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[289] »Kinder, kehret ins Leben zurück! Eure Tränen trockne die frische Luft, die um das schlängelnde Wasser spielt. Entflieht der Nacht! Tag und Lust und Dauer ist das Los der Lebendigen!«
So ruft der Chor im Requiem Mignons den trauernden Knaben zu. Und so klingt es uns auch aus dem beschwingten Tanz von Amoretten entgegen, den Brahms in seinen »Liebesliedern« op. 52 entfesselt. Wir denken daran, daß diese, in heller Luft aufjauchzenden Musikstücke dem »Deutschen Requiem« auf dem Fuße folgten, und begreifen das Befremden, mit welchem das Publikum des Jahres 1869 den düsteren Totenmarsch von dem bunten, übermütigen Lebensreigen abgelöst sah: Der Seelenführer, der eben erst den Geist der Mutter heimgeleitet hat, schlägt mit dem geflügelten Schlangenstabe den Dreiviertel-Takt und spielt dem verliebten Völkchen Walzer auf!
Wenn es so gewesen wäre – in der Tat wurde das flotte Opus fast unmittelbar nach dem letzten Abschluß des Requiems im Sommer 1868 in Angriff genommen und im Jahre darauf vollendet – der jähe Umschwung der Stimmung hätte für den Psychologen nichts Befremdendes oder Verletzendes. Gerade bei kräftig und tief empfindenden Naturen kommt ein solcher Wechsel auf Grund einer notwendigen Reaktion des Gemütes häufig vor. Die Alten wußten, warum sie der Tragödie das Satyrspiel nachschickten. Wahrscheinlich aber waren Brahms viele der reizenden Tanzmelodien schon durch den Sinn gegangen, als er die Walzer für Pianoforte zu vier Händen op. 39 komponierte; der Tod der Mutter und die Wiederaufnahme des Requiems mögen damals den Fluß seiner Erfindung unterbrochen, ihm eine andere Richtung gegeben haben. Entscheidend für die Konzeption der Liebeslieder im Walzertakt war ohne Zweifel das Zusammentreffen seiner Wiener [289] Schubert-Studien mit seiner Bekanntschaft der Daumerschen Gedichtbücher. Der »Hafis« führte ihn zur »Polydora«. Das erste Lied, dessen Text Brahms dem »Weltpoetischen Liederbuch« entnahm: »Die Kränze«, stammt aus dem Frühjahr 18691. Nachdem er die »antiken Musen« absolviert hatte, geriet er an die »Völkerstimmen in bunter Reihe« nebst deren Fortsetzung und fand im zweiten Bande der »Polydora« bei den »russisch-polnischen Kleinigkeiten« folgende Anmerkung des Dichters: »Dergleichen Liederchen sind namentlich solche, die zu den Tanzbelustigungen der genannten Völker gehören. So haben die Kosaken zu ihren bewegteren Tänzen gewisse eigene Gesänge und Weisen, welche sie Schäumer, Brauselieder oder Tanzbrauser nennen; ähnlicher Art sind die Tanzliederchen, welche von den polnischen Landleuten gedichtet und gesungen werden. Eigen ist diesen Gedichten, daß sie öfters in zwei Teile zerfallen, wovon der erste irgend eine Naturanschauung enthält, zu welcher der andere ein soziales Moment hinzufügt, was, bei treffender und einleuchtender Analogie, sehr schöne Effekte zu machen imstande ist.«
Gleich das erste solche Stück, welches die Reihe bei Daumer eröffnet, bietet ein Musterbeispiel für die von ihm aufgestellte Theorie:
»O, wie sanft die Quelle sich
Durch die Wiese windet:
O wie schön, wenn Liebe sich
Zu der Liede findet!«
Brahms hat den Text zuerst zu dem Rätselkanon benutzt, den mir im IV. Kapitel mitgeteilt haben2, dann aber als Nr. 10 den Liebesliedern einverleibt. Er ließ sich die ethnologische Anmerkung [290] Daumers gesagt sein, übertrug sie ins Künstlerische und schuf, indem er die poetische zur musikalischen Illustration, das Epigramm zum Lied erweiterte und vertiefte, das unvollkommene Gedicht zum vollkommenen idealen Reigengesang um. Praktisch ist dieser »Schäumer« freilich so wenig zu verwerten wie die anderen der achtzehngliederigen Reihe – wo wäre das Soloquartett von Sängern und Tänzern zu Hause, das sich bei seiner Belustigung durch die harmonischen Schwierigkeiten, rhythmischen Freiheiten und Komplikationen der Stimmführung nicht gehemmt und verwirrt fühlte? So weit, wie sich die Daumerschen Texte von den ihnen zugrunde liegenden Volksliedern entfernen, so weit und noch weiter entfernt sich Brahms von den nationalen Tänzen, die jene einmal begleiteten. Ja, er sagt sich völlig von ihnen los und bringt, indem er den Dreiviertel-Takt in Permanenz erklärt, die Russen, Polen, Magyaren alle unter einen Hut. Die fremden Völker mußten es sich gefallen lassen, mit dem deutschen Walzer germanisiert zu werden; nur gewisse, national gefärbte Anklänge verraten, daß der Komponist slavische und zigeunerische Elemente in sich aufgenommen hat, die sich übrigens auch schon bei Beethoven und Schubert, wie bei den Klassikern des Wiener Walzers, den Strauß und Lanner, nachweisen lassen. Ohne die befruchtenden Einflüsse des Wiener Klimas sind die »Liebeslieder« schlechterdings nicht zu denken; »Am Donaustrande, da steht ein Haus«. Aber auch nur ein Brahms konnte ihren Flor aus den Keimen hervorziehen, die er in das ihm günstige Erdreich senkte. Jedes einzelne Lied trägt neben dem ihm eigenen poetisch-musikalischen Charakter die bestimmenden Zeichen der Brahmsschen Tonmuse. An Süßigkeit der Melodie geben sie alle zusammen den drei Quartetten op. 31 nichts nach; an harmonischem Reichtum, Freiheit des Rhythmus und Zierlichkeit des Satzbaues übertreffen sie jene noch. In dem »Wechsellied zum Tanze« erkennen wir das selbstgeschaffene Vorbild der »Liebeslieder« und weisen die oft gedankenlos ausgesprochene Behauptung zurück, Brahms habe sich mit einer Nachahmung des »Spanischen Liederspiels« von Schumann versucht. Nicht die dort durch das Goethesche Doppelpaar der Gleichgültigen und Zärtlichen gebotene, hier beibehaltene, zuweilen auch in Duette und Sologesänge aufgelöste Vierstimmigkeit der Solopartien, sondern [291] die innige Verflechtung der Singstimmen mit der vierhändigen Klavierbegleitung ist das punctum saliens. Sie geht so weit, daß Brahms es den Musizierenden anheim geben konnte, ob sie die Walzer nur spielen oder auch singen wollten. In der Originalausgabe heißt es, als würde der Nachdruck auf das Klavier gelegt: »Walzer für das Pianoforte zu vier Händen (und Gesang ad libitum)«.
Die Klammer hat schon manchen beirrt. Nicht nur, daß man die somit zu beliebiger Disposition gestellten Singstimmen für überflüssig hielt, meinte man auch, in ihnen eine sekundäre, belanglose Zutat erblicken zu sollen. Hermann Deiters dachte sogar daran, als er das Werk in der »Allgemeinen musikalischen Zeitung« anzeigte,3 dessen zwieschlächtiges Wesen zum Gegenstand oder Ausgangspunkt einer prinzipiellen Erörterung zu machen, die ihre Spitze gegen die Anmaßungen der auf das Finale der Beethovenschen Chorsymphonie pochenden Verächter der reinen Instrumentalmusik kehren sollte. Brahms habe, indem er Stücke für das Instrument und den Gesang zugleich komponierte, den Gesang aber, so selbständig und ausdrucksvoll er ihn auch behandle, doch für nur willkürlich betrachtet wissen wolle – so folgert Deiters – deutlich genug angezeigt, daß ihm zur Aussprache seiner künstlerischen Intention, der ihn bewegenden und zum Schaffen erregenden Empfindungen das Instrument vollkommen genüge, daß es ihm völlig alles sage, was er habe sagen wollen, daß zum vollständigen Hervortreten der künstlerischen Idee das Hinzukommen des Gesanges durchaus unwesentlich sei. Dieser Meinung war nun Brahms in dem besonderen Falle gerade nicht. Wie er zur Komposition der Walzer durch die Daumerschen Texte angeregt worden war, so wollte er auch das Publikum die Gedichte zuerst lesen lassen, ehe es die Walzer spielte.
