I. Kirchenmusik
[362]
Als das romantische 19. Jahrhundert das Mittelalter zu entdecken begann, nicht nur die gotischen Dome und die Präraffaeliten, sondern auch in der Musik das, was es für Mittelalter hielt: den angeblichen A-cappella-Stil der Gabrieli, Lasso und Palestrina, da fiel die Kirchenmusik des 17. und 18. Jahrhunderts in tiefe Verachtung. Nicht bloß die kleineren Meister waren eingeschlossen in diese Verachtung, sondern auch ganz besonders und namentlich Joseph Haydn und Wolfgang Amadeus Mozart. Schon Otto Jahn, der erste Biograph Mozarts in einem wissenschaftlichen Sinn, hat die Stelle zitiert und widerlegt, die sich in dem sonderbaren Buche eines Heidelberger Universitätsprofessors und Geheimrats, des Juristen Anton Friedrich Justus Thibaut »Über Reinheit der Tonkunst« (1824) findet (I. Auflage, Kap. VIII): »So sind denn unsere neueren Messen und andere Kirchenstücke oft in ein rein verliebtes, leidenschaftliches Wesen ausgeartet und tragen ganz und gar das Gepräge der weltlichen Oper und sogar wohl der gesuchtesten, also der recht gemeinen Oper« (was meint Thibaut? die Opera buffa?), »welches freilich dem großen Haufen am behaglichsten ist, und den Vornehmen noch mehr wie den Geringen. Selbst die Kirchensachen von Mozart und Haydn verdienen jenen Tadel, und beide Meister haben ihn auch selbst ausgesprochen. Mozart lächelte unverhohlen über seine Messen, und mehrmals, wenn man eine Messe bei ihm bestellte, protestierte er, weil er nur für die Oper gemacht sei. Allein man bot ihm wohl für jede Messe 100 Louis-d'ors und da konnte er nicht widerstehen, erklärte aber lachend, was Gutes in seinen Messen sei, das werde er nachher schon für seine Opern von dorther abholen ...« Nun, Mozart hat kaum mehr als zwei Messen »auf Bestellung« geschrieben, die feierliche in c-moll für die Einweihung der Waisenhauskirche am Rennweg in Wien, als er ein Knabe von dreizehn Jahren war, und das Requiem in d-moll; und in beiden Fällen hat er weder protestiert noch gelächelt,
[362] weder verhohlen noch unverhohlen. Seine Salzburger Kirchenwerke sind nicht auf Bestellung geschrieben, sondern »im Dienst« oder aus Freundschaftlichkeit oder Gefälligkeit, und sein größtes Kirchenwerk, die große c-moll-Messe, als Einlösung eines Gelübdes. Mozart sollte seine Messen für seine Opern vernutzt haben! Mozart, der das feinste Gefühl hatte für die Grenzen der Gattungen, für die Tradition innerhalb jener Grenzen! Es ist allerdings wahr, daß man Stücken aus Opern Mozarts, zum Beispiel aus »Così fan tutte«, kirchliche Texte unterlegte – was nicht gegen Mozart spricht, sondern gegen das 19. Jahrhundert.
Die Verachtung der romantischen Puristen und »Cäcilianer« des 19. Jahrhunderts für den Haydnschen und Mozartschen Kirchenstil ist um so komischer, als ihre Bewunderung für die Kirchenmusik der Palestrinazeit auf einem historischen Irrtum beruhte. Hätten sie nämlich die weltliche Musik Palestrinas und Lassos und Gabrielis besser gekannt, so hätten sie die Kirchenmusik dieser Meister und ihrer Zeitgenossen ebenfalls verwerfen müssen, als der weltlichen nur allzu ähnlich und aus demselben Geiste geflossen. Sie hielten Werke für eminent kirchlich, die in Wirklichkeit voll waren einer eminent weltlichen Symbolik des Ausdrucks, oder zum mindesten voll einer der weltlichen und kirchlichen Musik gemeinsamen Symbolik. Bei besserer Erkenntnis und voller Konsequenz wäre den Cäcilianern à la Thibaut nichts übriggeblieben, als bis zur Gregorianik oder zu den Wechselgesängen der Urchristen zurückzugehen. Schöpferische Jahrhunderte sind nicht historisch gesinnt. Es ist den Männern der Bauhütte von Chartres oder Reims oder Notre Dame nicht im Traume eingefallen, im romanischen Stil zu bauen, so wenig wie es Bramante oder Michelangelo eingefallen ist, für San Pietro in Rom zum gotischen Stil zurückzukehren, der angeblich »frömmer« ist als der der Renaissance. Wir haben oben (p. 118) Mozarts Katholizismus in seiner Kirchenmusik bereits verglichen mit den jubilierenden Kirchen des Rokokostils in Südbayern und Ober- und Niederösterreich, die nicht weniger fromm und nicht in höherem Grad weltlich sind als San Vitale in Ravenna. Wenn man Mozarts Kirchenmusik einen Vorwurf machen will, so wäre es nicht etwa der, daß sie allzu
[363] »weltlich« sei, sondern der, daß sie nicht weltlich genug sei. Im Stil jener Baumeister, die die Wies-Kirche oder die Klosterkirche von Ettal in Oberbayern schufen, gab es kein historisches Gedächtnis, keine Überbleibsel aus heterogener Stilvergangenheit. In der Musik, und insbesondere der Kirchenmusik des 18. Jahrhunderts, gab es unglücklicherweise solche Überbleibsel: das was die Zeitgenossen den »strengen« Stil, den »stile osservato« hießen. Mozarts Kirchenwerke sind zum Teil in einem Mischstil geschrieben. Wir haben es schon bemerkt: die Tradition verlangte, daß einzelne Abschnitte der Messe – das »Cum sancto spiritu« oder »Et vitam venturi« – und andere abschließende Teile liturgischer Texte »fugweis«, in polyphonem, in archaistischem Stil behandelt wurden, und Mozart war ein Traditionalist. Als ein Traditionalist und ein ehrgeiziger Musiker legte er gerade Wert auf solche kontrapunktische Prunkstücke, und je mehr er das tat, um so stärker betonte er den Dualismus im Stil seiner Kirchenwerke. Nicht aller seiner Kirchenwerke. Aber ganz hat er diesen Dualismus nie überkommen, bis zum Requiem – sehr im Gegensatz zu seinem Instrumentalwerk und seiner Oper. Diesen ästhetischen Vorwurf mag man, wenn man will, seiner Kirchenmusik machen.
Nicht aber den, daß sie zu weltlich sei, nicht fromm, nicht katholisch genug; daß sie zu wenig dem kirchenmusikalischen Motu proprio Papst Pius' X. vom 22. November 1903 entspreche. Man kann sie nicht einmal unliturgisch nennen. Sie bringt immer den vollen Text der Messe oder der Litanei; und nur in einzelnen Fällen verdunkelt sie das Verständnis des Textes durch »Polytextur«, das heißt durch gleichzeitiges Absingen von Satzteilen, die nach liturgischer Vorschrift säuberlich nacheinander folgen sollen. Mozarts Kirchenmusik ist, wir wiederholen es, »katholisch« in einem höheren Sinn. Nämlich in dem Sinne, daß sie als Kunstwerk »fromm« ist, und die Frommheit eines Künstlers kann einzig in der Absicht und im Gelingen bestehen, das Vollkommene zu geben. Die devoten Bildchen, die falschen Lourdes-Grotten, die verzuckerten Christkindchen der heiligen Industrie wären sonst mehr katholisch als die Fresken Giottos oder die Tafeln Duccios und eine der langweiligen »nazarenischen« Messen oder Hymnen der Ett oder Aiblinger, »katholischer«
[364] als das Misericordias oder Ave Verum Mozarts. Und das in höherem Sinn Katholische der Mozartschen Kirchenmusik besteht ferner nicht etwa in einer vermeintlichen und fragwürdigen Würde, der Angemessenheit an einen romanischen oder gotischen Kirchenraum, sondern in ihrer Humanität, in ihrem Appell an alle frommen und kindlichen Herzen, in ihrer Unmittelbarkeit. Will man »stilrein« sein, so soll man sie allerdings nicht in einer gotischen Kirche aufführen, am wenigsten in einer des 19. oder 20. Jahrhunderts, so wie man in einer Rokoko-Kirche nicht die Choralbearbeitungen des Perotinus oder die Messen Obrechts aufführen soll. Man kann es Mozart ebensowenig verübeln, daß er Messen, Vespern, Offertorien, Motetten, Litaneien, Hymnen im Geist seiner Zeit geschrieben hat, wie dem Gianbattista Tiepolo, daß er an seine Kirchenbilder mit den gleichen künstlerischen Voraussetzungen herangetreten ist wie an seine mythologischen oder historischen Szenen. Das wurde ein Stein des Anstoßes erst für das, ach! so »gebildete« und, ach! so alexandrinische 19. Jahrhundert.
Oh, auch im 18. Jahrhundert gab es rationalistische Köpfe, die Anstoß nahmen an der Festlichkeit der katholischen Kirchenmusik, an der Diskrepanz zwischen Wort und Ton, insbesondere in der Vertonung des »Kyrie« und des »Agnus Dei«. Der Pater Meinrad Spieß, Chorregens im Kloster Irsee in Bayern, klagt in seiner Kompositionslehre (1745 und 1746, pag. 133), daß die bloße Logik »manchem leichtsinnigen Componier-Burschen« verbieten müsse, »das Kyrie Eleison oder Herr! Erbarme dich unser! in der Kirchen vor dem allerheiligsten Sacrament tanzweis zu setzen«, und fordert die geistlichen Oberhäupter und Kirchenvorsteher auf, dergleichen »Componaster-Musicanten« zum Tempel hinauszujagen, wie weiland Christus die Wechsler und Händler. »Wahr ist es! will eine musicalische Composition jetziger Zeit bei den Zuhörern gewünschten Effect haben, so erfordert es Gedanken, Geist, Brillianz ...« Und Johann Bähr, Konzertmeister am Hof zu Weißenfels, sagt in seinen »Musicalischen Discursen« (1719) vom Text des Kyrie: »Dieser Text wäre textus lamentabilis«, und »wer um etwas bitte, der käme in betrübter und nicht in victorioser Gestalt ... Auch wenn die Trompeten weggelassen würden, wären doch die meisten Kyries
[365] mit so lustigen Fugis, Thematibus und dergleichen gesetzt, daß sie viel mehr prächtig als demütig, mehr fröhlich als traurig, in summa: mehr einem Tanz als den Klageliedern Jeremiae glichen.« (Nun, das trifft auch Bach; man vergleiche nur das Kyrie der A-dur-Messe.) Aber Bähr will solche Komponisten »gleichwohl ein wenig defendieren«, denn »in solennen Festen sei die Music nichts andres, als was das Kleid ist an dem Communicanten. Kann darum der Communicant nicht voller Andacht sein, ob er gleichwohl geputzt aufzieht? Die Natur des Kyrie wird also darum nicht verändert, ob es gleich prächtig intoniert und aufgeführt wird ...« (Zitiert nach W. Kurthen, Studien zu W.A. Mozarts kirchenmusikalischen Jugendwerken, Zeitschrift für Musikwissenschaft III, pag. 348, und Kirchenmusikalisches Jahrbuch f. 1889, pag. 72 ss.)
Ja, Mozart und Haydn und manche ihrer Zeitgenossen waren voller Andacht, ob sie gleich »geputzt aufzogen«. Wenn Mozart eine Messe komponiert, so hat er die Festlichkeit im Sinn, aber er vergißt niemals die »Expression«. Und er beginnt sehr früh besonders festliche Messen zu schreiben. Sein erster Versuch ist ein französisch-liedhaftes Kyrie in G (K. 33), das er am 12. Juni 1766 in Paris komponiert. Aber schon zwei Jahre später schreibt er in Wien für eine besondere feierliche Gelegenheit, zur Einweihung der Waisenhauskirche am Rennweg, eine Missa solemnis von großen Dimensionen, mit reichster Besetzung: Chor, Soli, Streicher, zwei Oboen, drei Tromboni, vier Trompeten und Pauken. Diese Messe ist die problematische und vieldiskutierte c-moll-Messe K. 139. Ich habe jene Waisenhausmesse bisher für verloren gehalten (K. 47a) und die c-moll-Messe in etwas spätere Zeit verlegt, aber ich muß W. Kurthen (1. c. pag. 209 ss.) recht geben, wenn er diese c-moll-Messe für den 7. Dezember 1768 in Anspruch nimmt. Sie ist trotz des Beginns in c-moll keine »Trauermesse« auf den Tod des Erzbischofs Sigismund, wie Wyzewa und Saint-Foix annehmen – c-moll ist hier nichts weiter als erhöhte Feierlichkeit; und eine »Trauermesse« kann in der katholischen Liturgie nichts andres sein als ein Requiem. (Und wir wissen, daß jenes Requiem – ebenfalls in c-moll – von Michael Haydn geschrieben wurde.) Ein äußerer Grund: in Salzburg standen dem Knaben wohl zur Not vier Trompeten
[366] und drei Posaunen zur Verfügung, nicht aber die geteilten Violen – die Salzburger Kirchenmusik notiert meist die Viola überhaupt nicht. Ein weiterer: es wäre seltsam, wenn Leopold Mozart gerade das Manuskript dieses Werks, auf das er so stolz war, nicht aufbewahrt hätte. Die inneren Gründe: der Knabe, der das unbezweifelbar ebenfalls im Herbst 1768 entstandene und bei aller Primitivität schwungvolle und großartige »Veni sancte spiritus« (K. 47) geschrieben hat, der kaum ein Jahr später die ebenso unbezweifelbare Dominikusmesse (K. 66) schreiben wird, war sehr wohl imstande, auch diese c-moll-Messe zu schreiben.
