, sobald er sich mit Geistern unterhielt und einer der Engel ihm antwortete. Aber aus einem recht diesseitigen Naturphilosophen war plötzlich ein ganz jenseitiger Theosoph geworden. Vor der Katastrophe dachte Swedenborg – wie Descartes – beinahe materialistisch über Aufgaben der Mechanik, der Astronomie und der Gehirnphysiologie, materialistisch, wenn er sich auch die Flucht in ein oberes idealistisches Stockwerk vorbehielt;[277] jetzt fragte er nur noch nach der Geisterwelt, Materialist nur noch darin, daß er die lieben Engelein dieser neuen Welt mit allen seinen fünf brutalen Sinnen wahrzunehmen glaubte. Das ist freilich das Schicksal aller ehrlichen Bekenner des Psychismus, daß sie gar nicht ahnen, wie grobsinnlich ihre Vorstellungen von der Seele und von den Geistern sind.

Ein günstiges Vorurteil für Swedenborg wird dadurch geweckt, daß er Angriffe und Verfolgungen von Seite der hohen Geistlichkeit Schwedens hervorrief und nicht scheute; er wurde, über achtzig Jahre alt, vor dem Reichstage wegen Unfrömmigkeit denunziert, und trotz der Gunst des Königs scheinen seine (im Auslande gedruckten) Bücher zuletzt in Schweden verboten gewesen zu sein. Der Greis hatte vielleicht die Absicht, für eine künftige neue Kirche theosophische Grundlagen zu legen; doch nichts lag seinem reinen Streben ferner als wie ein Sektenhaupt hervorzutreten und für seine persönliche Ehre und persönliche Macht zu arbeiten. Er war kein Gründer und kein Schieber. Und wenn er seit seinem 58. Jahre verrückt gewesen sein sollte, so fiel es ihm doch gar nicht ein, seinen heiligen Wahnsinn, zu versilbern.

Wenn nun alte und neue Theosophie einander wie; heiliger Wahnsinn und schlaue Spekulation gegenüber stehen, wenn ich mich endlich gezwungen sehen werde, einen Swedenborg und einen Steiner dergestalt miteinander zu vergleichen, so wird es gut sein, einen Zeugen dafür beizubringen, daß Swedenborg schon vorher für geisteskrank gehalten wurde. Die zurückhaltenden Andeutungen Emersons wären mir nicht entschieden genug, auch darum nicht, weil Emerson nicht der Mann hart umrissener Definitionen ist. Wichtiger wäre schon das Zeugnis von Hamann, weil dieser Kants Meinung über Swedenborg genau kannte; Hamann, der den Schweden einmal boshaft genug den »Koboldseher« nennt, redet von ihm auch sonst wie von einem Geisteskranken: er erklärt sich das ganze Wunder durch eine Art von »transzendentaler Epilepsie« und wundert sich nur, »daß man bei einer Nervenkrankheit ein so hohes und zum Teil gesundes Alter erreichen kann«. Doch wir brauchen uns nicht[278] auf Hamann zu berufen; Kant selbst hat sein Urteil über Swedenborg in unzweideutiger Weise ausgesprochen; und wenn Kant da von Swedenborg Ausdrücke gebraucht wie Wahnsinn und Wahnwitz, so wissen wir aus seinem »Versuch üben die Krankheiten des Kopfes«, daß er über die Fachausdrücke Blödsinn, Tollheit, Wahnsinn, Wahnwitz, Verrücktheit usw. als ein Fachmann nachgedacht hat.