Ein Blick auf die Skizzen zu den »Liebesliedern« verschafft sofort Klarheit darüber, daß das Dichterwort die Melodie herbeigerufen hat, woran ohnehin eigentlich niemand ernsthaft zweifeln kann. Die Skizzenblätter, welche sich im Nachlaß des Meisters vorfanden4, sind in mehr als einer Beziehung von hohem Interesse. [292] Nur dank einer liebenswürdigen Schwäche des Komponisten, mit wenigen anderen ihrer Art dem Feuertode entgangen, dem Brahms sonst alles zu überantworten pflegte, was an die Arbeit und ihre Mühen erinnerte, scheinen sie durch die Delikatesse ihres Äußeren auf die Grazie ihres Inhalts hinzudeuten.
»Ich will gestehen,« schreibt Brahms an Simrock, als er die Korrekturbogen des Werkes empfing, »daß ich bei der Gelegenheit zum ersten Male gelächelt habe beim Anblick eines gedruckten Werkes von mir.« Dasselbe zufriedene Lächeln mag auch den Skizzen das Leben geschenkt haben. Die allerliebsten Dinger sahen gar zu appetitlich aus. Man glaubt den eilig auf lose, sauber rastrierte Blätter hingeworfenen Notenköpfen und Buchstaben die selige Hast des glücklichen Fanges anzumerken. Schon lange mögen ihre Melodien, mehr oder weniger faßbar, den lauernden Vogelsteller umgaukelt haben, bis die rechte Stunde ihm gleich den ganzen Schwarm ins Netz trieb, so daß er Mühe hatte, sie alle festzuhalten. In diesem Sinne hatte sich Brahms zu Rosa Girzick geäußert, als sie im Sommer 1868 mit den Schülern Stockhausens durchs Ahrtal spazieren gingen.5 Welche Wonne, das Heftchen in Kleinquart vollzuschreiben und wieder auseinander zu nehmen, die Blätter zu sichten und zu ordnen, Untaugliches auszuscheiden, Passendes zusammenzuschließen und dann zuletzt die schönste Kollektion zu Stande zu bringen, wie sie heute jedermann zum Genusse bereit liegt!
Überall dominieren in den Skizzen die Singstimmen mit der Melodie; oft ist die Begleitung nur angedeutet, wo sie besonders charakteristisch hervortritt, manchmal bleibt sie ganz aus oder beschränkt sich auf die Baßnoten6. Korrekturen kommen wenig vor, ein Zeichen, daß Brahms, nach seiner Gewohnheit, im Kopfe bereits gehörig vorgearbeitet hatte, ehe er noch den ersten Entwurf notierte; in der Skizze steckt das fertige Werk. Kurze Introduktionen zu den einzelnen Liedern, wie die zu »Am [293] Donaustrande«, fehlen bei anderen. Die ersten beiden Takte von Nr. 1, welche den Charakter des Walzertanzes mit dem 1–2–3 des Akkompagnements, dem és-tam-tam des Vater Strauß, ein für allemal feststellen, oder die drei anstürmenden Achtel in Nr. 2 und ähnliches der Art, aber auch das reizende »sink-sink«, der Finkenruf, der den »hübschen kleinen Vogel« von Nr. 6 herbeilockt, sind Zutaten der späteren Ausarbeitung. Mit dem aus drei Vierzeilern bestehenden Texte des ebengenannten Liedes wollte sich Brahms erst kürzer abfinden; der kosende F-dur-Satz »Der Vogel kam in eine schöne Hand« lag nicht im ursprünglichen Plan, sondern wurde als neue Partie dem mehrgliederigen Walzer eingefügt. Welches Blatt immer wir aufschlagen mögen, nirgend spricht ein Anzeichen dafür, daß die Melodie früher da war als der Text. Auch hier kann es heißen: im Anfang war das Wort, und das Wort half die Melodie bilden. Allerdings ist dieser Prozeß selten so klar zu durchschauen, wie bei dem köstlichen: »Nein, es ist nicht auszukommen mit den Leuten«, das so klingt, als ob es gar nicht anders gesungen und gesagt werden könnte. Nicht aus Pedanterie, sondern der schalkhaften Wirkung wegen, hat Brahms die Melodie zur viertaktigen Periode ergänzt, indem er das Klavier den letzten Takt auf einer höheren Stufe wiederholen läßt. Dieses Echo in der Terz drückt humoristisch das entrüstete Einverständnis aller Beteiligten aus. Im Mittelsatze desselben Liedes (»Bin ich heiter«) werden zwei Takte angehängt, die zur Wiederholung überleiten, um die Zuhörer recht nachdrücklich auf den Nonsens des Vorwurfes zu stoßen: »bin ich still, so heißt's, ich wäre irr aus Liebe«. »Irr aus Liebe« singt das Quartett zweimal, als wolle es sagen: »hat man je solchen verleumderischen Unsinn gehört?« und geht im Crescendo die Skala hinunter, um dann mit doppelter Wut von neuem loszubrechen: »nein es ist nicht auszukommen.« Wer die »Liebeslieder« auf ihre Architektonik hin näher prüfen will, wird eine Menge ähnlicher geistreicher Züge wahrnehmen und ebenso viele Feinheiten darin entdecken, wie in ihrer Rhythmik und Harmonik.
Über Titel und Ordnung seines op. 52 konnte Brahms lange nicht ins Reine kommen. Zwei Hefte zu neun, drei zu sechs oder eins zu achtzehn Liedern? »Liebeslieder« oder bloß »Walzer« [294] für das Pianoforte zu vier Händen und (in Parenthese) »mit Gesang«, oder endlich »und Gesang ad libitum«? (Brief an Simrock vom 28. August 1869). Er hätte den Titel gern umschrieben und würde eine »Verschleierung« des Wortes vorschlagen, wenn Simrock nicht sehr einfache Titel hätte. Vielleicht auch würde es genügen, wenn beim Annoncieren der Novität gemeldet würde, die Walzer könnten ohne Gesang genossen werden?