Wie bewältigt der jugendliche Komponist die Aufgabe? Er hält sich an das maßgebende italienische Vorbild, vertreten durch den damals in Wien einflußreichsten und ehrwürdigsten Musiker, der ihm oben drein wohlwollend gesinnt war: Johann Adolph Hasse. Aus dem Kyrie wird, nach der mehrmaligen feierlichen Anrufung, der langsamen Introduktion in c-moll, ein lustiges Allegro in Dur, im Dreivierteltakt, Wechsel von Soli und Tutti, Chordeklamation, unterbrochen oder zusammengehalten durch Orchesterritornelle mit primitiven Motiven, etwa in Sonatenform; das Christe wird nochmals besonders komponiert, in der Unterdominant, für die Soli allein, und vertritt ungefähr das Andantino einer Sinfonie, worauf das rauschende Kyrie wiederholt wird. Festlichkeit, nicht Expression! Aus dem Gloria und Sanctus werden große Kantatensätze in herkömmlicher Gliederung und mit herkömmlicher Hervorhebung besonders malerisch-symbolischer Textstellen. In unserer c-moll-Messe wird das »Gloria in excelsis Deo et in terra pax hominibus« in reiner Chordeklamation mit prunkhafter Orchestrierung vorgebracht; das »Laudamus te« wird ein Duett für Sopran und Alt in G, ein anmutiges Andante; das Gratias wieder eine Art von Miniatur-Ouvertüre mit dem Tempogegensatz Adagio-Vivace, aber in mehr chromatischer Melodik; das Domine Deus ein Duett für Tenor und Baß, diesmal mehr in gehender Bewegung und in F. Im Zentrum des Gloria steht das »Qui tollis«: Chorsatz in f-moll, Adagio, in düsteren Regionen der Harmonik, mit feierlich in Triolen rhythmisierter Begleitung. Dann Sopransolo: »Quoniam tu solus sanctus« in F, und auftrumpfendes
[367] Fugato: »Cum sancto Spiritu in gloria Dei patris, Amen« in der Haupttonart. Das Credo ist ganz ähnlich behandelt: das Incarnatus wird ein Duett: – seltsamerweise schon in der gleichen Takt- und Tonart wie das Incarnatus dereinst in der »großen« c-moll-Messe von 1783; Crucifixus und Et Ressurrexit werden gebührend in Gegensatz gestellt; das »Et in Spiritum sanctum« wird ein freundliches Tenorsolo, und nach dem Chorsatz des »Et unam sanctam« wird wiederum mit kontrapunktischem Prunk abgeschlossen, diesmal mit einer Doppelfuge: »et vitam venturi«. Die Gestaltung der verbleibenden drei Messeteile ergibt sich von selbst: das Sanctus rauschend, immer in der Haupttonart, mit dem »Pleni sunt« in schnellerem Tempo; das Benedictus meist für Soli oder Solo, und meist in der Unterdominant, verschränkt mit dem Osanna; das Agnus Dei trüb im Beginn, aber mit dem »Dona nobis« festlich und fröhlich als Abschluß und Abschied. So will es die Tradition, und man fügt sich ihr. Kirchenmusik ist nicht dazu da, um Experimente zu machen; man gibt nicht subjektiven Gefühlen Raum, sondern benimmt sich würdig, in der Trauer und im Jubel. Dabei hat man Gelegenheit genug, in kleinen Symbolismen persönliche Erfindung zu beweisen: etwa der »malerischen« Ausdeutung von »ascendit« und »descendit«, und die Zuhörer achten dar auf, wie man mit dem Gegensatz des Crucifixus und Resurrexit fertig wird. Dergleichen hat schon den Knaben Mozart nicht in Verlegenheit gesetzt, und noch viel weniger hat er sich Gedanken darüber gemacht, daß er durch Zusammenstellung von »galanten« und »gelehrten« Teilen eine vom ästhetisch-puristischen Standpunkt unmögliche Stilmischung herstellte; denn diese Stilmischung war traditionell. Um so bewundernswerter ist, wie er dem Prosatext der Messe beikommt, indem er ihn melodisiert, rhythmisiert, durch Wortwiederholungen abrundet, wie er einzelne Sätze durch vereinheitlichende Geigenmotive – zugegeben, meist primitivster Art – zu einem Ganzen verbindet.
Das Schwesterwerk dieser c-moll-Messe ist die solenne Messe in C-dur K. 66, die Mozart für die Primiz von Cajetan Hagenauer geschrieben hat, einem Sohn des Hausherrn der Familie Mozart, Lorenz Hagenauer. Cajetan war während der großen
[368] Reise der Mozarts ins Benediktinerkloster St. Peter eingetreten, und beging am 15. Oktober 1769 in der Peterskirche als Pater Dominicus sein erstes feierliches Hochamt; und so geht diese Messe unter dem Titel: »Dominicus-Messe«. Mozart komponierte für den geistlichen Ehrentag seines Freundes nicht nur die Messe, sondern auch das Offertorium zu dieser Messe, die Antiphon »Benedictus sit Deus« (K. 117), und so wundern wir uns nicht, wenn der Pater in seinem Tagebuch vermerkt: »Duravit Missa supra duos horas ...« Dieses Offertorium hat vielleicht bei der Masse der Kirchgänger (»magna offerentium multitudo«), wenn sie einigermaßen musikverständig waren, das größte Erstaunen hervorgerufen. Es gleicht ganz einer italienischen Sinfonia: Allegro – Andante in F – Allegro; aber das »Finale« hat Mozart zugleich originell und kirchlich gestaltet, indem er als quasi zweites Thema den liturgischen Psalmton verwendet:
– den er allerdings mit einer rauschenden, höchst weltlichen Violinfiguration begleitet. Die Messe selber folgt in der Anlage, in der Aufteilung des Textes in Gloria und Credo, in der Verteilung von Chor und Solo und »galanter« und »gelehrter« Abschnitte genau dem Vorbild der Wiener c-moll-Messe; aber sie ist, wenn auch durchaus nicht kürzer, in der melodischen Erfindung herzlicher und persönlicher als jenes in Präsenz der Kaiserin aufgeführte Werk. Immer hat man den walzerhaften Eintritt des Solos im Kyrie hervorgehoben – oder beanstandet – oder entschuldigt:
[369] – eine Beanstandung oder Entschuldigung, die auch auf die kindlichen Themen des »Dona nobis« anzuwenden wäre. Aber neben solchen Stellen finden sich solche reifer Anschauung und großartiger Konzeption, wie das »Crucifixus« oder das »Miserere nobis«.
Von diesen großen, feierlichen, für besondere Gelegenheiten geschriebenen Messen sehr zu unterscheiden sind die »Missae breves«, die für den gewöhnlichen Sonntagsdienst bestimmt waren. Sie verzichten auf prunkhafte Begleitung und begnügen sich meist mit den Streichern allein; und sie verzichten vor allem auf die Aufteilung der beiden textreichsten Messenteile, des Gloria und Credo, in selbständige Abschnitte. Die Soli treten einfach aus der Chormasse heraus und wieder in sie zurück; der Wechsel des Ausdrucks ist nicht nur rapider, sondern auch unauffälliger: zwar ist das »Galante« ebensowenig vermieden wie das »Gelehrte«, aber die Gegensätze des »Stilus mixtus« treten nicht so stark hervor. Mozart hat zwei solcher Messen schon in frühester Jugend genau neben seinen zwei solennen Messen geschrieben, die eine in Wien (G, K. Nr. 49) im Herbst 1768, die andre nach der Rückkehr nach Salzburg (d-moll, K. Nr. 65) zum 5. Februar 1769. Die Wiener verlangt, bezeichnenderweise, in der Begleitung die Viola, die Salzburger jedoch nicht. Schon in der G-dur-Messe hat Mozart begriffen, um was es sich bei der Komposition vor allem des Gloria und Credo hauptsächlich handle: um die Vereinheitlichung dieser langen und gegensatzreichen Sätze, und er hat vor allem im Gloria ein erstaunliches Beispiel dieser Vereinheitlichung geliefert: nicht durch das äußerliche Mittel der Verwendung einer obstinaten Geigenfigur, sondern durch die motivische Verwandtschaft aller melodischen Keime. Ein noch erstaunlicheres Werk ist die Missa brevis in d-moll. Die seltene Tonart erklärt sich aus dem Anlaß: das Werk wurde zum erstenmal aufgeführt zur Eröffnung des vierzigstündigen Gebets in der Salzburger Universitätskirche, also zur Fastenzeit. Das Gloria konnte in dieser Zeit allerdings nicht gesungen werden, aber Mozart hat es trotzdem komponiert, da er später gern auch die jugendlichen Messen wieder hervorholte: so hat er die Dominicusmesse im August 1773 in Wien durch Leopold dirigieren lassen und ein paar Jahre später sogar
[370] noch ihre Instrumentierung durch Oboen, Hörner und ein weiteres Paar Trompeten bereichert. Unsere kleine d-moll-Messe aber ist, trotz des Gloria, wirklich auf die ernste Fastenzeit zugeschnitten, wie vor allem das chromatisch modulierende Benedictus beweist, ein Duett für Sopran und Alt. Das ganze Werk ist von besonderer Konzentration – vielleicht zu großer Konzentriertheit, denn im Credo findet sich bereits ein eklatantes Beispiel jener verpönten »Polytextur«, die also bereits unter dem geduldigeren Fürstbischof Sigismund gestattet oder sogar gefordert war. Das Werk ist so konzis, daß die Gegensätze des »stilus mixtus« fast ganz verschwinden: wohl haben »Cum sancto Spiritu« und »Et vitam venturi« noch die Form kurzer Fugati, aber mit welcher Thematik! Man sehe das Thema des »Et vitam«:
Das ist nun allerdings ein Thema, das nicht viel »Gelehrtes« mehr an sich hat.
Unter den sonstigen Kirchenstücken des Knaben Mozart: ein Offertorium »in festo Sancti Benedicti« mit dem Textanfang »Scande coeli limina« (K. 34), eine freie Motette, besser eine Szene für Soli und Chor: drollig dadurch, daß ein Sopran solo singt, was der Chor singen sollte, und umgekehrt der Chor, was eigentlich einem Solobaß zukommt, eine richtige Barock-Heiligenszene. Komponiert ist sie angeblich für das Benedictusfest (21. März 1767) im Chiemgauer Kloster Seeon; aber das Fehlen der Viola deutet viel eher wieder auf Salzburg. Ein Tedeum in C mit einfacher Streicherbegleitung (wieder ohne Viola) von Ende 1769 (K. 141) spielt in Mozarts Kirchenmusik ungefähr die Rolle wie in seiner Instrumentalmusik das Violinkonzert (K. 218) in D. Wie dieses abhängig ist von einem Konzert Boccherinis, so dies Tedeum von einem Tedeum Michael Haydns von 1760, dem Mozart so enge folgt, daß man die Nachbildung fast taktweise feststellen kann. Und doch ist es so mozartisch wie das Violinkonzert, sicher im Aufbau, hinreißend in der Chordeklamation, und von einer gewissen süddeutsch-bäurischen
[371] Großartigkeit selbst in der abschließenden Doppelfuge: ein guter Abschluß von Mozarts Tätigkeit als Kirchenkomponist vor dem Antritt der italienischen Reisen.
Haben die italienischen Reisen Mozarts kirchenmusikalisches Ideal verändert? Ja und nein. Was er, auf der einen Seite, in italienischen Kirchen beobachten konnte, war noch eine viel unbedenklichere musikalische »Unkirchlichkeit«, Verweltlichung, Ariosität als im heimischen Salzburg oder im würdevollen Wien Maria Theresias. Auf der andern Seite begab er sich in Bologna in die Lehre des Padre Martini, der noch einen echten, wenn auch mehr wissenschaftlichen Begriff hatte von der scheinbar reineren, höheren, kirchlicheren Musik des 16. Jahrhunderts. Aber wir wissen es bereits: der alte »Contrappunto osservato«, den Mozart in Bologna kennenlernte, war für ihn Schulstaub, den er bald wieder abschüttelte. Er konnte ihn nicht assimilieren, was lediglich für seine lebendige Seele, für seine produktive Gesundheit spricht. Ja, er hat in seinen »italienischen« Jahren, zwischen 1770 und 1773, ein paar Versuche in solchem Stil gemacht, ein Miserere für drei Stimmen und Baß (K. 85), eine Missa brevis für vier Stimmen, Streicher und Orgel, von der nur das Kyrie übriggeblieben scheint (K. 116), ein weiteres vierstimmiges Kyrie mit Orgel (K. 221) und ein paar weitere fragmentarische Ansätze zu solchen Stücken. Auch jenes Miserere ist nicht fertig geworden, und es ist lediglich ein äußerer Beweis für seine Unpersönlichkeit, seine »Neutralität«, daß der geschäftstüchtige J.A. André es durch drei Sätze komplettieren konnte, ohne aus dem Stil zu fallen. Es sind Exerzitien.