Die schon flüchtig erwähnte Schrift »Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik« wird um ihrer heitern und beinahe parodistischen Darstellung willen leicht unterschätzt; sie enthält nicht nur einen meisterhaften kritischen Auszug aus dem theosophischen Hauptwerke Swedenborgs, sie lehrt nicht nur in der geistreichsten Weise, wie man etwa eine solche Metaphysik doch mit gutem philosophischem Gewissen ausarbeiten könnte (es ist nicht unmöglich, daß Eduard von Hartmann seine »Philosophie des Unbewußten« nach diesem leise ironischen Muster Kants gestaltet hat), sie verknüpft endlich Kants Spott über den Geisterseher mit seiner eigenen großen Lebensaufgabe: er hat die wilden und unaussprechlich albernen Träumereien der abenteuerlichsten und seltsamsten Einbildungen, die wilden Hirngespinste! des ärgsten Schwärmers, seine Mondkälber zu Ende gedacht und bedauert weder die 7 Pfund Sterling, die er für das Geheimbuch ausgelegt hat, noch seine verlorene Zeit; er ist in der Beschäftigung mit Swedenborg fertig geworden, hat die Eitelkeit der scheinwissenschaftlichen Metaphysik überwunden und die wahre Metaphysik erkannt als eine Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft; er wird zu den Geistersehern, zu denen er offenbar auch Leibniz und Wolff rechnet, nie mehr zurückkehren; er wird seine Philosophie fortan bewußt auf eine Erkenntniskritik der Erfahrung einschränken; er hat bis zu seiner Vernunftkritik nach Ablehnung der Geisterseherträume nichts Wichtiges mehr herausgegeben.

Und in dieser Schrift von 1766, die auch sprachlich so schön ist, daß man oft Lessing zu vernehmen glaubt, in einer so entscheidenden Untersuchung also, hat Kant kaum einen Zweifel daran gelassen, daß er den Theosophen Swedenborg für geisteskrank[279] hält. Er sei einer der Träumer der Empfindung, die mit Geistern zu tun haben, die etwas sehen, was kein andrer gesunder Mensch sieht. Von wachenden Träumern seien aber die Geisterseher gänzlich unterschieden; ihren Zustand möchte er psychologisch untersuchen; »denn gesund oder krank, wie der Zustand des Betrogenen auch sein mag, so will man nicht wissen, ob dergleichen auch sonsten geschehe, sondern wie dieser Betrug möglich sei«. Mit Hilfe einer sehr scharfsinnigen Gehirnphysiologie vergleicht Kant die Geisterseherei mit dem Doppelsehen der Trunkenen und will so diejenige Art von Störung des Gemüts erklären, die man den Wahnsinn und im höheren Grade die Verrückung (Verrücktheit) nennt. Sehr gut wird dabei auf die Rolle hingewiesen, die in einem kranken Kopfe die gangbaren Begriffe von Geistern und die durch religiöse Erziehung eingepflanzten Vorstellungen spielen. Kant habe also den Wahnsinn einer solchen bodenlosen Weltweisheit nicht bestritten und verdenke es dem Leser keineswegs, »wenn er, anstatt die Geisterseher für Halbbürger der andern Welt anzusehen, sie kurz und gut als Kandidaten des Hospitals abfertigt und sich dadurch alles weiteren Nachforschens überhebt«. Solche Phantasten habe man erst verbrannt; jetzt neige man eher dazu, ihnen Abführmittel einzugeben. Und unmittelbar nach diesen materialistisch genug klingenden Worten (gegen Ende des dritten Hauptstücks des ersten Teils) wagt sich der sonst so extreme, ja prüde Kant so weit vor, daß er einen starken Zynismus »des scharfsinnigen Hudibras« auf Swedenborg anwendet: »wenn ein hypochondrischer Wind in den Eingeweiden tobt, so kommt es darauf an, welche Richtung er nimmt; geht er abwärts, so wird daraus ein F - , steigt er aber aufwärts, so ist es eine Erscheinung oder eine heilige Eingebung«. Als ob sich Kant da über alle Philosophen einer immateriellen Welt (mundus intelligibilis) lustig machen wollte, bevor er daran ging, die Grenzen aller Erfahrung abzustecken.