Aus alledem ist ersichtlich, daß Brahms dem Verleger gefällig sein und den Absatz des Artikels möglichst erleichtern wollte. Walzer für Klavier werden eher gekauft als Vokalquartette für Solostimmen und Pianoforte zu vier Händen. Nur an der Sache selbst wünschte Brahms nichts geändert. In einem folgenden Briefe heißt es: »Die Walzer müssen eben so erscheinen, wie sie sind. Wer sie ohne Gesang spielen will, muß doch fürs erste aus der Partitur spielen. Durchaus dürfen sie fürs erste nicht ohne Singstimmen gedruckt werden. So müssen sie den Leuten vor die Augen kommen. Und hoffentlich ist es ein Stück Hausmusik und wird rasch viel gesungen ... Später natürlich gern für zwei Hände. Auch passen manche trefflich für Kleinchor und Orchester als zierliche Konzertnummern. Einstweilen heißt es nicht Chorgesang, sondern bloß Gesang«7. Und noch einmal [295] auf die praktische Seite des Geschäfts zurückkommend, seufzt er: »Es wäre doch schade, wenn das lausige Arrangement aus praktischen Gründen nötig wäre – der Text, die ganze Liebelei ist so nett!«
Hinterher ärgerte sich Brahms, als er sah, welche Mißverständnisse der Titel verursachte, über das »ad libitum«. Auf sein ausdrückliches Geheiß sind die »Neuen Liebeslieder«, die er sechs Jahre später herausgab, ohne die fatale Klammer erschienen. Das Manuskript, das er am 30. Mai 1875 von Ziegelhausen an Simrock schickte, begleitete er mit folgenden Zeilen: »Es wäre wirklich zu weitläufig, wollte ich versuchen, Ihnen auseinander zu setzen, weshalb ich so schwer zum Entschluß komme, sie [die ›Neuen Liebeslieder‹] Ihnen zu senden – fast so weitläufig wie die Erklärung, weshalb ich so schwer, selten und ungern neue Sachen am Klavier mitteile – wonach sich zu richten und vor Übelnehmen zu hüten! Das ›ad libitum‹ auf dem Titel muß diesmal wegbleiben, so sein arbeitet man nicht jedesmal.« So erhielt denn auch das op. 65 den zutreffenderen Titel: »Neue Liebeslieder, Walzer für vier Singstimmen und Pianoforte zu vier Händen.« Brahms begründete seine Sinnes-und Titel-Änderung mit der besonders seinen Arbeit der neuen (oder alten?) Walzer, als ob in beiden nicht selbständige Mittelstimmen, kanonische Imitationen und Kontrapunkte verschiedener Art vorkämen. Allerdings fällt die Arbeit dort ihrer Feinheit wegen nicht so stark ins Auge wie hier; auch hielte es in der Tat manchmal schwer, die Singstimmen ohne empfindliche Einbuße wegzulassen. Ein genereller Unterschied aber besteht zwischen beiden Sammlungen [296] nicht, man müßte ihn denn darin suchen wollen, daß die »Neuen Liebeslieder« weniger auf populäre Wirkung ausgehen. Sie geben sich vornehmer, exklusiver, und wachsen darum manchem Musiker besonders ans Herz, während der Laie und das allgemeine Publikum der melodischen Frische und volkstümlich naiven Unmittelbarkeit der älteren den Vorzug geben. Es verhält sich ähnlich mit ihnen wie mit den »Ungarischen Tänzen«, von denen die letzten beiden, 1880 erschienenen Hefte auch den Eindruck des »Nachkomponierten« machen, obwohl sie zum Teil aus derselben frühen Zeit herstammen und ebenso schön sind wie die anderen. Nr. 5 und 17 der »Neuen Liebeslieder« kommen bereits in den Skizzen zu op. 52 vor. Das vom Duett zum Quartett übergehende »Flammenauge, dunkles Haar« kann bei der Breite seines Vortrags und der Kunst seiner Stimmführung als Muster der neuen Sammlung gelten. Mögen wählerischer Geschmack und Liebhaberei zu Gunsten der einen oder der anderen Reihe entscheiden – eines hat die zweite vor der ersten voraus: das lieblich-majestätische, »Zum Schluß« überschriebene Quartett, welches beiden Zyklen das wundervollste Ziel setzt, das würdigste Ende bereitet. Hat der Komponist sich vorher vom Dichter auf der Landkarte der »Polydora« bis zu den Türken und Persern verleiten lassen, so wird nun der Dichter vom Komponisten wieder sanft ins Vaterland zum intellektuellen Urheber der deutschen Weltliteratur, zu Goethe, zurückgeführt, der mit den abschließenden Distichen aus »Alexis und Dora« die Musen verabschieden hilft und nach Gebühr das letzte Wort behält: »Nun, ihr Musen genug!«
In Form und Ausdruck unterscheidet sich dieser, den süßesten Wohllaut ausströmende Epilog wesentlich von den vorhergehenden Liedern, und dennoch scheint ihn ein geheimes Band mit ihnen zu verbinden. Durch die neun Viertel seines ruhigen Zeitmaßes zählt man noch immer die dreimal drei Viertel leise hindurch; die irdischen Walzer haben sich in den See einer himmlischen Ciacona8 ergossen, um sich dort zu sammeln. So mögen sich selige Geister im Frieden ihres Himmels an Lust und Leid [297] der Erde erinnern. Das verklärte Quartett der Sänger schwebt losgelöst und scheinbar gänzlich unabhängig von seiner Begleitung über dem Basse hin, der es doch so fest bindet. Denn die Ciacona bewegt sich auf einem Basso ostinato von sechs Noten; das Baßthema erscheint zuerst viermal in je zwei Takten, zuletzt dreimal mit einer zweitaktigen Schlußkoda. Zwischen beiden Teilen, die in F-dur stehen, liegt ein kanonisch geführter selbständiger Mittelsatz in Des, der in schmerzlichen Tönen von den unheilbaren Wunden der Liebe singt (»Heilen könnet die Wunden ihr nicht, die Amor geschlagen«), dann aber mit einer unbegleiteten, sanft hinschmelzenden Kadenz nach dem Repetitionsteile zurück moduliert (»Aber Linderung kommt einzig, ihr Guten, von euch«), so daß das Ganze sich der Liedform anpaßt. Im letzten Teil der Ciacona bringen die vier Singstimmen alle nacheinander in mehrfachem Kontrapunkt das Baßthema, als wollten sie noch einmal besonders darauf hinweisen, daß das unvergleichliche Schlußstück aus einem einzigen Gedanken entwickelt worden ist, der es verdient, von Harfen und Glocken zum Vater der Liebe hinausgetragen zu werden. Auch das an die Spitze des Stückes gestellte Ritornell:
verdankt seine Entstehung dem Baßfundament.
Und dieses Glockenmotiv ist identisch mit dem Choral aus der Rhapsodie op. 53:
diesem Hymnus der Menschenliebe, den Brahms, wie er sagte, als Nachspiel zu den Liebesliedern betrachtete. Am 5. Oktober [298] 1889, einem Tag vor dem Karlsruher Konzert, in welchem die Liebeslieder op. 52 zuerst aufgeführt wurden, schreibt er an Simrock: »Ich lege der Korrektur eine kleine Neuigkeit bei, für die ich in Anbetracht ihrer Vortrefflichkeit 40 Frds. begehre. Sie können sie sich anschauen, und als Verleger lockt Sie vielleicht die zierlichste Partitur, die es gibt9. ›Postludium zu des Verfassers Liebesliedernop. 52‹. Das Ding heißt: ›Rhapsodie (Fragment aus Goethes Harzreise im Winter) für eine Altstimme, Männerchor und Orchester.‹« Auch zu Reinthaler spricht er von dem »Postludium« und »Epilog zu den Liebesliedern«10.
Als Brahms im Juni 1868 nach Bonn gekommen und dort für einige Zeit seßhaft geworden war, verkehrte er viel mit dem rheinischen Schulmann, dem ausgezeichneten Philologen und Musiker Hermann Deiters, der, schon seit 1859 mit ihm bekannt, zu den frühesten und eifrigsten Verehrern seiner Kunst gehörte11. [299] Bei ihm lernte er zuerst das Bruchstück des Goetheschen Gedichtes als einen verwendbaren Musiktext in der Komposition des alten Reichardt kennen. »Ich erinnere mich«, schreibt Brahms im [300] September 1869 von Lichtenthal nach Bonn, »bei Ihnen ein Heft Lieder von Reichardt (möglicherweise Zelter) gesehen zu haben, in dem ein Absatz aus Goethes Harzreise (aber abseits wer ist's?) stand. Könnten Sie mir das Heft auf kurze Zeit leihen? Ich brauche kaum dazu zu schreiben, daß ich es eben komponiert, und gern die Arbeit meines Vorgängers sehen möchte. Ich nenne mein Stück (für Altsolo, Männerchor und Orchester), Rhapsodie!, glaube aber, daß ich diesen Titel auch schon meinem verehrten Vorredner zu danken habe.« Das ist richtig; mit dem von Brahms, wie er glaubt, nach Reichardts Beispiel ausgewählten Absatz aber hat es eine andere Bewandtnis. Der Kapellmeister dreier preußischer Könige, Johann Friedrich Reichardt, gab (d.d. Berlin 1. Oktober 1790) unter dem Titel »Cäcilia« im Selbstverlag eine Sammlung von Liedern und Auszügen aus größeren Kirchenstücken eigener Komposition heraus. Im dritten »Stück« (Heft) dieser Anthologie befindet sich, zusammen mit Reichardts berühmter Trauerkantate auf den Tod Friedrichs II. das »Rhapsodie« betitelte Bruchstück aus Goethes Harzreise. Es beginnt jedoch nicht mit den voraussetzungslosen Worten: »aber abseits, wer ist's«, sondern erst mit dem nächsten Absatz: »Ach, wer heilet die Schmerzen Deß, dem Balsam zu Gift ward?« und endet mit der Zeile »Neben dem Durstenden in der Wüste«, so daß das Ganze einen allgemein verständlichen, in sich abgeschlossenen Eindruck macht. Bei Reichardt vermissen wir den Zusammenhang mit den anderen Absätzen des Goetheschen Gedichtes nicht, bei Brahms sollen wir ihn [301] erst entbehren lernen. Einige Beurteiler des Werkes, das als Symphonie mit einer scharfen Dissonanz anfängt und als Solo- und Chorstück mit der vollkommensten Harmonie endet, haben an der abgerissenen Frage, deren »Aber« auf einen fehlenden Gegensatz zurückweist, eben so starken Anstoß genommen, wie an dem plötzlichen Vorhalt der Bässe, dem nicht jedes Ohr sogleich den Leitton von c-moll anhören kann. Nach ihrem Sinne hätte Brahms die Strophe »Leicht ist's, folgen dem Wagen, den Fortuna führt«, der lieben Deutlichkeit wegen mitkomponieren oder wenigstens den Versuch machen sollen, die Harzreise in der Instrumental-Einleitung seiner Rhapsodie als symphonischer Dichter anzutreten. Ja, wenn er von der »höchsten Bestimmtheit des musikalischen Ausdrucks« so innig überzeugt gewesen wäre, wie andere, welche die großartigsten Schwindeltheorien auf dieses verkehrte Prinzip bauen, vielleicht hätte er seinen mutigen Tadlern und ängstlichen Lobern den Gefallen getan. Er konnte es nicht, wenn er nicht auf die Komposition des Gedichtes, das einen der herrlichsten Musiktexte der Welt enthält, überhaupt verzichten wollte. Ihm genügte der von Reichardt als lyrischer Gemeinplatz behandelte Passus nicht, er benötigte den vom gebesserten Wege in die Wildnis abschweifenden Wanderer, hinter dem die Sträuche zusammenschlagen und das Gras wieder aufsteht, den die Öde verschlingt; wie er andererseits ein neues drittes äußeres Gefühlsmoment, das die Stimmung der Introduktion zerstört haben würde, in dem auf einem einzigen gewaltigen (inneren) Gegensatz gegründeten Tonwerke absolut nicht gebrauchen konnte. Brahms hatte von der flüchtigen Bekanntschaft mit Reichardt außer der Bezeichnung Rhapsodie noch mancherlei im Gedächtnisse mitgenommen: vor allem Tonart und Folge der Taktarten-nebenbei ein Beleg dafür, wie schnell und tief bei ihm sich ein musikalischer Eindruck einprägte. Auch Reichardt beginnt mit dem Vierviertel-Takt in c-moll und geht dann in den Sechsviertel-Takt über; dieser tritt bei ihm zugleich mit der Dur-Parallele der Haupttonart schon bei der Strophe ein: »Ist auf deinem Psalter«. Der Gesang – eine mittelhohe Sopranstimme – kadenziert zuletzt nach c-moll, in welchem auch das vier Takte lange Nachspiel verharrt.