Nein, Mozart wirft sich der italienischen Brillanz oder Unbedenklichkeit in die Arme, ohne doch Salzburgs ganz zu vergessen, Salzburgs, das heißt seiner instrumentalen Schulung. Der größere, der festlichere Teil dieser Kirchenmusik ist einfach sinfonisch konzipiert; das Sinfonische gemischt mit dem Konzertanten. Im Mai 1771 und dann wieder im Mai 1772 schreibt Mozart zwei »Regina coeli«, beide in großer Besetzung, das eine (K. 108) in C, sogar mit Trompeten, das andre (K. 127) in B, wenigstens mit Oboen oder Flöten und Hörnern. Beides sind, grob gesagt, nichts anderes als dreisätzige »italienische« Sinfonien mit eingebautem Vokalsatz, Chor oder Solo, oder Mischung
[372] von Chor und Soli. Das »Regina coeli« war eine – die dritte – der vier Marianischen Antiphonen, die vom Karsamstag bis zum Samstag in der Pfingstoktav gesungen werden konnte; darum geht es in diesen beiden Werken so festlich und konzertant her – in der zweiten noch mehr als in der ersten, obwohl sie im einzelnen feiner durchgebildet ist. Im Januar 1773 schreibt Mozart in Mailand für den Kastraten Venanzio Rauzzini, der in seinem »Lucio Silla« eine Hauptrolle gesungen hatte, eine Motette mit Orchesterbegleitung »Exultate, jubilate« (K. 165). Sie ist sehr bekannt, da sie von ehrgeizigen Sopranistinnen gern gesungen wird. Ohne das kurze Rezitativ, das den Mittelsatz einleitet, ist sie nichts andres als ein Miniaturkonzert mit Allegro, Andante, Presto oder Vivace; kaum zurückstehend an Brillanz oder »Zärtlichkeit« hinter einem wirklichen Instrumentalkonzert. Am weitesten gegangen in italianisierender Unbedenklichkeit ist Mozart in seinen »Litaniae de venerabili altaris sacramento« vom März 1772 (K. 125), in denen er ein Werk seines Vaters zum Modell nahm und überbot. Der Text dient eigentlich nur privater Andacht; aber Leopold oder Wolfgang hat das Werk dennoch am Neujahrstag 1775 in München im Stundengebet aufgeführt oder aufführen wollen. Das Kyrie ist ein Sinfoniesatz, oder vielmehr, mit dem eingeschobenen Adagio vor dem Einsatz des Chores mit dem Kopfthema, ein Konzertsatz vom reinsten Wasser. Der nächste Satz (Panis vivus), mit Sopransolo, ein ebensolcher Konzertmittelsatz. Man wundert sich, daß noch niemand auf den Gedanken gekommen ist, das einem solchen Kirchenwerk zugrunde liegende Konzert zu rekonstruieren – im Falle unserer Litanei könnte man als Finale das »Pignus futurae gloriae« wählen, ein kontrapunktisches Prunkstück, das in seiner Länge und Leere fast fatal wirkt. In der ganzen Litanei atmen nur die vierzehn Einleitungstakte dieses »Pignus« (Viaticum), in b-moll, den Geist der Ergriffenheit durch den Text. Im übrigen kam es an auf rasche Bewältigung des Textes, nicht auf Expression; auf Glanz und festliche Gehobenheit. Wo käme man hin, wollte man der immerwährenden Bitte: »Miserere« immer ihr Recht widerfahren lassen! Manchmal geschieht das; aber in seinem Solo »Panis omnipotens« singt der Tenor ohne Erröten unter anderm:
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– und bei der Wiederholung dieser Stelle wächst der Triller sich zu einer veritablen »Cadenza ad libitum« aus.
Aber es gibt noch eine andere Litanei, ein Jahr früher (Mai 1771) entstanden, eine Lauretanische Litanei, ebenfalls in B-dur (K. 109). Die Lauretanische Litanei hat ihren Namen von der Marienkapelle der Casa Santa in Loreto, deren Inschriften in ihrem Text zusammengefaßt sind; auch sie soll in erster Linie Andachten privaten Charakters dienen. Nun, diese Litanei ist wirklich ganz intim; nicht weniger italienisch, aber ohne italienische Brillanz, voller Mozartscher Weichheit; ein wundersamer Satz vor allem das »Sancta Maria ora pro nobis«, ein kontinuierliches Arioso im Wechselgesang; und besonders schön der verhauchende Schluß des Agnus Dei in b-moll! Ein heiteres und kindliches Gegenstück zu diesem Werk ist das Offertorium »Inter natos mulierum« vom Juni 1771 (K. 72), für das Fest Johannes des Täufers geschrieben, mit einem frommen Schluß: »Ecce Agnus Dei« voller Poesie. Und der gleichen Zeit, dem Sommer 1771, gehört das schönste Kirchenwerk aus der Jugendzeit Mozarts an, ein »De profundis« in c-moll (K. 93) – das schönste, weil es das einfachste ist. Die vier Singstimmen singen die Verse des 129. Psalmes in schlichtester Deklamation, arios, und doch nicht ohne ausdrucksvolle Betonungen, die formelhafte Doxologie am Schluß mit einer leisen Wendung zum Liturgischen. Zwei Violinen sollten ursprünglich dem Werk einen leisen instrumentalen Schimmer geben, aber Mozart hat sie vielleicht mit Absicht weggelassen. Es gibt eine Komposition des gleichen Psalmes aus Glucks letzter Schaffenszeit, ebenfalls vierstimmig, jedoch mit mächtiger, dunkel gefärbter Orchesterbegleitung; aber mir scheint, der Knabe hat den alten Riesen weit geschlagen, wenn höchste Kunst darin besteht, mit den geringsten Mitteln das Tiefste zu sagen.
Es gibt zu diesem homophonen kleinen Meisterwerk ein polyphon
[374] gestaltetes Gegenstück, den Hymnus »Justum deduxit Dominus« (K. 326), sicherlich genau aus der gleichen Zeit. Es ist ein Salzburger Stück, kein italienisches. Denn Mozart hat, trotz Padre Martini, noch in seinen italienischen Jahren das Bedürfnis gefühlt, sich im strengen Stil zu üben, und hat als Modelle eine Reihe Werke von Salzburger Meistern genommen, in erster Linie Michael Haydn und Ernst Eberlin (1702 bis 1762), den einstigen Domkapellmeister und Vorgesetzten seines Vaters Leopold. Es ist süddeutsche, salzburgische, wienerische, J.J. Fuxsche Kontrapunktik, die er da übt. Obwohl man mit diesen Ausdrücken vorsichtig sein sollte, denn es war gleichzeitig italienische Kontrapunktik. Es gab auch in Italien einen würdigen Kirchenstil für Messenteile, Psalmen, Hymnen, Motetten, für vier Singstimmen und Baß, manchmal mit der sparsamen Begleitung zweier Violinen; – einen Stil, dessen Grundlage eine manchmal etwas formelhafte, archaistische, aber immer ehrenfeste und ehrliche Polyphonie war – weit abweichend von dem brillanten, konzertanten, ariosen Stil der Kirchenwerke für die großen Gelegenheiten. Man wird vorsichtig, wenn man weiß, daß eine Motette dieser Art, die Hymne »Adoramus te« (K. 327), die man in die letzte Zeit Mozarts, neben das »Ave verum« gestellt hat, sich als Kopie Mozarts nach einem Werk Quirino Gasparinis († 1778) erwiesen hat. Gasparini war Hof- und Domkapellmeister in Turin und als Mitglied der Bologneser Accademia filarmonica ein Kollege Mozarts. Mozart könnte die Motette in Bologna leicht kennengelernt und dort abgeschrieben haben. Es ist eine Karfreitagsmotette, c-moll, von hoher Schönheit, und in einer melodischen Wendung wirklich verwandt mit dem »Ave verum« ... Und sie ist von einer etwas ausgeglicheneren polyphonen Haltung als die der Salzburger Meister.
Trotzdem: man darf sagen, daß die Kirchenwerke Mozarts vor 1782 mehr durch Salzburger Polyphonie beeinflußt sind. Die äußeren Dokumente dafür sind Abschriften, die Mozart sich von zwei Fugen Michael Haydns (zu den »Litaniae de venerabili altaris sacramento« gehörig) angefertigt hat, vor allem aber ein Heft mit neunzehn Kirchenwerken Michael Haydns und Ernst Eberlins, mit mächtigem Lerneifer aus den Stimmen
[375] in Partitur gesetzt. Das muß im Frühjahr 1773 geschehen sein, kurz nach der Rückkehr von der letzten italienischen Reise. Mozart hat das Bedürfnis gefühlt, für Salzburg seinen Kirchenstil zu vertiefen; und so beginnt mit diesen Kopien wirklich ein neuer Abschnitt in seiner Tätigkeit für die Kirche.
Es beginnt, zum Teil, ein neuer Abschnitt auch aus äußeren Gründen, die mit dem Regierungsantritt des neuen Erzbischofs (1772) zusammenhängen. Hieronymus Colloredo war ein ungeduldiger Herr und liebte lange Messen nicht, besonders wenn er sie selber zelebrieren mußte. Mozart hat, in dem berühmten Brief an Padre Martini (4. September 1776), dem er das Manuskript seines »Misericordias Domini« (K. 222) beilegte, den hieronymanischen Salzburger Kirchenstil selbst charakterisiert (p. 57): »... unsere Kirchenmusik« – ich gebe die Stelle hier in deutscher Übersetzung – »ist sehr verschieden von der in Italien, und das um so mehr, als eine volle Messe mit dem Kyrie, Gloria, Credo, der Epistel-Sonate, dem Offertorium oder Motetto, Sanctus und Agnus Dei, auch die feierlichste, wenn der Fürstbischof selber die Messe celebriert, nicht länger dauern darf als höchstens dreiviertel Stunden. Es bedarf eines besondern Studiums für diese Schreibart; und dazu muß es auch noch eine Messe mit vollem Orchester sein, mit Trompeten, Pauken usw ....« – »Sehr verschieden von der in Italien!« Und also auch sehr verschieden von der bolognesischen Kirchenmusik! Man konnte dem »kurzen Salzburger Geschmack«, den erzbischöflichen Wünschen auf zweierlei Wegen entgegenkommen. Und Mozart hat beide Wege im Frühsommer 1773 gleichzeitig betreten, mit der (leider unvollendeten) Missa brevis K. 115, und mit der sogenannten Trinitatismesse in C, K. 167. Die erste, ebenfalls in C, ist eine unmittelbare Frucht der Studien nach Eberlin, Michael Haydn, Adlgasser. Vier Stimmen, mit schlichter Orgelbegleitung, ohne Zeitverlust in prinzipiell kontrapunktischer, »gearbeiteter« Gestaltung fortschreitend, doch ohne sich den Ausweg ins schlicht Akkordische zu verbauen; kleingliedrig, doch mit der Freiheit, im »Cum sancto spiritu« eine Doppelfuge auszubreiten; mit kleinen Betontheiten des Gefühls oder symbolischer Malerei. So entsprechen sich die Symbolismen des »Ascendit«, »Descendit« und »Resurrectionem« genau:
[376] Man möchte sie eine »motettische Messe« heißen, nicht eine im Sinn des 16., sondern in dem des 18. Jahrhunderts, das die Freiheit und den Fluß der klassischen Polyphonie nicht recht mehr kannte, in dem Polyphonie ein wenig zu »Kontrapunkt« erstarrt war; aber in diesem Sinn ein Meisterwerk des Achtzehnjährigen. Vollendet hat er es vielleicht deswegen nicht – es bricht ab nach ein paar Takten im »Sanctus« –, weil der Erzbischof wohl äußerste Kürze verlangte, aber auch auf äußeren Glanz nicht verzichten wollte. Und so schreibt Mozart seine Trinitatismesse, eine solenne Messe, mit dem vollen Prunk des Orchesters, mit Oboen, zwei Paar Trompeten und Pauken, und Streichern – bezeichnenderweise ohne Violen. Wie war hier die Kürze zu erreichen? Durch Verzicht auf alle Soli, durch Zusammenfassung von Gloria und Credo in einheitliche, sinfonische Sätze, durch gleiche Gestaltung einzelner Satzteile, die man Entsprechung nennen möchte. So »entspricht« im Credo unserer Messe dem »Et in unum Dominum« das »Genitum non factum«, »Et ascendit«, und, über einen weiten Bogen hinweg, nämlich über den eingeschobenen G-dur-Satz des »Et in Spiritum«, das »Et expecto«. Es ist eine Chormesse; und der ins Sinfonische eingebaute Chorsatz hält eine merkwürdige Mitte zwischen dem Kontrapunktischen und Konzertanten. Nur für das »Et vitam venturi saeculi« erlaubt Mozart sich wieder einen kontrapunktischen Prunk, in einer Fuge, die vielleicht die von Colloredo gebotenen Schranken überschritt und von ihm mit mißfälliger Ungeduld angehört wurde. Im übrigen dauert die Messe, samt der »Epistelsonate« und dem Offertorium, bei richtigem Tempo, wirklich nur fünfundvierzig Minuten; das Problem ist gelöst, das besondere Studium für diese Schreibart hat seine erste Frucht getragen.