In der Vergleichung zwischen Swedenborg und Steiner kann ich mich kurz fassen. Swedenborg war irgendwie geisteskrank, als er seine theosophischen Bücher schrieb; er war so unklug,[280] daß er den lieben Gott und die andern himmlischen Gestalten wirklich sah und hörte, daß er aber dennoch nicht daran dachte, aus diesem Gnadengeschenke einen persönlichen Vorteil zu ziehen: das Haupt einer Organisation oder einer Sekte zu werden; Rudolf Steiner ist ganz gewiß nicht geisteskrank, er ist nur klug, so beschränkt klug, daß er sich niemals auf die gefährlichen Kunststücke andrer Spiritisten einläßt. Das elfte Gebot seiner Religion lautet: du sollst dich nicht ertappen lassen. Er hat aus der Geschichte des Okkultismus viel gelernt. Ich will es nicht unterlassen, einige Beispiele zu geben für die Schlauheit, mit welcher er der Möglichkeit einer Entlarvung überall ausweicht; wie schon seine Meisterin, die Frau Annie Besant, legt er das Hauptgewicht auf die unkontrollierbare theosophische Intuition und nicht auf die kontrollierbaren okkultistischen Erscheinungen. Daß er, Rudolf Steiner, ein Hellseher sei, das hat man ihm eben zu glauben; daß einer seiner Jünger reif geworden sei, sein Apostel zu werden, das erkennt nur er selbst an geheimnisvollen Strahlen und Farben, die den Leib des Jüngers umschweben. Er ist überaus gebildet und hat von mancherlei Wissenschaft genascht; aber er rühmt sich immer nur seiner Gewißheit, niemals seines Wissens. Die wenigen Stifter von Religionen, in deren Wesen wir uns einfühlen können, waren göttliche Menschen, die ihr Werk aus dem Nichts schufen; die vielen Stifter von Sekten waren wenigstens zur Selbstaufopferung bereit; Steiner ist kein Stifter, er ist nur ein Gründer, im Sinne von Bankengründern. Betriebsam, wie er sich als junger Mann die Notizen zu einer Goetheschrift aus der deutschen Germanistik zusammenholte, holte er sich nachher die Leitmotive seiner Anthroposophie (nur ein anderes Wort für Theosophie) immer nur aus Büchern zusammen, wahrlich nicht aus Erlebnissen. Von überallher. Aus dem Christentum und dem Okkultismus, aus dem Buddhismus und dem Spiritismus, natürlich auch aus Schopenhauer. Fetzen aus allen Zeiten und Ländern. Die schlechtesten Einfälle von Schopenhauer werden noch verpöbelt, wie die Lehren des Buddha zu chinesischem Aberglauben verpöbelt worden sind.[281]

Die Aufmachung gewinnt nicht dadurch, daß der Gründer die Formen der Freimaurer nachzuahmen scheint; die Freimaurer dienten, so platt die meisten von ihnen waren, immerhin der Aufklärung, die im 18. Jahrhunderte nach vorwärts und nach aufwärts wies; Steiner gebraucht wissenschaftliche, philosophische und besonders moralische Clichés und dient am Ende nur der Verdummung. Als ob Hume und Kant niemals gelebt hätten, werden die Grenzen der Erfahrung überschritten durch Geheimlehren und Geistererscheinungen, die man nicht ernst nehmen sollte. Die Steiner unmöglich selber ernst genommen haben kann. Da ist auffallend viel von Gott die Rede, von einer Emanation aus Gott oder auch wohl von einer Evolution zu Gott; nur daß wir niemals erfahren, ob der Herrgott des Herrn Steiner der unpersönliche, sonst aber allmächtige Gott der Deisten ist oder der ganz überflüssige Gott der Phantheisten. Der Glaube an so etwas wie Seelenwanderung (Reinkarnation) wird aus dem. fernen Osten, wo er geschichtlich geworden war, unvorstellbar herübergenommen, ebenso der Karmagedanke, ein hölzernes Eisen, eine phantastische Anwendung der Ethik auf das Weltnetz von Ursache und Wirkung. Es hieße, der Theosophie Steiners zu viel Ehre erweisen, wollte man kritisch nachweisen, daß sie nicht einmal in ihrem obersten Satze eindeutig ist; sie biedert sich gern dem mächtigen Monistenbunde an, gipfelt jedoch in der dualistischen Idee einer transzendenten Vereinigung des Menschen mit dem All-Einen. Dieser Gott ist eben immanent und transzendent zugleich; was den Theologen durch 2000 Jahre, den Freidenkern durch 500 Jahre nicht gelungen war, das brachte der Theosophist Steiner im Handumdrehen fertig. Doch ich werde die verdeutlichende Bezeichnung »Theosophist« nicht noch einmal verwenden; sie wäre eine Ungerechtigkeit gegen die alten, redlichen Sophisten.