[302] Der Anfang, der Brahms zumeist beeinflußt hat, lautet bei Reichardt12:
Bei Brahms heißt es:
[303] Im übrigen gehen beide so weit auseinander, wie ein gut unterrichteter rechtschaffener, nüchterner Verstandesmensch von einem, dem großen Dichter homogenen musikalischen Genie abweicht. [304] Auf Goethe selbst hätte sich Brahms berufen können, als er der Solostimme das »Aber« in den Mund legte. Da er sich über alles, was seine Kunst anging, genau zu unterrichten pflegte, und in Baden-Baden in Levi einen hervorragenden Goethekenner zur Hand hatte, so wird er wohl den Abschnitt der »Campagne in Frankreich« nachgelesen haben, der dem Abenteuer der winterlichen Harzreise und der Erklärung des dunklen Gedichtes gewidmet ist. Mitten im Winter unternahm der Dichter die romantische Bergfahrt über den Brocken nach Wernigerode, um einen Unglücklichen (Plessing), der sich ihm brieflich genähert hatte, aufzusuchen und zu trösten. Das Bild des vergrämten und verbitterten Menschenfeindes, des verachteten Verächters, dessen fruchtlose Liebe in Haß umzuschlagen droht, schwebte ihm, der aus dem fröhlichen Getümmel einer Hofjagd von Weimar weggeritten war, deutlich vor Augen, es beschäftigte seine ganze Seele, und jene ergreifenden, wunderbar innigen Strophen klangen in ihm auf, als er seiner alten Frankfurter Gewohnheit, bei einsamen Wanderungen freie Rhythmen vor sich hinzusingen, nachgab. Goethe zitiert die auf Plessing zielenden Absätze seiner Hymne, und er beginnt wie Brahms mit den Worten: »Aber abseits, wer ist's«.
Brahms und sein kühnes Beginnen brauchten wahrlich nicht erst auf dieses Zitat zu warten, um mit ihm entschuldigt und gestützt zu werden. Nachdem Brahms den poetischen Gegenstand mit dem intuitiven Blicke des kongenialen Musikers durchschaut hatte, schuf er ihn zu einem idealen lyrischen Monodrama um, das, einzig in seiner Art, uns Ersatz bieten will für ein halbes Dutzend nicht komponierter Opern. Wenn die vorausgreifende Instrumentaleinleitung auf dem Dominantseptakkord Halt macht, und das Rezitativ seine Schicksalsfrage stellt, ist es, als ob nach der Ouvertüre der Vorhang in die Höhe schnellte; wir meinen den Unglücklichen vor uns zu sehen, nie er die schauerliche Wildnis durchirrt. Neben ihm aber schwebt, von dunklem Regengewölk hergetragen, auf dem siebenfarbigen Bogen der Iris die rettende Muse des Dichters, um mit dem Einsamen zu klagen und für ihn zu beten. Mit dem Plektron, das ihre Leier rührt, zerteilt sie den grauen Nebel, und während die Abendsonne in [305] vollem Glanze durchbricht und ihre erwärmenden Strahlen dem auf den rechten Weg Zurückgeleiteten ins Herz gießt, vereinigt ein Chor hilfreicher Geister seine Stimmen mit der der göttlichen Sängerin. Ihre gemeinsame, zum Vater der Liebe emporgesendete Fürbitte darf auf Erhörung hoffen, und in goldenen Abendfrieden getaucht schließt das Stück.
Mit dieser »etwas intimen Musik«13, die er so liebte, daß er die Noten unter das Kopfkissen legte, um sie immer bei sich zu haben (Dietrich), suchte sich Brahms von der Sorge um Anselm Feuerbach zu befreien, die ihn quälte, seitdem er dem Maler nähergetreten war. Die Gestalt des ihm gleichgültigen Plessing nahm in seiner Phantasie die vertrauten Züge des Freundes an, in dem er sich selbst wiederfand14. Durch die Verwandtschaft ihrer Neigungen, Grundsätze und Richtungen schien die Gleichheit ihrer Schicksale bedingt zu sein. Waren doch Werke, welche den Reichtum ihres Herzens, den Adel ihrer Seele offenbarten, mit Nichtachtung und Hohn zurückgewiesen worden, hatte doch jeder von ihnen sich eine starke Dosis Menschenverachtung aneignen müssen! Und noch in anderer Beziehung knüpft Brahms hier an Feuerbach an. Die Rhapsodie gilt uns für das erste seiner größeren Werke, in welchem der durch den Meister des »Symposions« vermittelte Einfluß der Antike deutlich zum Vorschein kommt. Mit ihm sehen wir Brahms in ein ähnliches künstlerisches Verhältnis zum griechischen und römischen Altertum eintreten, wie Feuerbach in seinen antikisierenden Schöpfungen. Es handelt sich dabei nicht um Nachahmungen klassischer Vorbilder, für welche dem Musiker ohnehin jede zuverlässige Tradition fehlt, sondern um die Wiederbelebung klassischen Geistes. Ihn zu erfassen und sich anzueignen, sollte nach der Meinung des großen Malers jeder Künstler trachten, der höhere Ziele kennt, als den Ton der Mode anzugeben oder nachzusingen und den Beifall der Menge als wohlfeilen Preis davonzutragen.
In der durch Feuerbachs Gegenwart befruchteten Lichtentaler Periode gewann die antike Kunst ihre besondere Bedeutung [306] für unseren Tondichter, und übte sie auch mehr einen ergänzenden als grundlegenden Einfluß auf ihn aus, so war dieser doch durchaus kein vorübergehender, sondern wurde auf den italienischen Reisen des Meisters immer wieder aufgefrischt und befestigt. Dafür zeugen nicht allein die schon durch ihre Texte in antiken Anschauungen wurzelnden Kompositionen, wie »Schicksalslied«, »Nänie« und »Parzengesang«, sondern fast alle späteren Brahmsschen Meisterwerke, die in der Plastik ihrer gedrungenen Form, in der Genauigkeit und Einfachheit ihres zwingenden Ausdrucks, in der gemessenen Schönheit ihrer tief leidenschaftlichen Bewegung und endlich in der charakteristischen Individualisierung ihrer typischen Ideen sich vom Zeitlichen ab und dem Ewigen zuwenden.