[377] Es ist hier der Ort, nochmals ein paar Worte über die erwähnte »Epistelsonate« zu sagen, eine Gattung von Instrumentalstücken, von der wir von Mozart siebzehn Beispiele besitzen. Diese Kirchensonaten sind gedacht als Einschiebungen zwischen Gloria und Credo, oder genauer gesagt zwischen der Epistel und der Evangelienlesung in der Messe. Wo die ganze Messe nur fünfundvierzig Minuten dauern darf, darf eine solche Sonate nicht mehr als zwei oder drei in Anspruch nehmen, und das tut sie denn auch bei Mozart in keinem Fall. Er hilft sich, indem er Sätze in Sonatenform en miniature schreibt, mit Durchführungen von ein paar Takten ... Je nach der Besetzung der Messe, zu der sie gehören, wechselt auch ihre eigene Besetzung, und bei mehreren läßt sich ihre Zugehörigkeit zu Mozarts eigenen Messen mit Bestimmtheit nachweisen. So hat er zu seiner Orgelsolo-Messe (K. 337) eine solche »Sonata all'epistola« geschrieben, die nichts andres ist als ein artiger erster Satz für ein Klavierkonzert en miniature – auf der Orgel, im Dom, muß er sich seltsam genug ausgenommen haben. Es geht auch die Legende, Colloredo habe diese instrumentalen Einlagen in die Messe später abgeschafft und Michael Haydn beauftragt, sie durch Vokalstücke zu ersetzen. Aber wenn es ankam auf Kürze: an Kürze konnten sie schwerlich über troffen werden
1.
Sowie Mozart nicht mehr an den Erzbischof zu denken hat, kehrt er sofort wieder zur solistischen Kantabilität zurück. So schreibt er, im April oder Mai 1774, wieder eine Lauretanische Litanei (K. 195), in der er zu den Formen des älteren Schwesterwerks zurückkehrt, aber in der neuen Tonsprache, in der Kombination des Konzertant-Sinfonischen mit feinerer »Arbeit«.
[378] Würde man nicht die Gefahr laufen, allzusehr mißverstanden zu werden, so möchte man von einer Kombination von »Pergolesi« mit »Michael Haydn« reden ... Wieder ist das »Sancta Maria« ein Andante mit Soli, das zum Kyrie genau im gleichen Verhältnis steht wie in der Sinfonie der langsame Satz zum ersten. Wieder steht das Salus infirmorum im entsprechenden Moll, als ein Konzertsatz im feinsten Filigran; während das Regina angelorum sich auswächst zu einem richtigen »Concertone« mit Soli und Tutti. Als Agnus Dei schreibt Mozart einen der überirdischsten Adagiosätze, die er je geschrieben hat, für Sopransolo und antwortendes und abschließendes Tutti. Er hat das Motiv zehn Jahre später, im Adagio des Jagdquartetts (K. 458) wieder aufgenommen:
Man mag hundertmal sagen, daß ein solcher Satz instrumental empfunden sei, daß das Solo eher einer Klarinette zukomme als einer menschlichen Stimme; daß das eher neapolitanischer Opern- als wahrer und echter Kirchenstil sei; und man hat hundertmal recht. Aber abgesehen davon, daß man damit den ganzen Gesangsstil des 18. Jahrhunderts verdammt, daß ferner kein Sänger von heute dergleichen mehr richtig vorzutragen imstande ist, daß Mozart das Solo sicherlich einer neutralen Kastratenstimme zugedacht hat: eine Lauretanische Litanei ist intime Andacht, und dies im Abendgold leise verglühende
[379] Stück ist hinreißend gerade als ein beseligendes Gebèt. Auch das Adagio des Streichquartetts ist ein Gebet, und von einem höchsten Standpunkt aus ist nicht einzusehen, weshalb von zwei innerlichst verwandten Sätzen der eine Gültigkeit habe, der andre aber zu verwerfen sei. Ich beneide jedenfalls die Leute nicht, die sich den Enthusiasmus an einem solchen Wunder der Kunst und des jugendlichen Gefühls durch »stilistische Erwägungen« verderben.
Im Juni und August desselben Jahres 1774 hat dann Mozart für den liturgischen Tagesgebrauch wieder zwei kurze Messen geschrieben, beide mit einfacher Streicherbegleitung (ohne Viola!), eine in F (K. 192) und eine in D (K. 194), in denen er ein Ideal noch größerer Konzentriertheit erreicht. Zunächst durch nackte Zeitersparnis: in der F-Messe haben nur Kyrie und Agnus ein instrumentales Vorspiel, alle andern Sätze setzen gleich mit voller Vokalität ein; und in der D-Messe fehlen Vorspiele überhaupt. Dann aber durch ganz knappe Prägung aller Motive, durch rapide Chordeklamation, durch Verteilung von wortreichen Abschnitten des Textes auf die Soli, die sich quasi ins Wort fallen, ohne daß jedoch noch der verpönte Ausweg der Polytextierung gesucht ist. Zusammengehalten werden Gloria und Credo durch einheitliche Geigenmotive. Es ist manchmal unmöglich, nicht an die Abschnitte eines Buffofinales zu denken, die durch dasselbe Verfahren »obstinater Geigenmotive« ihre Einheit erhalten ... Das Credo der F-Messe wird freilich auch zusammengehalten durch ein wiederkehrendes vokales Kopfmotiv, nämlich das der vier Noten, die bis zum Finale der großen C-dur-Sinfonie Mozarts ganzes Leben begleiten. Immer wieder beteuert es: »ich glaube«; mit immer neuen Kontrapunkten; und zum Schluß kehrt es wieder auf das Amen, Amen, im Fugato mit Engführung. Diese Missa brevis ist dank diesem großartigen und geistreichen Satz bereits eine echte Credomesse, und sie würde diesen Titel mit größerem Recht führen als die spätere Messe in C (K. 257), der man ihn wirklich gegeben hat. Im Gegensatz zu ihr wird in der D-Messe das Credo nur vom Priester intoniert und für das »Incarnatus« ein eigener langsamer Satz eingeschaltet. Das »Dona nobis« in der ersten ist leicht wie das Finale einer italienischen Sinfonia,
[380] indes das der zweiten mehr vokal gehalten ist, im Ton der Zutraulichkeit und Kindlichkeit. – Zwischen den beiden Messen steht, der Entstehungszeit nach, die Komposition eines Dixit und Magnificat (K. 193, Juli 1774), das, durch Trompeten und Pauken in der Instrumentation etwas anspruchsvoller, für die Vesper am Vorabend eines größeren Kirchenfestes geschrieben sein muß. Auch diese Psalmkompositionen operieren mit der Mozartschen Viernotendevise; das Magnificat ist in seiner kontrapunktischen Haltung noch großartiger als das Dixit; aber beide Stücke sind etwas zu prunkhaft.
In zwei Kirchenwerken, komponiert während der Aufführungen der »Finta giardiniera« in München Anfang 1775, zeigt sich der »Salzburger Stil« in seinen Extremen. Das eine ist die Missa brevis in C (K. 220), gleicher Besetzung wie die beiden Messen von 1774. Sie ist zwar, mit aller Wahrscheinlichkeit, in München komponiert, aber gewiß nicht für München, obwohl Leopold (an die Gattin, 15. Februar) von dort schreibt: »... am verflossenen Sontag ist eine kleine Messe vom Wolfgang in Hof Capelle gemacht worden, und ich habe Tactiert. am Sontag wird wieder eine gemacht ...« Aber das waren vermutlich die beiden Missae breves von 1774. Denn mit der neuen Messe in C hätte Mozart in München schwerlich große Ehre eingelegt. Ich glaube vielmehr an einen plötzlichen Auftrag Colloredos, der damit Mozart auch aus der Ferne ein wenig an der Leine halten wollte; und Mozart hat sich dieses Auftrages denn auch eilig und in einer Weise entledigt, als ob er dem Brotherren hätte zu verstehen geben wollen: da hast du einmal genau, was du willst! Die Messe, im Jargon der süddeutschen Kirchenmusiker »Spatzenmesse« genannt, wegen der Begleitungsfigur der Geigen im Credo, sollte Missa brevissima heißen. Nicht der leiseste Ansatz zu einem Fugato als Abschluß des Gloria und Credo; rapide Erledigung des Textes meist im homophon-konzertanten Stil; kaum mehr als bloße Andeutung alles Mystischen und alles Affektiven. Es ist, als ob Mozart den Erzbischof herausfordern wolle, wenn er das Descendit folgendermaßen »symbolisiert«:
[381] Die »sinfonische«, buffofinalmäßige Anlage wird betont durch Wiederkehr des Kyriethemas im Agnus; es ist gleichsam die thematische Coda der ganzen Messe. Mozart hat, wie er am 20. November 1777 dem Vater meldet, dem Prälaten zum Heiligen Kreuz in Augsburg neben der F-Messe und dem Misericordias auch diese Messe verehrt – was uns wundert, denn sie ist sicherlich sein schwächstes, ein allzu salzburgerisches Kirchenwerk.
In ganz anderm Sinn salzburgerisch ist das andre in München entstandene Kirchenwerk, das Offertorium »Misericordias« (K. 222), über das in diesem Buch gelegentlich des Verhältnisses zu Padre Martini und zur Polyphonie bereits gesprochen worden ist (p. 208). Es ist ein kontrapunktisches Lehr- und Prunkstück im Sinn der Eberlin, Adlgasser und Michael Haydn, und von den beiden Themen, einem homophonen und einem kontrapunktischen, die da Mozart in nicht weniger als 158 Takten verschränkt und durchgeführt hat, ist das zweite denn auch einer jener Motetten Eberlins (»Bendixisti Domine«) wörtlich entlehnt, die Mozart sich 1773 abgeschrieben hatte. Mozart ist in dieser Exhibition seines Könnens von seinem eigenen, poetischen Kirchenstil ungefähr ebenso weit entfernt wie in der Münchner »Missa brevissima« – er steht nur am andern Ende. Nirgends wird die Kluft zwischen »Galant« und »Gelehrt« mehr offenbar als in diesen beiden der Entstehung nach so nahen Werken.
Mehr als ein Jahr lang hat Mozart dann als Kirchenmusiker geschwiegen. Erst im März 1776 findet er sich wieder als solcher, mit einer zweiten Litanei de venerabili altaris sacramento; einer zweiten (K. 243), die von der ersten von 1772 (K. 125) im Text seltsamerweise ein wenig abweicht. Wir sagen mit Absicht: er findet sich wieder; denn das ist eins seiner persönlichsten, mozartischesten Werke geworden, das zu bewundern und zu lieben nur kirchenmusikalischer Purismus verhindern kann. Es wäre ungefähr so, wie wenn man das Große Jüngste Gericht oder den Höllensturz von Rubens als Malerei ablehnen wollte, da ja einige der weiblichen Seligen oder Verdammten sich durchaus nicht scheuen, einige unleugbare Reize zur Schau zu stellen. Und daran hat kein Gläubiger des 17. oder 18. Jahrhunderts
[382] Anstoß genommen. Nun, da Mozart diesmal keine Rücksicht auf den Erzbischof zu nehmen braucht, legt er sich auch keine Rücksichten als Musiker auf; er breitet sich aus, er schreibt wieder umfangreiche Arien für die Solisten, er gestattet sich polyphone Arbeit und gestaltet das Pignus zu einer Doppelfuge, zu der jenes Misericordias nur wie eine Vorstudie wirkt: es ist eins seiner größten Meisterwerke im kontrapunktischen Salzburger Stil geworden. Daneben schreibt er homophone Stellen, die so »modern« sind, daß man glaubt, sie etwa in Verdis Messa da Requiem antreffen zu können, wie im Tutti von »Hostia sancta«:
Für wen hat Mozart dergleichen geschrieben? Wir können nicht umhin, uns vorzustellen, daß bei der Zuhörerschaft einer solchen Litanei die Andacht gemischt war mit Kennerschaft; es war ein Konzert unter liturgischem Vorwand. Dem entsprechen auch die koloraturreichen Arien mit obligaten Instrumenten; die unglaublich farbige Orchestrierung (nota bene mit zwei Violen); die kontrastreiche, unmittelbare Aufeinanderfolge der einzelnen Sätze: welch ein Effekt, wenn das »Tremendum« mit den drei Posaunen einsetzt! Wieder greift das Agnus Dei als »thematische Coda« auf das Kyrie zurück. Wahrlich, Werke wie dieses hat Mozart im Kopf gehabt, wenn er in seinem Gesuch an den Hochweisen Wiener Stadt-Magistrat im Frühjahr 1791 von seinen »auch im Kirchenstyl ausgebildeten Kenntnissen« spricht.