Auf den Glauben an die Redlichkeit des Geistersehers kommt es an; mag Mystik oder Magie aus einem anormalen Geiste kommen oder meinetwegen aus Verrücktheit, wenn sie nur ein inneres Erlebnis war, dann kann ihr Bericht ergreifen, wenn nicht als Lehre, so doch als Dichtung. Für eine[282] Dichtung ist die Theosophie nicht schön genug, nicht plastisch genug, zu niedrig literarisch. Eigentlich so recht eine Buchmacherei für religiöse Konventikel. Nur daß ich sogar, wenn ich katholisch werden will, ziemlich genau weiß, welche Opfer an Vernunft von mir verlangt werden; bei der Theosophie weiß ich das nicht. Jede Form des Christentums ist geschichtlich geworden, enthält natürlich gewachsene Bestandteile; die Theosophie ist gemacht, ein künstlicher Brotersatz: Sand und Kleie.

Ich bin nicht in der Lage, eine psychologische Lebensgeschichte Steiners zu bieten. Es kommt aber auch gar nicht darauf an; welche seiner Schriften immer ich zur Hand nehme, immer sehe ich – auch ich ein Hellseher – einen kernlosen Literaten vor mir, dessen Auftreten keine Beziehung hat zu den letzten Geheimnissen seiner eigenen Lehre. Als er 1902 die deutsche Abteilung der allgemeinen theosophischen Gesellschaft von Indien zu leiten übernahm, tat er es unter dem Namen eines Generalsekretärs. Erinnert »Generalsekretär« nicht genug an Bankengründungen? Vorher verriet sich in keinem Wesenszuge der Theosoph. Und als Steiner nach dem Zusammenbruch ein politisches Buch herausgab, offenbar um mit Hilfe seiner Anhänger in dem armen Deutschland ein politisches Puppenspiel eröffnen zu können, da war mit keinem Worte, mit keinem Tone von seiner angeblichen Lebensaufgabe, der Theosophie, die Rede. Was hatte auch die Not Deutschlands und die Geschichte Europas mit der von Steiner geschauten Entwicklung der Planeten zu tun?

1

Zu den scheinwissenschaftlichen Namen für die geistfeindliche Sache gehören auch: Elektrobiologie, Somnambulismus, Nachtseite der Natur, Psychismus, Transzendentalphysik, Experimental-Okkultismus, Kryptologie, endlich auch das freche Grenzwissenschaft. Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.

2

Dieser Aufsatz war bereits geschrieben, als ich erfuhr, daß Steiner mir mehrfach die Ehre erwiesen hat, sich in seinen Vorträgen mit mir und mit meiner »Kritik der Sprache« zu beschäftigen. In einer geisteswissenschaftlichen Behandlung sozialer und pädagogischer Fragen (April bis Juni 1919). Herr Steiner gibt diese seine Vorträge heraus mit dem in wirklich geisteswissenschaftlichen Büchern ungewöhnlichen Vermerk, er sei für den Wortlaut nicht verantwortlich zu machen; Buddha und Jesus Christus waren nicht ganz so vorsichtig wie diese ihre groteske Reinkarnation. Ich weiß also die Ehre, die mir der neueste Religionsgründer da zugedacht hat, vollauf zu würdigen. Es ist freilich häßlich von Steiner, daß er den edeln Anarchisten Gustav Landauer denunziert; ich weiß nicht, ob erst nach Landauers Ermordung. Aber es ist hübsch und mir überaus erfreulich, daß just Steiner mich für »nicht gescheit« erklärt, weil ich – so sagt er mehr als einmal – Kant überkantet habe. Steiner hat mich noch höher geehrt, da er mich – an anderer Stelle – seinen (Steiners) Antipoden genannt hat. Mehr kann ich gar nicht verlangen. Ich fühle mich geschmeichelt, aber ich darf mich nicht bestechen lassen; ich ändere nichts an meinem Aufsatz.

Quelle:
Mauthner, Fritz: Wörterbuch der Philosophie. Leipzig 2 1923, Band 3, S. 271-283.
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