Was wir an der Rhapsodie zuerst bewundern, ist die Gliederung ihres Textes zum Zweck einer höheren, dem Künstler vorschwebenden musikalischen Form. Brahms zerlegt das Fragment in drei Teile und folgt darin genau dem Schema des Dichters. Aber, indem er das Gewicht des Inhalts prüft, gibt er jedem Abschnitt sein zukömmliches Maß, so daß sich die Proportionen zugunsten der Form verändern. Damit stimmt die Wirkung überein, die, wie schon früher bemerkt, so dramatisch ist, daß man von einer Exposition, Peripetie und Katastrophe im dramaturgischen Sinne sprechen könnte, musikalisch dargestellt als Rezitativ, Arie und Schlußchor. Die Dreiteilung des Ganzen wiederholt sich im mittleren Satze, der seiner Bedeutung nach der ausgedehnteste ist und sich durch den Sechsviertel-Takt rhythmisch von den im Vierviertel-Takt gehenden Außensätzen abhebt. Melodisch ist der zweite Teil mit dem ersten durch das den Eingang des Werkes wie ein finsterer Dämon bewachende Motiv der Bässe:
verbunden. Aus ihm entwickelt sich die Hauptmelodie der Arie: »Ach, wer heilet die Schmerzen«. Aber auch das wunderbar liebliche kleine Zwischenspiel mit der Melodie:
[307] die zuerst von Flöten und Oboen gebracht, und dann, vergrößert, von der Klarinette so schmerzlich in Moll beantwortet wird:
stammt ebendaher. Die Melodie bietet sich als passende Überleitung des versöhnenden Schlußsatzes an und führt den entscheidenden Wendepunkt herbei. Beim Eintritt des Männerchores, der sich der Solostimme erst unterordnet, dann aber auch selbständig vorgeht, wiederholt sich das C-dur-Wunder des Haydn'schen Schöpfungsmorgens (»Es werde Licht«) aber in anderer, sanfter Abendstimmung. Auch die Melodie »Ist auf deinem Psalter« kann füglich als eine aus dem Hauptmotiv durch Gegenbewegung entstandene gedacht werden; der Seitensatz (»Öffnet den umwölkten Blick«), der jedesmal in anderer Tonart erscheint (in B-, H-, G-, Es- und As-dur), als wolle er immer neue Quellen neben dem Durstenden in der Wüste auftun, kehrt noch einmal zum Hauptsatz zurück und eilt dann, unter durchgreifender Mitwirkung des Chors zum Schluß. Dem zartgetönten Vokalkolorit entspricht die Instrumentation. Der naheliegenden Versuchung, den »Psalter« mit den entsprechenden Harfen zu illustrieren, hätte gewiß kein anderer moderner Komponist widerstanden. Robuste Orchestermaler, die gleich mit dem Maurerpinsel des großen Blechs dreinfahren, werden es nicht begreifen, daß weder Trompeten, Posaunen und Baßtuben, noch Pauken in der Partitur vorkommen. Brahms deutet den »Psalter« mit Pizzikatos der Violoncelle an; ihm genügen Streichquartett, Holzbläser und Hörner für das Auftragen seiner transparenten Farben, die den warmen Glanz alter Meisterbilder hervorbringen. »In meiner Kunst war ich bis jetzt zu einfach« – höhnt Feuerbach, »weil ich nicht glaubte, mit Seidenmagazinen konkurrieren zu können. Sowie ich 10,000 Francs für Stoffe übrig habe, werde ich meine Figuren auch besser anziehen.«
[308] Wenn der sonore Alt seine Klage anhebt, glauben wir eine der königlichen Frauengestalten des Malers, eine Medea oder Iphigenie singen zu hören, und müssen daran denken, daß in Brahms der deutschen Oper ein eigentümliches Talent verloren gegangen ist. Die beiden berühmten Repräsentantinnen des Gluckschen Orpheus, Pauline Viardot-Garcia und Amalie Joachim, waren auch die prädestinierten Sängerinnen der »Rhapsodie«. Beide besaßen Stimmen, die an den vollen, weichen und starken Klang der B-Klarinette erinnerten und sowohl den heroischen Charakter wie die Fähigkeit feinster dynamischer Schattierung mit der Nachtigall des Orchesters teilten. Auch die unheimliche Dämonie der tiefen Töne und die erschütternde Wirkung des jähen Registerwechsels, die der Klarinette eigen sind, war ihren Organen nicht versagt. Sie durften sich ungestraft an eine Aufgabe wagen, die der Meister recht eigentlich ihnen gestellt hatte. Für sie und ihresgleichen ist der stolze Kothurngang der Arie vorgezeichnet, der sich dem Takte rhythmischen Schwunges entgegenstellt, wie der Held dem feindlichen Schicksal, für sie der Saltomortale des Duodezimensprunges (H-F oder Ais-E) angelegt, der sich von einem Extrem ins andere, aus der Fülle der Liebe in den Menschenhaß stürzt.15 Die Viardot-Garcia war die erste, welche die Partie öffentlich sang, und zwar am 3. März 1870 in einem Konzert des vom Universitäts-Musikdirektor Ernst Naumann geleiteten Akademischen Gesangsvereins in Jena. Naumann und seine Akademiker hatten ihr Interesse für Brahms schon früher betätigt und waren am 21. November 1869 mit einer Aufführung des »Deutschen Requiem« vielen anderen deutschen Städten vorangegangen. Am Schluß jenes März-Konzertes wurde auch der »Rinaldo« als Novität in Jena gegeben.
Mit der Herausgabe der »Rhapsodie« ließ sich Brahms Zeit. Ziemlich gleichzeitig mit den »Liebesliedern« konzipiert, muß das Werk mehrere Male umgearbeitet worden sein. Denn Brahms erwähnt es schon in einem Briefe, den er im Januar 1869 von Wien an Allgeyer richtete, als etwas Bekanntes oder doch Besprochenes: »Mein Requiem fand ich leider nicht hier, doch kommt nächstens [309] die Rhapsodie.« Das »eben komponiert« in dem Brief an Deiters16 bezieht sich demnach wohl auf eine letzte Redaktion. Ehe er das Stück hörte, war er noch im Zweifel, ob er es aufführen und drucken lassen sollte. Levi zerstreute diese Bedenken durch eine Privat-Aufführung des Werkes, die er mit der Generalprobe zum ersten Abonnementkonzert der Saison 1869/70 in Karlsruhe verband. Es war ein richtiges Schumann-Brahmskonzert. Frau Klara spielte außer dem BeethovenschenG-dur-Konzert drei charakteristische Klavierstücke ihres Gatten, Levi dirigierte Schumanns d-moll-Symphonie und begleitete mit Brahms zehn Nummern der »Liebeslieder« op. 52 aus dem Manuskript (das Soloquartett wurde von Fräulein Hausmann, Frau Hauser, Herrn Kürner und Herrn Brulliot gesungen). Wien folgte am 5. Dezember mit den »Liebesliedern«, mit der »Rhapsodie« am 19. März 1871 nach. Die Lieder (neun an der Zahl) wurden in einem Konzert der Singakademie von Frau Dustmann, Frau Leeder, Herrn von Schultner und Herrn Maas gesungen (am Klavier saßen Karl Nawratil und Hans Paumgartner); die »Rhapsodie« erschien mit Fräulein H. Burenne, einer Marchesi-Schülerin, im Akademischen Gesangverein unter Leitung Ernst Franks.