[383] Es ist, als ob diese Litanei Mozart wieder die Zunge gelöst hätte, für die Kirche zu singen. In den Mai – dieses Datum ist ziemlich sicher aus äußeren und inneren Gründen – 1776 fällt eine neue Messe in C (K. 246), Missa longa genannt wegen ihrer auffallenden Länge; und diese Länge sowie die Instrumentierung beweisen, daß sie nicht für die Verwendung im Dom bestimmt war, sondern vermutlich für die St.-Peters-Kirche, in deren damals nagelneuen Rokoko-Reichtum sie gut hineinpaßte. Der Umfang des Werkes reiht es jedoch nicht ein unter die Gattung der Missa solemnis. Es ist immer noch eine Missa brevis, eine solistisch belebte Chormesse, und ohne Arien; noch immer ist sie sinfonisch angelegt in einzelnen Sätzen, aber innerhalb dieses Rahmens breitet Mozart Kontrapunktik aus in allen Formen und schreibt als Abschluß des Gloria und Credo zwei Prunkfugen stolzester Art. Es ist, als ob er sich damit genug getan hätte, denn die drei letzten Messesätze hat er kürzer abgetan. Dadurch kommt in das Ganze etwas Zwiespältiges und Leeres; diese Messe ist vielleicht würdiger, kirchlicher als die Litaneien, aber auch um so weniger herzlich, warm, persönlich. Und das gleiche gilt für ein »Offertorium de venerabili sacramento: Venite populi«, wenig später, vielleicht im Juni 1776, zum Himmelfahrtstag geschrieben (K. 260), ob für eine eigene, ob für eine fremde Litanei, steht nicht fest. Wenn für eine fremde, so war Mozart nicht artig, denn das Stück, dreiteilig, mit einem Adagio in der Mitte, danach zum Anfang kurz zurückkehrend, bietet den Prachtapparat eines Doppelchors auf: zwei vierstimmige Chöre, die sich quasi ein kontrapunktisch belebtes Scheingefecht liefern. Mozart hat vermutlich venezianische Doppelchöre nicht gekannt, dennoch kommt er auf ähnliche Lösungen des Alternierens, der Echowirkungen, der Verschränkungen der Halbchöre wie Giovanni Gabrieli oder Giovanni Croce; und es ist nicht verwunderlich, daß Brahms, der Liebhaber alter Musik, 1873 die Erstausgabe des Werks besorgte und Franz Wüllner es in seinen klassischen »Chorübungen« in A-cappella-Fassung herausgab.
Im November und Dezember 1776 schreibt Mozart drei Messen hintereinander, alle drei in C (K. 257, 258 und 259), die wir zu leichterer Unterscheidung gleich mit ihren »Spitznamen«
[384] nennen wollen: die Credo-Messe, die Spaur-Messe und die Orgelsolo-Messe. Von dem doppelchörigen Offertorium aus dem Frühjahr desselben Jahres ist die erste dieser Messen durch eine solche Kluft getrennt, daß man, würde man nur diese beiden Werke kennen, an zwei verschiedene Autoren glauben müßte. Nirgends wird unsere Ohnmacht, den Progreß und Prozeß der Schöpfungen eines großen Meisters zu verfolgen, offenkundiger als in diesem Fall. Zwischen den beiden Kirchenwerken steht auch kein Werk, das als Brücke über die Kluft dienen könnte: die Haffner-Serenade, ein paar Buffo-Arien, ein paar Divertimenti. Was war geschehen? Es muß zu gleicher Zeit eine Revolution in seinem Innern, veranlaßt durch ein aufwühlendes Erlebnis, gewesen sein, die Mozart veranlaßt hat, sich für eine Zeitlang so ausschließlich der Kirchenmusik zuzuwenden, und eine Revolution in seinen Anschauungen über kirchenmusikalischen Stil. Er muß über die Mittel nachgedacht haben, noch kürzer zu werden, diesmal nicht im Gedanken an den Erzbischof, sondern sich selbst zu Nutzen. Er verzichtet ganz auf »Gelehrtheit«, ohne ganz auf Polyphonie zu verzichten. Aber Polyphonie gewinnt einen neuen Sinn, wie auch Homophonie einen neuen Sinn gewinnt. Mozarts Homophonie ist nicht mehr »galant«; sie ist ebenso »unkirchlich« wie vorher, vielleicht noch »unkirchlicher«; aber sie wird herzlicher, einfacher, persönlicher. Man möchte – nach der »gelehrten«, nach der »motettischen«, nach der »galanten« Kirchenmusik Mozarts von einer liedhaften Kirchenmusik, in diesem Fall von einer Lied-Messe reden. Nicht daß es ganz an Einfällen gefehlt hätte, an die Mozart nicht hätte bei sich selber anknüpfen können; – jene »verdianische« Stelle in der zweiten Litanei de venerabili war eine solche. Und wirklich steht diese Missa brevis, diese zweite Credo-Messe am Beginn einer Entwicklung, an deren Ende das Requiem Verdis steht. Die gleiche Ehrfurcht und zugleich der gleiche gläubig-kindliche Mangel an Scheu vor Gott, die gleiche melodische Unmittelbarkeit, welche äußerste Knappheit und Fülle der Erfindung erlaubt. Die Credo-Devise, der die Messe ihren Namen verdankt, ist diesmal nicht auf kontrapunktische Verwendbarkeit erfunden wie in der F-dur-Messe von 1774 (192), jene mystische Viernoten-Devise Mozarts,
[385] die diesmal ihre Rolle im Sanctus spielt. Sie ist ganz einfach und wirkt jedesmal wie ein kindlicher Ausruf. Aber wo sie auf tritt, hat sie mehr polyphonen Gehalt als alle »Gelahrtheiten« früherer Messen. Mozart hat für seine Kirchenmusik einen neuen Stil des Ausdrucks gefunden.
Die beiden Messen vom Dezember 1776 stehen nicht auf der Höhe der vom November. Die Spaur-Messe (258) – so wird sie in einem Brief Leopolds (28. Mai 1778) genannt – ist geschrieben vermutlich zur Konsekration von Friedrich Franz Joseph Graf von Spaur, später Domdechant in Salzburg, eine Feierlichkeit, der der Erzbischof natürlich assistierte. Sie ist zwar ebenso einfach und unmittelbar im Ausdruck wie die Credo-Messe, denn die kleinen »polyphonen« Episoden, der Ansatz zu einem Fugato im Gloria, bedeuten nicht viel. Immer mehr verlegt Mozart den Schwerpunkt der Gestaltung ins Vokale, wobei aber gleichzeitig die Begleitungsmotive des Geigenpaars immer unabhängiger werden: sie betonen sozusagen die sinfonische Einheit der einzelnen Sätze, ohne sich am Ausdruck zu beteiligen. Immer vollkommener werden die Formeln für äußerste Kürze: das gilt ganz besonders für die Orgelsolo-Messe (259), deren Credo – in 84 Takten – sozusagen ein Rekord ist. Eine auffällige Ausnahme, in beiden Messen, bildet nur das Benedictus. In der Spaur-Messe ist es ein ausgedehnter Satz von feierlich schreitender Bewegung und fortwährender Alternierung, Verschränkung, Verbindung von Chor und Soli, wie wenn ein Adept von Mysterien von der Versammlung immer wieder zur Ablegung eines Gelübdes aufgefordert würde. In der zweiten ist es ausgezeichnet durch die Begleitung mit einem obligaten Part für die Orgel, der durch das geforderte schnelle Tempo (»Allegro vivace«) eine sonderbare Brillanz annimmt. Beide Messen sind voll von Eigentümlichkeiten und Schönheiten, besonders auffallend der fromme »lydische« Schluß des Dona in der Spaur-Messe, das kein Buffo-Finale mehr ist.
Fast ein Jahr lang hat Mozart als Kirchenkomponist dann wieder geschwiegen. Aber im Spätsommer oder Herbst 1777 schreibt er wieder eine Messe (B-dur, K. 275), in der er so vollkommen zu der Herzlichkeit, Kindlichkeit, Liedhaftigkeit der ersten C-dur-Messe von 1776 zurückkehrt, daß man sie als
[386] gleichzeitig entstandene Schwesterwerke ansehen würde, wüßten wir über die Daten nicht wieder so genau Bescheid. Diese B-dur-Messe ist am 21. Dezember 1777 zur Aufführung gekommen, vermutlich zur ersten, denn Leopold schreibt am folgenden Tag dem Sohn nach Mannheim: »... Dieses vorhergehende habe gestern nach dem Stundgebeth ambt sontags den 21ten geschrieben, wo Deine Meß aus B gemacht wurde und der Castrat« (Ceccarelli) »unvergleichlich gesungen hat ...« Meiner Meinung nach ist es eine Votivmesse, die Mozart für den glücklichen Ausgang seiner großen Reise gelobt und geschrieben hat – wie man sieht, ist sie erst nach seiner Abreise im Officium gesungen worden. Wenn es erlaubt wäre, sie ebenfalls mit einem Namen zu versehen, möchte man denn auch »Votiv-« oder noch besser »Marien-Messe« vorschlagen. Sie ist so intim, der Orchesterapparat so bescheiden, so lyrisch, daß sie fast privaten Charakter hat, in dem der Unterschied zwischen Kirchlich und Profan verschwindet. Zugleich ist sie süddeutsch volkstümlich, und es ist verständlich, daß keine der andern Messen Mozarts auf soviel österreichischen und bayrischen Kirchenchören in alten Abschriften zu finden ist. Das Dona ist eine Art von Vaudeville, wie wir es später ungefähr in der letzten Szene der »Entführung« wiederfinden – immer wieder kehren Tutti und Soli zur herrlichen Anfangsmelodie zurück. Gleichzeitig aber ist das Werk voller Feinheit unauffälliger Polyphonie und vor allem chromatischer Bewegtheit und Kühnheit – Mozart bleibt Mozart, auch wo er sich zum Volk herabneigt. Der Titel: Marien-Messe, ist vielleicht berechtigt auch deshalb, weil ein Offertorium auf die Jungfrau »Alma Dei creatoris« (in F, K. 277) sehr wahrscheinlich zu ihr gehört. Sicherlich gehört es zu ihr dem Stil nach, gleiche Besetzung: Soli und Tutti ganz lyrisch und fast ganz homophon fortschreitend, simpel und herzlich wie die Messe selbst.
Vor dem Abschied von zu Hause, am 9. September 1777, einen Tag vor dem Feste Mariä Geburt, hat Mozart sich dann noch ganz persönlich an die Jungfrau gewendet, mit dem Graduale oder der Motette »Sancta Maria, mater Dei« (K. 273). »... sed ab hac hora singulariter me tuis servitiis devoveo«, »... in vita protege, in mortis discrimine defende ...«, singt er
[387] und betont er. Das wundersame Stück steht genau in der Mitte zwischen jenem »De profundis« von 1771 (K. 93) und dem »Ave verum« von 1791, mit dem es die Besetzung – vierstimmiger Chor, Streicher und Orgel – vollkommen teilt. Und es ist dem »Ave verum« vielleicht ebenbürtig. Es ist kunstvoll und liedhaft zugleich; es ist ebenso tief wie einfach; es wahrt zugleich den Abstand vor dem Göttlichen, die Ehrfurcht vor dem Unerforschlichen, und ist voll Vertrauen und Reinheit des Gefühls; man möchte sagen: voll Zutraulichkeit. Und man kann es kaum anhören, ohne an den Augenblick zu denken, den es im Leben Mozarts bezeichnet: die Jugend, das Glück der Jugend ist vorbei; die Enttäuschungen der Lebensreise beginnen. Die heilige Jungfrau hat Mozart kein sonderlich günstiges Ohr geliehen.
Auf der Reise, Anfang 1778 in Mannheim, hat Mozart eine große Messe schreiben wollen. Er war der Flötenkompositionen für den holländischen Mäzen müde: »... zu zeiten um abzuwechseln habe ich was anders gemacht, als Clavier duetti mit violin, und auch etwas an der Messe ... wenn nur der Churfürst hier wäre, so machete ich geschwind die Messe aus ...« (14. Februar 1778). Fertig geworden ist nur ein Kyrie in Es (K. 322), in größter Besetzung des Orchesters (und da wir nicht in Salzburg sind, mit Viola), von großartiger Konzeption und feinster Ausführung in den vokalen und instrumentalen Gruppen. Es ist nicht allein die feierliche Tonart, die an die »Zauberflöte« erinnert. Von den übrigen Sätzen der Messe hat sich nur der Beginn eines Sanctus oder Benedictus erhalten. Es ist die Kenntnis dieses Stückes, das uns den Verlust der acht in ein Miserere Ignaz Holzbauers komponierten Stücke (Paris, März/April 1778, K. Anh. 1) besonders bedauern läßt. Denn Mozart hat sich sicherlich bemüht, den Stil des sehr ernsthaften Holzbauer zu treffen und ihn zugleich zu übertreffen.