»Johannes wird Ihnen eine neue Komposition von wunderbarer Schönheit gezeigt haben!« hatte Frau Schumann an Levi geschrieben, als sie ihn bat, das Werk zu probieren, »sie hat mich furchtbar ergriffen, und ich lebe noch ganz in der Musik«. Nach der Wiener Aufführung sandte Billroth dem Freunde folgenden Herzenserguß: »Lieber Brahms! Ich fand gestern nach dem Konzert nicht Gelegenheit, Sie zu sprechen, und war heute zu sehr beschäftigt, Sie aufsuchen zu können; inzwischen sind Sie vermutlich schon abgereist17, und diese Zeilen treffen Sie möglicherweise erst sehr spät oder gar nicht. Dennoch drängt es mich zu sehr, Ihnen zu sagen, wie tief Ihre Rhapsodie auf mich gewirkt hat, als daß ich es ganz unterlassen könnte. Sie wissen, welche philiströsen, ästhetischen Bedenken ich gegen das Werk als Konzertstück hatte; alle diese Bedenken sind durch die tiefinnerliche musikalische [310] Kraft Ihrer Musik getilgt. Der Schubertsche Chor vor Ihrem Werk war besonders gut gewählt18, die ruhig hinströmende Klarheit desselben ersetzte gewissermaßen den Teil des Goetheschen Gedichtes, zu welchem Ihre Rhapsodie den melancholischen Gegensatz bildet. Schon die instrumentale Einleitung überzeugte mich, wie ich mich nach dem Klavierauszug in der Wirkung geirrt hatte, und als der Gesang begann, mußte jeder aufmerksame musikalische Hörer vollkommen in der Stimmung sein, die das Werk verlangt. Ich finde, daß Sie die Altstimme wundervoll zur Wirkung gebracht haben, der Schlußsatz ist herrlich, das Ganze ist voll Herzenswärme und tiefer deutscher Empfindung, weich, traurig, rührend und erhebend, ohne irgendwo weichlich und sentimental zu sein. Wie in Ihrem Requiem tritt auch in diesem Stück die Poesie der göttlichen Vergeltung in künstlerischer Verklärung hervor, diese Poesie, dieses ethische Märchen, dessen wunderbarer Zauber die Menschenwelt seit Jahrtausenden zusammenhält und zu immer höherer Vervollkommnung führt; in diesem herrlichen Streben gehen Wissenschaft und Kunst miteinander! Da wird Mühe zum Genuß, Arbeit zum Glück! Ich reiche Ihnen ins deutsche Reich hinein die Hand und drücke sie Ihnen herzlich!«
Die verständnisvollen und herzlichen Worte des genialen Gelehrten, der seit der Übersiedlung nach Wien in seinem Hause19 [311] ein Asyl der Freundschaft und eine Pflegestätte der Kunst für Brahms offen hielt, taten diesem um so wohler, als er sonst nicht viel Erfreuliches über sein neues Werk zu hören bekam. War er auch davon überzeugt, daß die »Rhapsodie« das Beste sei, was er, wie er an Simrock schreibt, noch gebetet habe, und daß es genug Leute gebe, die ein derartiges Gebet nötig hätten, so bezweifelte er doch mit Recht, ob auch die werten Altistinnen es gleich begierig singen würden, und meinte zu Dietrich, die Musikdirektoren würden sich nicht gerade um das Opus reißen.20 Als Brahms von Rieter erfuhr, daß die Rhapsodie im März 1870 in Zürich zum Benefiz Hegars aufgeführt werden sollte, entgegnete er: »Daß meine Rhapsodie gemacht wird, interessiert mich besonders. Schreiben Sie mir doch, wie energisch sie durchfällt. Ich glaubte, die Viardot würde allein damit bleiben.« – In Amalie Joachim erstand dem Werke der rettende Engel. Nachdem die Künstlerin es am 9. November 1871 in Bremen in einem Konzert gesungen hatte, in welchem auch Klara Schumann mitwirkte, nahm sie das Stück in ihr ständiges Repertoir auf und sang es in allen Städten, wo sie konzertierte, mit dem größten Erfolge. Dasselbe tat das Karlsruher Vokal-Quartett mit den »Liebesliedern« in den Hauptorten des Badener Landes.
Brahms hatte zwei Sommer seinen Aufenthalt nicht in Baden-Baden genommen. Levis Verstimmung und ein Zerwürfnis mit seiner alten Freundin Klara waren daran schuld gewesen.21 Mit Frau Schumann, die ihm brieflich den Standpunkt klar machte, war der Friede im November 1868 bei Dietrich in Oldenburg wieder hergestellt worden, und Levi lenkte ein, als es sich [312] um eine Aufführung des Requiems für Karlsruhe handelte. Wie schmerzlich es Brahms empfand, daß der Freund, durch seinen Tadel beleidigt, verstummte, verrät der merkwürdige Brief, den er ihm schrieb, als er im August 1868 von Bonn über Heidelberg nach der Schweiz reiste: »Ich sinne vergebens auf eine Dankesformel, die Deinen werten Briefen angemessen wäre. Es gibt keine so lakonische Fassung, daß sie nicht unförmlich aussähe neben diesen Musterbriefen.22 Ich komme also am Freitag, übermorgen (mittags um 2,40 m.?) (über Frankfurt) durch Karlsruhe – warum nicht durch? Ist doch unser ganzes Leben nur ein Durchgehen. Ich fahre auch mit dem nächsten Zuge weiter. Grüße Allgeyer herzlich und wen Du sonst willst, und sei womöglich an der Bahn.« Ob Levi der Aufforderung nachkam, ist nicht bekannt. Wie es scheint, grollte er weiter; denn im Januar 1869 bittet Brahms ihren gemeinsamen Freund Allgeyer, alles, was an Büchern und Wäsche von ihm noch in Karlsruhe liege, nach Hamburg, Anscharsplatz 5, Briefe aber durch Gotthards Musikalienhandlung nach Wien zu schicken. »Schreibe Vieles dazu, denn in dieser Karnevals-Einsamkeit sehnt man sich, von Menschen und Freunden zu hören. Kannst Du Geheimes mitteilen von Levis chinesisch-deutschen Kompositionen?«23 Einige Tage darauf läßt er auch von Levi »einliegen gebliebenes halbes Quartett (vorderes)« reklamieren und diesen bitten, ein Figaro-Textbuch24 beizulegen. »Ich habe meines Herbeck geben müssen, da Levi weder mir noch ihm Wort hält. Grüße übrigens ihn doch und auch alles in Haus und Hof (Nassauer) herzlich« .... Er machte also Miene, die Brücken nach Karlsruhe endgültig abzubrechen. Bald nachher entschließt sich Levi endlich an Brahms zu schreiben. Der Kammersänger Josef Hauser in Karlsruhe hatte von seinem Vater Franz († 1870) dessen kostbare Bücher- und Handschriftensammlung geerbt. Unter den vielen Bach-Manuskripten, die Franz Hauser besaß, befand sich auch die [313] Lukaspassion, die damals, trotz Mendelssohn, noch immer von vielen für ein Werk Sebastian Bachs gehalten wurde25. Levi ließ eine Abschrift davon machen, sandte sie an Brahms und bat um sein Urteil, indem er ihn zugleich zu einer Aufführung des Requiems nach Karlsruhe einlud. Brahms antwortete, und zwar zunächst an Allgeyer:
»[Wien 27. Februar 1869].
Ich schulde Dir noch meinen Dank, vor allem für Deinen lieben und sehr schönen Brief. Jetzt kommt noch einer von Levi, und ich stecke in einem [solchen] Konzerttrubel, daß ich doch nicht, wie ich möchte, eine neue Feder schneiden kann und auf alles gemütlich antworten. So denn vor allem das Nötige, und es darf vielleicht gleich einstweilen für Levi mit gelten. Über meine Sachen will ich mich denn beruhigen. Ich vermißte immer Hölderlin26, aber da Du die Kirchenlieder nennst, die ich habe, so hat jener sich sonst verkrochen. Die Lukaspassion habe ich sehr wenig und eilig angesehen. Mehr will ich aber auch nicht.
Wenn nun freilich die Echtheit eines Bachschen Manuskripts unzweifelhaft erwiesen ist, so sollte es unter allen Umständen gedruckt werden. Daß diese Passion eins ist, kann man mir nun keinenfalls beweisen, und ich möchte keine Hand rühren, daß sie mit seinem Namen erschiene. Jetzt beim Schreiben merke ich, daß ich sie weitaus genug angesehen habe. Jede beliebige Seite darin genügt ja vollständig, um an Bach nicht zu denken. Wohin freilich damit, weiß ich nicht recht. So schauerlich sie oft schreiben, mag ich doch keinem seiner Vorgänger und Zeitgenossen, deren Namen wir noch kennen – die Schande antun, sie ihm zuzuschreiben. Steht denn sein Name auf dem Titelblatt? Sonst schiene mir, daß die Handschrift nichts beweise. Denn der Bach, der dies geschrieben haben sollte, müßte denn doch eine andere führen als unser Mann. Aber von einem Kind ist sie auch nicht, und die sich ewig wiederholenden fehlerhaften Stimmführungen, [314] schlechten Deklamationen, unlogischen Modulationen in den Rezitativen, das alles sagt so deutlich, daß Bach es niemals hat schreiben können; zufällig hat ein Esel die gleiche Handschrift, was ist denn weiter daran.