Heimgekehrt, im März 1779, schreibt Mozart eine neue Messe (K. 317), bekannt unter dem Namen Krönungsmesse, weil er sie angeblich komponiert hat als Gelöbnis für das (1751) gekrönte Gnadenbild der Gottesmutter Maria am Plain bei Salzburg. Am fünften Sonntag nach Pfingsten fand zur Erinnerung an diese Krönung in dieser Wallfahrtskirche alljährlich
[388] eine Andachtsfeier statt, und wenn die Legende wahr ist, hätten wir da also eine neue Marien-Messe Mozarts. Aber wäre dem so, dann hätte sie einen ganz anderen Charakter als die B-dur-Messe von 1777. Der Apparat ist viel anspruchsvoller; die Feierlichkeit viel betonter; die Kontraste sind viel stärker. Mozart scheint in der Betonung der sinfonischen Einheit der Messe, der großen Form, viel unbekümmerter geworden: das auffallendste Zeugnis dafür ist die Verwendung der Musik für das »Descendit de coelis« für das Amen im Credo, oder die Wiederholung des Kyrie-Andante für das »Dona nobis«, die das ganze Werk abrundet. Mit Recht und oft ist bemerkt worden, daß das Sopransolo des Agnus Dei eine Vorahnung der Aria der Contessa »Dove sono« in den »Nozze« ist; daß das Benedictus beginnt wie das Rondo einer Sonate. Das Volkstümliche, zum Beispiel im Gloria das Solo von Sopran und Alt (in dem man zugleich das Beispiel für die verpönte Polytextur beachte):
geht zusammen mit dem Erlesenen, wenn etwa, gleich in den Maestoso-Teilen des Kyrie, nicht die Trompeten, sondern die Geigen das Fanfarenmotiv für sich beanspruchen. Neu, und vielleicht ein Produkt der Erlebnisse der großen Reise ist Mozarts Fähigkeit, bei vollkommener Wahrung der großen Form, in blitzschnellen Wendungen mitten im scheinbar Konventionellen das Ernste, Tiefe, Großartige anzuschlagen: besonders das Credo ist voll solcher plötzlicher Wendungen, und vielleicht die schönste das trauernde Crucifixus.
Schon mit dieser Messe haben wir uns dem Werk genähert, in dem Mozarts Schaffen als Kirchenmusiker gipfelt: dem ungeheuren Torso der Messe in c-moll von 1783. Diese Nähe wird noch fühlbarer, wenn wir die Vesperae de Dominica (K. 321) betrachten, die Mozart ebenfalls im Lauf des Jahres 1779 geschrieben hat, wir wissen leider nicht für welchen Anlaß und
[389] sind daher auch im Dunkeln über das genauere Datum. Die Kontraste werden noch viel größer als in der Messe, und man braucht, um dessen deutlich inne zu werden, nur die Tonarten zu beachten, in denen diese Folge von sechs Psalmen geschrieben ist: nur das »Dixit Dominus« und das »Magnificat«, der erste und der letzte Teil, stehen in der Haupttonart C-dur, das »Confiteor« in e-moll, das »Beatus vir« in B-dur, das »Laudate pueri« in F-dur, das »Laudate Dominum« in A-dur. Um den Begriff Kirchenstil kümmert sich Mozart nicht mehr in diesem Werk, und es ist nur ein anderer Ausdruck für diese Tatsache, daß man es als eine Art von Oratorium bezeichnet und vielleicht hat entschuldigen wollen. Die stärksten Kontraste folgen aufeinander in dem »Laudate pueri« und dem »Laudate Dominum«: dieses einfach eine kirchliche Koloratur-Aria mit obligater Orgel, jenes ein Chorsatz von vollendet motettenhaftem Charakter, mit strengem Kanon a cappella beginnend, dann freier und freier strömend: – »laudate pueri«! man denkt ihn sich im Munde der steinernen Chorknaben des Donatello. Wenn Mozart diesen Satz dem Padre Martini nach Bologna geschickt hätte, er hätte vielleicht mehr Lob erfahren als mit dem Münchner »Misericordias« – wenn der gelehrte Mann auch vielleicht gerügt hätte, daß Mozart den Satz im strengsten Stil nur begonnen, aber nicht voll durchgeführt hat. Aber Mozart ist jetzt innerlich ganz unabhängig und folgt seiner eigenen Idee von Stil ... Die jugendliche Herzlichkeit, Liedhaftigkeit der Kirchenmusik von 1776 ist jetzt einer heftigen Männlichkeit gewichen, die man eine leidenschaftliche, stürmische Feierlichkeit nennen möchte: das »Beatus vir« ist dafür ein gutes Beispiel. Chor und Orchester scheinen immer unabhängiger voneinander zu werden; der erste wird mehr vokal, das andre mehr instrumental; und doch ist die Einheit vollkommener als je. Die allerpersönlichsten Sätze sind vielleicht der erste und letzte; im ersten findet sich am Schluß wieder Mozarts Viernoten-Devise; und der letzte, das Magnificat, verschmilzt, ohne Tempowechsel, die Majestät mit der Gesellschaftlichkeit eines sinfonischen Allegros zu einem unbegreiflichen Ganzen.
Von dem gleichen Charakter stürmischer Feierlichkeit sind das Fragment eines Kyrie (K. 323) und ein »Regina coeli«
[390] (K. 276), beide in C-dur, beide aus der letzten oder vorletzten Salzburger Zeit. Das Kyrie, mit reichster orchestraler Besetzung, war einst vollständig; da die Viola vorhanden und obligat geführt ist, war es vielleicht nicht für eine Messe im Dom bestimmt, sondern der erste Satz einer Litanei, in dem Mozart sich mit barockem Schwung und großartigster Freiheit gehen ließ. Maximilian Stadler, der Hausfreund Mozarts und Konstanzes, hat es schlecht und recht vollendet, oder vielmehr abgeschlossen, und dabei ein Meisterstück genannt – mit Recht. Das »Regina coeli«, etwas einfacherer Besetzung, und vielleicht für eine Wiederholung der Krönungsmesse komponiert, ist ein Musterbeispiel für Mozarts letzten Salzburger Kirchenstil, der den Text der Marianischen Antiphon zu einem gewaltigen Ganzen zusammenfaßt und nicht, wie es die Kompositionen der Antiphon von 1771 und 1772 getan hatten, in einzelne kontrastierende Teile zerlegt. Man möchte von einem konzerthaften Allegro sprechen, mit reichster Wechselbeziehung von Tutti und Soli, von feinster Durchbildung der Gruppen, bei klarster formaler Anlage, von der gleichen Kirchlich-Weltlichkeit wie die größten Schöpfungen des Baumeisters Fischer von Erlach. Denn diese Musik würde die kleinen Wallfahrtskirchen des Rokoko sprengen – sie ist zu sehr ins Große und Weite gewachsen.
Ein Jahr nach der Krönungsmesse, im März 1780, komponiert Mozart eine neue Messe, die letzte, die er in Salzburg geschrieben hat, wiederum eine in C-dur (K. 337). Sie wird traditionell als Missa solemnis bezeichnet, ist aber ganz wesentlich eine Missa brevis, in der das Gloria und Credo auf dem kürzesten Weg zu absolvieren waren – eine Salzburger, eine erzbischöfliche Messe katexochen. Daß die Viola im Orchester fehlt, ist nur wieder ein äußerer Beweis der Bestimmung für den Dom und für die Präsenz des Erzbischofs. Ja, es sieht so aus, als habe Mozart die besondere Anweisung erhalten, sich so kurz zu fassen als möglich, denn es liegt für diese Messe der Torso eines zweiten Credo vor, mit der ungewöhnlichen Überschrift: Tempo di Ciaccona – der Versuch, auch das »Incarnatus« und »Crucifixus« in den Fluß des Satzes hineinzuziehen; nur wird dafür das rasende Tempo des Satzes 19 Takte lang verlangsamt. Aber die äußerste Knappheit und Schlagfertigkeit ist Mozart auch bei dem zu Ende
[391] geführten Credo hier wie im Gloria gelungen: er kehrt zurück zur sinfonisch-symmetrischen Anlage, so daß zum Beispiel das »Et resurrexit« dem Beginn des Satzes, das »Et vitam venturi« dem »Descendit de coelis« entspricht. Aber es ist, wie wenn Mozart durch die drei ersten befehlsgemäßen Sätze den Erzbischof hätte in Sicherheit wiegen wollen. Denn das Benedictus wird der auffallendste und revolutionärste Satz in Mozarts ganzer Messenkomposition: ein ausgedehntes Stück in herbsten a-moll, in strengster kontrapunktischer Fassung, nicht wie sonst eine weiche Begrüßung dessen, »der da kommt im Namen des Herrn«, sondern eher Trauer und Anklage – in gewissem Sinn ein zwar sehr »kirchliches« und doch blasphemisches Stück. Und wie um Colloredo zu beweisen, daß er seine Pflichten als fürstbischöflicher Hoforganist immer im Gedächtnis habe, schreibt Mozart für das Agnus ein langes Sopransolo mit obligater Orgel und obligaten Solobläsern, kurz abgeschlossen durch das Tutti. Es liegt durchaus im Charakter des aufsässigen Mozart von 1780, daß er mit der Kunst, Colloredo zu ärgern, die Kunst verband, seinen eigenen Idealen nachzugehen, denn auch diese Messe ist voll von intimen und überraschenden Zügen: die Symbolismen beim »Deum de Deo« im Credo, der leise Schluß des Dona, der nichts weniger ist als festlich.
Ungefähr so wie diese letzte Salzburger Messe sich verhält zur Krönungsmesse, so verhalten sich die »Vesperae solennes de confessore« von 1780 (K. 339) – ein genaueres Datum ist uns nicht bekannt und auch nicht feststellbar, da im Text jede Anspielung auf den »confessor« oder Heiligen fehlt – zu denen des vorangegangenen Jahres. Mozart bewegt sich womöglich noch freier im Tonartenzirkel (C–Es–G–D–F–C), und die Gegensätze stoßen noch heftiger aufeinander. Das »Laudate pueri« ist diesmal eine archaisierende Fuge auf das Thema mit dem verminderten Septimenschritt, dessen Ahnenreihe über Händel (Messiah, Klavierfuge), Kuhnau, Buxtehude, Lübeck zurückgeht bis auf Pachelbel und das dann von Mozart selber im Kyrie seines Requiem wieder aufgegriffen wird – ein Stück nicht ohne den Anhauch der »Gelehrtheit« mit prunkvollen Inversionen und andern »Künsten«. Aber unmittelbar darauf folgt das »Laudate Dominum«, ein schwebendes Sopransolo mit leis
[392] grundierendem Chor – ein Stück von solchem Zauber des Klanges und von solcher um alles »Kirchliche« unbekümmerten Poesie des Ausdruckes, daß schwer ein Gegenstück dazu aufzutreiben ist; es müßte denn Schuberts Ständchen op. 135 für Altsolo und Frauenchor sein. Einigermaßen kirchlich im Sinn des Purismus ist nur das abschließende großartige Magnificat; die drei eröffnenden Psalmsätze sind von größter Freiheit, Kühnheit, Beweglichkeit des Ausdrucks. Niemand kennt Mozart, der nicht solche Sätze von ihm kennt.