Wozu aber Levi seinen Chor damit malträtieren will, weiß ich nicht. Aber ich schreibe ja überhaupt an Levi! Deinen Brief kann ich doch nur mit Lust lesen, aber Levi frägt noch mancherlei. Nach Holland gehe ich nicht; es wäre aber merkwürdig, wenn ich in Karlsruhe mein Requiem hörte oder dirigierte, der einzigen Stadt, wo das letztere entschieden nicht nötig wäre, und notabene die einzige, wo Zuhören ein Vergnügen sein wird! Und in Basel, Hamburg, Köln, Leipzig schreibe ich ab und lasse alles über mein armes Werk ergehen!
Den Artikel in der Augsburger ›Allgemeinen‹27 habe ich mit großer Freude gelesen, sogar auf Dich als den Schreiber geraten. Es fehlte mir nur der letzte weichste Flaum (wie ihn etwa Eure neue Sopranistin auf ihren Wangen hat).
«
Stockhausen wohnt wie ich: Hotel Kronprinz an der Aspernbrücke. Auch Hiller wird nächster Tage hier wohnen.
»Doch wirklich, es ist ein Freundschaftsstück, daß ich so lang geschrieben. Laß die Adresse gütigst für zwei gelten, antwortet also Beide.«
Einen zweiten noch deutlicheren Brief in derselben Angelegenheit ließ Brahms im März 1869, diesmal an Levi direkt, folgen:
Ich habe diese Woche drei Konzerte, die nächste vier, wieviel Abhaltung und Beschäftigung sonst! Erwirke mir Verzeihung, wenn ich deshalb den mich ehrenden und erfreuenden Brief Deines Vereinsvorstandes Dir beantworte.
Außerordentlich gern wurde ich nach Karlsruhe kommen, das Requiem zu hören oder zu leiten. Mir scheint aus dem Brief hervorzugehen, daß Ihr mit dem Studium fertig seid28. In der nächsten Zeit haben Stockhausen und ich noch Konzerte, auch sonst hält mich manches.
[315] Kurz, ich kann nur wiederholen, daß ich gern das Möglichste täte, um zu kommen, und jedenfalls bitte ich Dich, mir zu schreiben, wann die Aufführung angesetzt ist.
Einen besonderen Zuhörer wünschte ich mir in Professor Lübke, von dem in der heutigen N. Fr. Presse ein Aufsatz über die Meistersinger steht.
»Über die sogenannte Bachsche Passion schrieb ich an Allgeyer und kann heute nur wiederholen, daß ich in ihr keinen Takt finde, der in ein anderes Bachsches Werk passen würde, – umgekehrt finde ich im ganzen Bach keinen Takt, den ich hier hineinlegen könnte. Was den äußeren Beweis der Handschrift betrifft, so meine ich, daß diese sich leicht ähnlich findet bei gleichzeitig Lebenden – dagegen im Leben der Einzelnen sich gewiß verändert. Außerdem ist der Beweis leicht zu führen, daß besagte Passion von keinem Kind ist, und wenn unser Bach sie je geschrieben haben sollte, müßte es gewesen sein, als er noch die Bettwäsche näßte. Doch ich muß aufhören. Empfiehl mich angelegentlich Deinem Vorstand, dem ich sehr dankbar für die Einladung bin. Läßt's sich's irgend machen, so komme ich.«
Daß der im ersten der beiden Briefe vorkommende, für Karlsruhe und Levi so außerordentlich schmeichelhafte Passus keine schöne Redensart war, da der ihm nachfolgende Schmerzensschrei seine volle Berechtigung hatte, können wir den Tatsachen entnehmen. So machte das Requiem auf den Leipziger Referenten der Rieterschen Musikzeitung den Eindruck »absoluter Stillosigkeit«; er bedauert, daß er das Hören mit einer leider schlecht belohnten Anstrengung erkaufen mußte und sagt, das Publikum sei »still und müde« gewesen29. Der Berichterstatter schob natürlich den üblen Erfolg auf das Werk, und der Verleger hatte das Vergnügen, die respektlosen Auslassungen des geehrten Leipziger Mitarbeiters in seinem eigenen Blatte zu lesen. Man glaube nur nicht, daß Brahms dem Verderben seiner Werke mit untergeschlagenen Armen zusah! Wie groß immer seine Gleichgültigkeit, dem Publikum gegenüber, gewesen sein mag, teils überschätzte er die Fähigkeiten seiner Berufsgenossen, teils hielten ihn Bescheidenheit und Scheu, [316] sein Innerstes preiszugeben, von Einspruch und Verwahrung zurück. In dem besonderen Falle aber waren ihm die Hände noch ganz besonders gebunden, weil er sich zu einem Zyklus von Konzerten mit Julius Stockhausen verpflichtet hatte.
Der reiche Ertrag ihrer vorjährigen gemeinschaftlichen Reise forderte zur Wiederholung auf. Ihre diesmalige Tournee beschränkte sich auf Wien und Pesth. Sie ging am 20. Februar 1869 vom kleinen Redoutensaal in Wien aus und lief, nachdem die Künstler Mitte März drei Konzerte in Pesth absolviert hatten, am Ostermontag wieder dorthin zurück, um mit einem sechsten und letzten Wiener Konzerte am 24. April zu enden. In diesen neun Konzerten sang Stockhausen von Brahms nur die beiden Lieder aus op. 43 »Mainacht« und »Von ewiger Liebe«, mit Rosa Girzick die Duette für Alt und Bariton op. 28, sowie mit ebenderselben, mit Helene Magnus und Gustav Walter die beiden Quartette »An die Heimat« und »Wechsellied zum Tanze«. Brahms, der alles begleitete, spielte meist Bach, Beethoven, Schubert und Schumann, auch eine Sonate von Clementi (h-moll), sodaß er als Komponist eher zurück- als hervortrat. Von seinem Verleger deshalb zur Rede gestellt, und befragt, warum Stockhausen nichts von den neuen Liedern singe, gab er die charakteristische Antwort: »Noch in Eile ein paar Worte wegen Stockhausen. Er hätte wohl aus Ihren Liedern30 hier in Wien gesungen – aber er ist diesen ganzen Winter gar nicht recht auf dem Damm. Noch in keinem Konzert konnte er ganzcon amore singen. Daher ist er denn auch vorsichtig und möglichst geizig mit den Programmen. Da nun vor mir immerhin Schubert, Schumann, Händel und manche verehrte Kollegen kommen, so unterblieb es noch. Ich weiß aber, daß er sie privatim fleißig lobt und kolportiert. Ich kann auch nicht so viel auf den öffentlichen Vortrag geben. Frau Joachim und Stockhausen haben öfter zwei Lieder aus dem einen Rieterschen Heft gesungen, Lieder, für die meine Freunde schwärmen31. Ich habe nichts von einem [317] besonderen Erfolg gehört. Es geht wohl eben seinen leisen Gang, und muß man denn hoffen, daß sie längeres Marschieren aushalten.« Kann man einen Freund schonender beurteilen, nachsichtiger in Schutz nehmen und sich selbst bescheidener die Ehre geben? Niemand wäre berufener gewesen, die neuen, 1868 bei Simrock erschienenen Lieder einzuführen, als gerade Stockhausen, und keine passendere Gelegenheit hätte sich dazu dargeboten, als die Wiener Konzerte.