Damit ist Mozarts kirchliche Tätigkeit für Salzburg abgeschlossen; nicht bloß äußerlich, sondern auch innerlich. Sie ist so frei, so persönlich geworden, daß auch sie über kurz oder lang ein Anlaß zum Bruch mit dem Erzbischof hätte werden müssen – man glaube nicht, daß Colloredo, der ja auch Werke anderer Meister zu hören bekam, vor allem Michael Haydns, kein Ohr gehabt hätte für die Subjektivitäten oder musikalischen Aufsässigkeiten seines Hoforganisten. Das letzte Werk, das Mozart noch in Salzburger Diensten, aber nicht mehr in Salzburg schreibt, ist ein Kyrie (K. 341) für 4 Singstimmen mit Begleitung von Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotten, 4 Hörnern, Trompeten, Pauken, Streichern (mit Viola!) und Orgel. Allein die Klarinetten und die Viola verhindern die Annahme Salzburger Entstehung und Bestimmung: das Stück ist Anfang 1781 zur Zeit der Aufführung des »Idomeneo« und für München geschrieben. Mozart will dem Kurfürsten, an dem er soviel Enttäuschungen erlebt hat, nochmals eine Probe seines Könnens liefern, nicht nur auf dem Gebiet der Opera seria, sondern auch auf dem der Kirchenmusik: »... haben Sie doch die güte und schicken mir die 2 sparten von den Messen, die ich mithabe – und die Messe aus dem B auch. Denn graf Seeau wird nächstens dem Churfürsten etwas davon sagen – ich möchte, daß man mich in diesem styl auch kennen lernte ...«, schreibt er am 13. November 1780 dem Vater. Dann aber scheinen ihm seine auf Salzburg zugeschnittenen Werke für München doch nicht genügt zu haben, und er schreibt, sicherlich nicht vor Vollendung und Aufführung des »Idomeneo«, diesen ersten Satz einer neuen Messe als Probestück. D-moll, nicht mehr wie bisher – mit der einzigen scheinbaren jugendlichen Ausnahme (K. 139) – eine
[393] Dur-Tonart; die Festlichkeit ist der Feierlichkeit gewichen; das »Andante maestoso« gilt nicht mehr bloß ein paar Einleitungstakten, sondern dem ganzen Satz. D-moll: die Tonart des Requiem. Mozart denkt noch nicht an den Tod, aber bei aller hohen Feierlichkeit atmet dieses Kyrie die Furcht vor dem Ungewissen und zugleich die Milde, das Vertrauen auf eine rettende Güte – weicht die Chromatik immer der Sicherheit der Kadenz, die Erregung immer der Ruhe. Die Meisterschaft der architektonischen Anlage, der Abgrenzung der vokalen und instrumentalen Gruppen, die Feinfühligkeit der Ausführung im Detail – man verfolge irgendeins der Bläserpaare! – ist derart, daß man auf die Knie sinken möchte. Am Beginn des Vokalparts steht »Tutti«; aber Soli treten nicht aus dem Tutti hervor. Mozart will alles Konzertante, alle Subjektivität vermeiden. M. de Saint-Foix hat feinsinnig bemerkt: »Il semblerait qu'on ne puisse parler de contrepoint ou d'homophonie: ce n'est ni l'un ni l'autre qui règne ici, à proprement parler.« Hier ist die Lösung des Zwiespalts zwischen »Galant« und »Gelehrt«, die Lösung der Krise vor der eigentlichen Krise; Mozart, als ein unbegreiflicher Genius, hat sie antizipiert.
In Wien hat Mozart mit der Kirche und Kirchenmusik nichts mehr zu tun, er ist ein freier Künstler und schreibt Sonaten, Serenaden, Klavierkonzerte und eine Oper. Der Kaiser hat ihn zwar, vier Jahre vor seinem Tod, zum Kammerkompositeur ernannt, aber er gibt ihm keine Aufträge für die Burgkapelle oder den Stefansdom. Aber darum ist in Mozart das religiöse Gefühl, das in ihm eins oder innig verbunden ist mit einem künstlerischen Drang, nicht erstorben. Es gibt künstlerische Probleme, deren Lösung nur möglich ist auf dem Gebiet der Kirchenmusik. Und so ereignet sich das Seltsame, daß er im Sommer 1782 in Wien eine neue Messe zu schreiben beginnt – ohne jeden äußeren Auftrag, aus innerer Notwendigkeit, als Einlösung eines Gelübdes, dessen Frömmigkeit wir nicht einer chemischen Untersuchung unterziehen wollen, denn es ist mit zuviel künstlerischem Wollen gemischt. Mozart, der Bräutigam Konstanzes, hatte »in seinem Herzen versprochen« (4. Januar 1783), wenn er sie als seine Frau nach Salzburg brächte, dort eine neukomponierte Messe zur Aufführung zu bringen: »... zum beweis ... der wirklichkeit
[394] meines versprechens kann die spart von der hälfte einer Messe dienen, welche noch in der besten hoffnung da liegt ...« Sie wartete umsonst darauf, vollendet zu werden. Als Mozart mit Konstanze im August 1783 wirklich nach Salzburg kam, brachte er in fertigem Zustand mit nur das Kyrie, Gloria, Sanctus und Benedictus; vom Credo liegen vor nur der erste Teil und das »Et incarnatus« (dies in sozusagen »vollendeter Skizze«); vom Agnus Dei und Dona keine Note. Lokale Überlieferung will, daß das Werk, ergänzt durch Sätze aus früheren Messen Mozarts, am 23. August im Kapellhaus geprobt und am 25. August in der Peterskirche – natürlich nicht im Dom – aufgeführt wurde, wobei Konstanze das Sopransolo oder die Sopransoli sang. Nun, das mag wahr sein oder nicht; sicher ist nur, daß Mozart entweder eine ganze Messe zur Aufführung bringen mußte oder gar keine und daß er ein erhebliches künstlerisches Opfer brachte, wenn er wirklich mit dem neuen Kyrie, Gloria, Sanctus und Benedictus ein Credo und Agnus aus früheren Werken vereinigte – genauer aus früheren C-dur-Messen. Daß er beim »Christe« und beim »Laudamus« an Konstanze dachte (aber auch nur beim »Christe« und beim »Laudamus«), ist sicher: das ist genau für die gleiche Stimme und die gleichen gesanglichen Fähigkeiten geschrieben wie die Solfeggien (K. 393) vom August 1782 »per la mia cara consorte«. Sicher ist endlich, daß die Salzburger Kirchenmusiker tüchtige und routinierte Leute gewesen sein müssen, wenn sie das Riesenwerk in einer Probe vorbereiteten.
Die Bestimmung für Salzburg zeigt sich in dem Apparat. Es ist der alte und doch nicht der alte. Mozart verwendet nur die in Salzburg vorhandenen Instrumente, also keine Klarinetten; aber er verwendet sie anders als bisher. Wie im »Venite populi« (K. 260) gebraucht er – im »Qui tollis« dieser Messe – den achtstimmigen Doppelchor, aber es lebt ein andrer Geist darin als in dem dekorativen Stück von 1776. Neu auch im äußeren Sinn ist nur der Übergang von der Vier- zur Fünfstimmigkeit des Chores im Gratias und Sanctus – Mozart braucht zwei Soprane für gewisse konzertierende Wirkungen und läßt zum Beispiel in dem vierstimmigen Benedictus den Alt aus, um die oberen und tieferen Stimmen paarig zu führen. Er nimmt wohl
[395] noch Rücksicht auf alle Salzburger Möglichkeiten, aber er nimmt keine mehr auf Salzburger Tradition. Es ist seine ganz persönliche Auseinandersetzung mit Gott und Kunst, mit dem, was er sich dachte unter dem Begriff »wahre Kirchenmusik«. Mit Recht hat man gesagt, daß dieser Torso das einzige Werk sei, das in der Mitte stehe zwischen der h-moll-Messe Bachs und der D-dur-Messe Beethovens. Nicht umsonst fällt hier der Name Bach. Denn ohne die Krise, die Überwindung der Krise, die die Bekanntschaft mit Bach in seinem Schaffen herbeigeführt hatte, hätte die c-moll-Messe niemals ihre Gestalt gewonnen. Das »Qui tollis« für Doppelchor, g-moll, mit schwerster Orchesterbegleitung, in breitestem Tempo, ist ganz offenbar in seiner abwärtsziehenden Chromatik entstanden unter der Vorstellung des Erlösers, der unter der Last des Kreuzes und unter Geißelhieben nach Golgatha zieht – es ist ein Satz ebenbürtig dem Kyrie der h-moll-Messe Bachs und dem einleitenden Doppelchor der Matthäus-Passion, und das Wunder würde nur um so größer, wenn Mozart die beiden Werke nicht gekannt haben sollte. Der gewaltige Anruf des »Jesu Christe« (der bei Bach nur ganz beiläufig das Quoniam abschließt), die Fuge über das »Cum sancto spiritu« sind Sätze, von denen sowohl der barocke Prunk wie der kontrapunktische, »gelehrte« Schulstaub völlig abgefallen sind; und das gilt in vielleicht noch höherem Maß von dem Sanctus und der Doppelfuge des Osanna. Es ist nicht Bach allein, der hinter diesem Werke steht, sondern das ganze 18. Jahrhundert, auch die großen Italiener – vielleicht Alessandro Scarlatti, Caldara, Händel, Porpora, Durante: man kann keine bestimmten Namen herausgreifen, weil Mozart eben sein Jahrhundert zusammenfaßt und dessen musikalische Sprache transfiguriert. Wieder zeigt sich, daß man ein solches Werk nicht schreiben kann ohne eine große künstlerische Erbschaft – eine Erbschaft freilich, die man in der Lage sein muß anzutreten. Das »Italienische« lebt vornehmlich im Sopransolo des Laudamus, dem Duett der beiden Soprane des Domine, mit der feinsten kontrapunktisch-obligaten Streicherbegleitung, dem konzerthaften Terzett (zwei Soprane, Tenor) des Quoniam, das mit demselben Thema beginnt wie das »kontrapunktische« Finale des Klavierkonzertes K. 175. Mozart
[396] kümmert sich nicht um »Stilreinheit«, genau so wenig wie Bach sich um sie kümmerte, als er zwischen die beiden mächtigen und starren Kyrie seiner Messe das freundlich duettierende Christe einlegte. Zum größten Stein des Anstoßes für Puristen der Kirchenmusik ist das »Et incarnatus« Mozarts geworden, eine Sopran-Arie mit Streichern, drei obligaten Bläsern und – was meist vergessen wird – obligater Orgel, die Mozart nur nicht mehr notiert hat. Es ist Rückkehr zum Incarnatus der c-moll-Messe des Knaben, zugleich Erinnerung und Meisterschaft, Erinnerung an Italien: ein Weihnachtsgesang, Vorstellung der Krippe, in der das göttliche Kind liegt, angebetet von der Jungfrau, im Hintergrund die musizierenden Engel; von überwältigender Süßigkeit und Naivität. Wer dergleichen ablehnt, möge ruhig auch eine Rundtafel des Botticelli mit der Geburt Christi und florentinischen Engeln aus der Kirche verbannen: sie ist genau so profan. Wie das Credo sonst ausgefallen wäre, können wir kaum ahnen: ein paar Skizzen zum »Et in Dominum« und Crucifixus geben nur ein paar Takte. Den Beginn bis zum Incarnatus hat Mozart in einem mächtigen kantatenhaften Ansturm genommen, offenbar um sich in den andern Abschnitten um so mehr ausbreiten zu können.
Etwa anderthalb Jahre später, im März 1785, hatte Mozart an einem der Konzerte der Musiker-Sozietät während der Fastenzeit sich mit einer Komposition zu beteiligen und die zweite Hälfte dieser »Academie« mit Musik zu füllen. Er verwandte dafür das Kyrie und Gloria dieser Messe, das heilige Latein verwandelt sich in devotes Italienisch, und aus der Messe wird ein Oratorium, der »Davidde penitente«, der »Reuige David«. Wer den Text untergelegt hat, ist nicht bekannt; doch konnte diese Arbeit nur im engsten Einvernehmen mit Mozart gemacht werden, und so liegt es nahe, an da Ponte zu denken, den Poeten der italienischen Oper, mit dem Mozart damals ja längst bekannt war. Da Ponte, wenn er es war, hat wie immer sich sehr geschickt aus der Affäre gezogen, und doch ist dieser »David« ein höchst zwiespältiges Werk geworden – da Mozart zu diesen Worten niemals seine gewaltige Musik geschrieben hätte. Es ist eben ein Unterschied, ob dieselben Noten zum
[397] Kyrie und »Christe eleison« erklingen oder zu den Worten »da mali oppresso«; die wundersame, tröstliche Wendung vom c-moll zum Es-dur verliert ihre himmlische Wirkung. Es ist ein Unterschied, trotz ähnlichen Sinnes, ob es heißt »Gloria in excelsis Deo« oder »Cantiam le lodi ... del Signor amabilissimo«. Es ist ein sonderbarer David, der singt: »Se palpitate assai, è tempo da goder.« Mozart muß das gefühlt haben, und so hat er auch kein Bedenken getragen, nach dem Duett »Sorgi, o Signore« (= »Domine Deus«) eine Arie für Adamberger, seinen Belmonte, und nach »Se vuoi puniscimi« (= dem ungeheuren »Qui tollis«) eine zweite Arie für Caterina Cavalieri, die erste Konstanze seiner »Entführung«, einzulegen. Die erste ist eine Aria mit vier konzertierenden Bläsern, wie die »Martern-Arie« der »Entführung«, die zweite eine echte Bravour-Aria mit ausschweifender Koloratur; innerhalb der Grenzen des Oratoriums, des geistlichen Ersatzes der Oper, war das durchaus statthaft. Aber niemand wird hoffentlich auf den Gedanken kommen, nunmehr den »Davidde penitente« an Stelle der Messe wieder lebendig zu machen, da er ja ein »Mozart letzter Hand« ist. Warum nicht bei Kyrie und Gloria bleiben? Warum den herrlichen Torso ergänzen? Auch Michelangelo hat nicht gewagt, dem griechischen Torso des Belvedere Kopf und Beine anzusetzen.
Damit ist Mozarts Tätigkeit als Kirchenmusiker wieder für viele Jahre beendet. An die Stelle der Kompositionen für die Kirche treten die Kompositionen für die Loge, in denen Mozart ganz frei war und sich mit keinen Herkömmlichkeiten auseinanderzusetzen hatte. Denn in Dingen der Musik hatte das Freimaurertum kein Rituell. Mozart hatte sich vermutlich seine eigene musikalische Symbolik zu schaffen: den Rhythmus des dreimaligen Anklopfens, der dann in der »Zauberflöte« so hochsymbolische Bedeutung gewinnt; die das Band der Freundschaft symbolisierende Bindung zweier Noten, die ihre Rolle bereits in dem ersten Werk spielt, das Mozart für die Loge schrieb: der »Gesellenreise« (K. 468), einem dreimal wiederholten Lied mit Klavier, zur Begrüßung der Brüder zum zweiten Grad ihrer Laufbahn:
[398] Ein anderes musikalisches Symbol der Brüderlichkeit sind die parallelen Terzengänge, die das Lied »Zum Schluß der Loge« in Mozarts letzter Freimaurer-Komposition (K. 623) charakterisieren: »Laßt uns mit geschlungnen Händen«. Symbolischen Sinn hat ferner die Tonart: das heroisch-milde, das »humane« Es-dur, das in Mozarts Kantate zu Ehren des Ignaz von Born, des Vorstehers der Loge zur wahren Eintracht, »Die Maurerfreude« (K. 471) angeschlagen wird – im übrigen eine richtige Vereinskomposition, wie leider auch die eben erwähnte, anspruchsvollere »kleine Freymaurer-Kantate: Bestehend aus einem Chor, einer Arie, zwei Recitativen, und einem Duo für Tenor und Baß«, von 1791, zur Einweihung eines Logentempels geschrieben. Endlich ist es, natürlich, der Klang der Männerstimmen und vor allem der Holzbläser, so daß man Klarinetten und Bassetthörner als die eigentlichen Logeninstrumente bezeichnen könnte. So sind die beiden schönsten Freimaurer-Kompositionen Instrumentalwerke: das Adagio für zwei Klarinetten und drei Bassetthörner (K. 411) und die im biographischen Teil bereits erwähnte »Maurerische Trauermusik« (K. 477) auf den Tod zweier hocharistokratischer Brüder von Ende 1785, in der neben den Streichern die Oboen, Klarinette, Bassetthorn, Kontrafagott und zwei Hörner (oder zwei weitere Bassetthörner) den Ton angeben, im wahrsten Sinn des Wortes. Jenes Adagio ist offenbar gedacht für einen feierlichen Einzug der Logenbrüder; der freimaurerische Klopfrhythmus ist leise angedeutet; und vermutlich ist es das Einleitungsstück zu einem ganzen instrumentalen Logenritual, von dem weder ein Allegro (K. Anh. 95) noch ein wundersames Adagio (K. Anh. 93) fertig geworden sind, wohl aber ein als Kanon (welch schönes Symbol!) veröffentlichtes Adagio für zwei Bassetthörner und Fagott (K. 410). Es ist einer der herrlichsten Sätze Mozarts.
Die »Maurerische Trauermusik« rechtfertigt viel leicht am meisten die scheinbar seltsame Tatsache, daß wir die Logenkompositionen
[399] Mozarts ins Kapitel Kirchenmusik einreihen. Sie ist kein Kirchenwerk, aber eine religiöse Komposition; sie ist das Band zwischen der solennen Messe in c-moll und dem Requiem. Die gleiche Tonart wie im Kyrie der Messe; was die Posaunen in der Messe andeuten, das sagen jetzt die Bläser aus in einem feierlichen Choral oder Marsch: Trauer, Ernst, Gefaßtheit, Trost. Wenn man will, kann man alle Symbole des Freimaurertums in den 69 Takten finden: die parallelen Terzen und Sexten, die Bindungen, den Klopfrhythmus. Es ist der Gedanke an den Tod, der schon das Kyrie beherrscht hatte; nur daß das Kirchliche jetzt gewandelt ist ins Maurerische: aber hinter dem Kirchlichen und Maurerischen steht das gleiche große, menschliche Gefühl Mozarts. Wir werden sehen, daß das Stück, das in der Verwendung des »Chorals« auf Mozarts Bachstudien zurückgeht, gleichzeitig eine Brücke ist zur ernsthaftesten Szene, der feierlichsten Situation der »Zauberflöte«: Kirchlich Weltlich fließen in eins zusammen.
So nehmen auch die beiden letzten Kirchenwerke Mozarts eine sonderbare Stelle in der Kirche ein: das »Ave verum« für vier Singstimmen und Streicher (K. 618) und das Requiem für Soli, Chor und Orchester (K. 626); das eine klein und vollendet und das andre groß und unvollendet, in jedem Sinn. Die kleine Motette, vermutlich komponiert zum Fronleichnams-Gottesdienst für den Schullehrer und Chorregenten Anton Stoll in Baden bei Wien, der auch sonst Kirchenwerke Mozarts wieder hervorholte und auf Konstanze ein bißchen aufpaßte, ist eins der bekanntesten Werke Mozarts geworden – so bekannt, daß man neben seiner seraphischen Schönheit seine Meisterschaft nicht mehr sieht: die »zweite« Einfachheit, die Vollkommenheit der Modulation und Stimmenführung, welche leise Polyphonie als letzte Steigerung einführt. Auch hier fließen das Kirchliche und Persönliche in eins zusammen. Die Stilfrage ist gelöst.
Was endlich soll man sagen über das Requiem, nicht bloß Mozarts letztes Kirchenwerk, sondern sein letztes Werk überhaupt? »Letztes Werk« – das ist ja ein Begriff, an den sich alle möglichen Assoziationen ankristallisieren, und zumal bei diesem, das unter so »romantischen« Umständen entstand und das zu
[400] vollenden der Tod verhinderte. Über kein Werk Mozarts ist mehr Tinte vergossen und keines ist unrichtiger beurteilt worden – zumeist von Leuten, die kein andres der Kirchenwerke Mozarts kannten, nicht die c-moll-Messe, nicht die Litaneien, keine der C-dur-Messen von 1776. Und in der Tat, es ist schwer, ganz nüchtern zu bleiben und die einfachen Tatsachen sprechen zu lassen.
Die Messe ist bestellte Arbeit, aber Mozart kannte angeblich den Besteller nicht. Es war ein Graf Franz Walsegg zu Stuppach, ein Musikdilettant, der sich gern mit fremden Federn schmückte und in seinem Schloß und seiner Schloßkapelle fremde Kompositionen aufführte, die er als eigenes Machwerk ausgab. Er hatte vor Jahren seine Frau verloren und dachte an ein Requiem für sie. Im Juli 1791 schickte er seinen Verwalter Leutgeb zu Mozart, mit dem Antrag, ein solches zu schreiben. Mozart begann und skizzierte gegen 40 Seiten der Partitur; dann mußte er die Arbeit liegenlassen zugunsten der »Clemenza di Tito« und der »Zauberflöte«. Mehr als das Requiem und Kyrie konnte er nicht vollenden, sieben Stücke des »Dies irae« bis zum Hostias nur skizzieren: das heißt Singstimmen, Baß und Andeutungen der Orchestrierung in die Partitur eintragen. In solcher Gestalt waren auch das »Domine Jesu Christe« und das Hostias vorhanden; die drei letzten Sätze fehlten ganz. »Die Witwe, in der Bedrängnis, daß der Besteller, wenn ihm nicht das vollendete Manuskript eingehändigt würde, nicht nur das rückständige Honorar nicht zahlen, sondern sogar Erstattung des gezahlten verlangen dürfte, wendete sich zunächst an Joseph Eybler und andere Musiker, endlich an Süßmayr, es zu vollenden ... Süßmayr fand sich bereit dazu, kopierte zunächst alles, was Mozart nur angelegt hatte, und trug dann in diese seine Kopie die fehlende Instrumentation so ein, wie es ihm der Absicht Mozarts am meisten zu entsprechen schien. Süßmayrs bestimmter Angabe zufolge hat er dann den Schluß des Lacrimosa, das Sanctus, Benedictus und Agnus Dei ganz neu verfertigt und die Fuge des Kyrie mit den Worten ›Cum sanctis‹ wiederholt. Das so vervollständigte Werk wurde nun ... dem Besteller abgegeben« (Köchel, Seite 809). Es war ein glatter Betrug, den Konstanze so lange als möglich aufrechterhielt, bis
[401] der redliche Süßmayr den Sachverhalt in einem Brief (8. Februar 1800) an Breitkopf & Härtel aufklärte – ohne Erfolg, denn die romantische Sentimentalität des 19. Jahrhunderts wollte diese Aufklärung nicht Wort haben.
Das Requiem ist ein Torso geblieben in ganz anderm Sinn als die große c-moll-Messe. In dieser haben wir das ganze Kyrie, das ganze Gloria, das ganze Sanctus und Benedictus und alle diese Sätze bis zum kleinsten Detail in authentischer Fassung. Beim Requiem kommen schon vom »Dies irae« an die kleinen Zweifel, und nach den ersten acht Takten des Lacrimosa die großen. Und doch wissen wir vom ersten Takte an des Introitus: »Requiem aeternam dona eis, Domine«, über Mozarts Absicht Bescheid: über seine Stellung zum Tod. Sie ist nicht mehr ganz kirchlich, sie ist gemischt mit Freimaurerischem. Ist es nicht auffällig, daß in diesem Introitus die zwei Holzbläserpaare – Bassetthörner und Fagotte – dominieren und den Streichern fast nur eine Begleitrolle zufällt? Es herrscht in diesem Introitus nicht durchaus die milde Resignation des Beginns: bei den Worten »Exaudi orationem meam« scheint die gezackte Begleitungsfigur des Orchesters mehr Auflehnung als Bitte zu symbolisieren. Als Kyrie entwickelt sich dann eine Fuge über zwei Themen, von denen eins den verminderten Septimenschritt aufweist, der uns bereits in dem Laudate der Vesper von 1780 begegnet ist. Sie ist keine schulgerechte, »gelehrte« Doppelfuge; kein andrer Meister der Zeit hätte sich so tief in die dunkleren Regionen der Harmonik hineingewagt. Dennoch ist es keine ganz Mozartsche Fuge: ein Rest von Händelschem Archaismus hängt ihr an; es ist eben nicht ein eigenes, persönliches Thema, das Mozart hier bearbeitet, sondern ein entlehntes. Und es ist ein Unglück, daß Süßmayr eine Wiederholung gerade dieses Satzes an den Schluß des ganzen Werks hat stellen müssen. Auf den großartigen Chorsatz des »Dies irae« – großartig, da er dramatisch und kirchlich zugleich ist – folgt dann wieder der fragwürdige des »Tuba mirum«, in dem der Text auf die Soli konzertierend verteilt ist und in dem Süßmayr die obligate Soloposaune des Beginns noch weiterführt, wenn sie alle Auferstandenen schon längst vor Gottes Thron gerufen hat. Aber diese unzweifelhaft Mozartsche Soloposaune ist selber eine
[402] peinliche Tatsache – man wird den Eindruck nicht los, daß der himmlische Bläser sich ein wenig produziert, anstatt den schrecklichen Moment des Weltgerichts schrecklich anzukündigen.
Im »Rex tremendae majestatis«, im Recordare, im Confutatis und dem Lacrimosa (in dem er abbricht) – vier zusammenhängenden Sätzen – hat Mozart sich selber gefunden; sie sind auf der herrlichen Höhe der c-moll-Messe. Der Anruf des Weltenrichters geht vom Aufschrei über zur flehentlichen Bitte; und in dem wundersamen Satz des Recordare ist das Flehen der Soli an den »Mittler« bereits erhört, er gehört zum Kunstvollsten, Reinsten, Beseligendsten, was Mozart je geschrieben hat. Auf das dramatische Bild des Confutatis folgt endlich das trübe und schreckliche Crescendo des Lacrimosa, mit dem Mozart abbricht und das er sicherlich breiter entwickelt hätte, als Süßmayr es getan hat. Das Domine und Hostias hat Mozart motettisch gehalten, das Domine contrapunktisch, das Hostias homophon, und beide Sätze mit einer etwas neutralen chromatischen Fuge – »Quam olim Abrahae« – abgeschlossen, die wiederum eines archaistischen Beigeschmacks nicht entbehrt. – Mit dem Rest des Werkes brauchen wir uns nicht zu befassen, daß er von Süßmayr stammt; nur für das Benedictus haben Süßmayr sicherlich sechs oder acht Takte in Mozarts Handschrift vorgelegen, die er dann weiter geführt hat. Er hat dann die Proportionen des Werkes gründlich verdorben durch die Osanna-Fuge, die, ganz abgesehen von dem nichtssagenden Thema, viel zu kurz ist. Und dennoch: durch die Wiederkehr des Requiem zu den Worten »Lux aeterna« wird das Werk für Mozart wieder gerettet; wird die Zwiespältigkeit des Ganzen einigermaßen – nicht ganz – überwunden. Der Gesamteindruck ist zwiespältig, aber Mozarts Absicht ist klar. Der Tod ist kein Schreckbild, sondern ein Freund. Es ist das Bild des Todes, wie es auch Schubert gemalt hat. Nur einer der Späteren hat sich noch zur Höhe dieser Auffassung emporschwingen können: Giuseppe Verdi im Requiem für Alessandro Manzoni.