In vier Heften zu vier, zweimal fünf und sieben Nummern, auf op. 46, 47, 48 und 49 verteilt, zeigen diese Gesänge das reiche lyrische Ingenium des Tondichters in hellstem Licht und von den verschiedensten Seiten. Als Meisterschüler der griechischen Odendichter haben wir ihn in der klassischen »Mainacht« bereits bewundert und auch der Klassizität der romantischen »Kränze« Gerechtigkeit widerfahren lassen32. Mit dem letztgenannten Liede (op. 46 Nr. 1) wird die neue Reihe eröffnet. In seiner nächsten Nachbarschaft steht nach Gebühr »Die Schale der Vergessenheit«. Brahms nannte das Lied wüst, wie Deiters berichtet33, und wollte es bei Seite legen, bis ihm Stockhausen eine bessere Meinung durch seinen Vortrag beibrachte. Im Hinblick auf die »Mainacht«, an welche die »Schale der Vergessenheit« durch manchen Zug zu ihrem Nachteil erinnert, hatte Brahms recht, das Lied zu verurteilen. Denn es gelang ihm nicht, wie dort, das Metrum zu bändigen und die Strophe, in welcher der kleine asklepiadische mit dem glykonischen Verse immer dreimal abwechselt, völlig zu meistern, wie geistreich auch der refrainartige Niedergang in beiden Strophen mit dem breiten Ausklingen der Melodie behandelt worden ist. Die Begleitungsfigur in diesem Refrain:
scheint melden zu wollen, daß die beiden Kompositionen Höltyscher Oden Zwillinge sind – das schwächere Kind kam wohl später zur Welt – demnach würde auch die »Schale der Vergessenheit« [318] ins Frühjahr 1864 gehören. Zwei andere, auf Texte desselben zarten Elegikers komponierte Lieder »An die Nachtigall« (op. 46 Nr. 4) und »An ein Veilchen« (op. 49 Nr. 2) entstanden in jenem Bonner Frühsommer von 1868, der zum Teil der Redaktion der Liederhefte gewidmet war, und es sind zwei der schönsten unter den vielen schönen Liedern von Brahms, in denen er die Empfindung des Dichters nicht nur bis auf den Grund ausschöpft, sondern sie auch noch in ein edleres Gefäß der Form umgießt.
Welch ein seines bildnerisches Gefühl spricht sich schon in der Art aus, wie Brahms in dem Liede »An die Nachtigall« die Dipodie des zweiten Verses, die er mit dem fünffüßigen Jambus des ersten zusammenzieht, durch rhythmische Vergrößerung von diesem abhebt! Er gewinnt dadurch je zwei Perioden von sechs Takten, die in der Mitte des vierten durch eine verborgene Zäsur getrennt werden, was ihn nicht hindert, bei der Repetition, des Nachdrucks wegen, den er auf das Wort Himmel legt, einen ganzen Takt einzuschieben. An die sechstaktigen Perioden schließen sich andere, kürzere an, welche die Bildung einer neuen, durch symmetrische Analogie bestimmten Strophe vollenden, und mit dieser originellen Konstruktion läuft er dem Dichter den Rang ab. Poetisch ist das Gedicht das Gegenstück zur »Mainacht«: dort flieht der Dichter vor dem erregenden Gesang der Nachtigall und dem verführerischen Liebesgirren der Taube zu dunkleren Schatten; hier schickt er den Vogel, der ihn nicht ruhen läßt, in die grünen Finsternisse des Haines, ins Nest des treuen Weibchens: »Entfleuch, entfleuch!« Musikalisch bleibt die Stimmung dieselbe, wenn sie auch, der transzendentalen Sehnsucht entkleidet, mit stärkerer Glut an ihren sinnlichen Ursprung erinnert, ohne dabei den Adel ihrer Seele einzubüßen. – Mit außerordentlicher Zartheit sind die Hendekasyllaben »An ein Veilchen« behandelt, dabei nicht weniger leidenschaftlich bewegt als die anderen Höltyschen Liebeslieder. Hier folgt, durch keine Rücksicht auf den Gang der Strophe gebunden, die Melodie dem Schwunge ihrer eigenen Flügel; aber der Flug richtet sich doch nach einer, von ordnender Hand vorgezeichneten Bahn, und findet sein Ziel in der Rückkehr zum Anfang. Man sehe nur zu, wie nach dem kurzen drängenden, zwischen dem Neun- und Sechsachtel-Takt wechselnden Mittelteile [319] die Repetition vorbereitet wird, und welchen überraschenden Effekt der unerwartete Eintritt der Melodie macht! Die Pause im Gesange nach »Und sag' ihr« hat außer dem musikalischen ihren psychologischen Wert: der Liebende stockt und überlegt einen Augenblick, welche Botschaft er dem Veilchen an die Geliebte anvertrauen solle, und singt dann:
Eine frohere »Botschaft« (op. 47 Nr. 1) hat das Lüftchen auszurichten, das Hafis-Daumer um Wangen und Haar seiner Suleika spielen läßt. Hört man es dem entzückenden Liede nicht an, daß es an einem frischen Sommermorgen über den grünen Strom hinübergesungen wurde, hat es nicht den lachenden Reiz der rheinischen Umgebung in sich aufgenommen? Wie ein schillernder Schmetterling der dunklen Puppe entschwingt es sich dem düsteren b-moll seines Ritornells, um sich im sonnigsten Des-dur zu wiegen. Es ist eins jener Kunstwerke, welche die Natur selbst in einer Feiertagslaune produziert zu haben scheint. Seine Melodie, die ihre vollgemessenen sechszehn Takte zählt, bedürfte kaum der Begleitung, sie trägt ihre Harmonie in sich und ist ohne sie verständlich. Auch hier wird, wie beim »Veilchen«, die Wirkung der Repetition von einem Befehl abhängig gemacht: »Sprich: Unendlich war sein Wehe, höchst bedenklich seine Lage!« Was für ein schalkhafter, liebenswürdiger Humor liegt darin, daß das »höchst bedenklich« gleich zweimal gesungen wird, und welche Steigerung erfährt die Melodie durch die eingeschobenen Takte: »wieder herrlich aufzuleben«! In der neueren musikalischen Lyrik gibt es als Vorbilder nur zwei ähnliche Seitenstücke, welchen das Lied gleichkommt, wenn es sie nicht übertrifft: Schuberts »Liebesbotschaft« und Schumanns »Aufträge«. Das Manuskript der »Botschaft« ist datiert »Juni 68«; derselbe Vermerk findet sich auf den Handschriften von op. 47 Nr. 4, op. 48 Nr. 3. 4., op. 49 Nr. 2. 3. Von diesen ist das kleine Mädchenlied »Gold überwiegt die Liebe« das rührendste, das selbst die vorangehende »Liebesklage des [320] Mädchens« (op. 48 Nr. 3) in Schatten stellt. Alle sieben Lieder des Heftes bekennen sich zu den einfachsten Formen und nähern sich dem Volkslied. Als Muster eines Liedes im Volkston ist das auf einen slavischen Walzer à la Chopin gesetzte »Der Gang zum Liebchen«. Der Tanz, im ersten Teile latent, tritt im zweiten offen hervor; die Melodie hat durch den hartnäckig festgehaltenen, an jedem Abschnitt demonstrativ betonten Moll-Charakter einen altertümlichen Anstrich bekommen. Die Kadenzen erinnern an eine italienische Kirchenlitanei;
Den Text hat Brahms schon einmal, und zwar zu dem gleichbetitelten Quartett op. 31 Nr. 3 benutzt. Direkt auf eine alte Kirchentonart, und zwar auf die von Brahms bevorzugte dorische, greift »Vergangen ist mir Glück und Heil« (op. 48 Nr. 6) zurück. Der Ursprung dieses Volksliedes dürfte in der Liebesklage eines deutschen Minne- oder Meistersingers zu suchen sein; unmittelbar aus dem Volke hervorgegangen ist es gewiß nicht, wie schon die künstliche, von Friedrich von Spee mit Vorliebe angewandte, nur wenig veränderte Strophe anzeigt. Wir erinnern an »In stiller Nacht«. Gleich diesem erscheint es bei Brahms in zweierlei Fassung: neben dem Liede für eine Singstimme auch als gemischter Chor a capella (op. 62 Nr. 7). Und wie wir in den Chorliedern vonop. 62 eine Nachlese zu den op. 44 herausgegebenen zu betrachten haben, die auf Detmolder und Hamburger Zeiten zurückdeuten, so wird man kaum fehl gehen, wenn man jenen im Choralton abgefaßten Gesang ebenfalls dorthin verweist. Die ganzen Noten, die immer zum Anfang und Ende der Verszeile stehen und, unbekümmert um den Wortakzent, die Arsis mit der Thesis vertauschen, sind, wenn es sich nicht etwa um eine entlehnte Melodie handelt, beabsichtigte Nachahmungen von Manieren, die Brahms zeitweilig gefielen und anregten. Im Texte des Liedes kommt das Wort »verjehen« vor (»muß ich mich dein verjehen«), ein außer Gebrauch gesetztes mehrdeutiges mittelhochdeutsches Wort, das, wahrscheinlich [321] von »ja« abgeleitet, die Silbe »ver« bald akkumulativ, bald disjunktiv anwendet. Hier heißt es so viel wie »muß ich dir für immer entsagen.« In dem vielgesungenen »Sonntag« (op. 47 Nr. 3) aber hat es die Bedeutung von Zusagen, Gelingen. »So will mir doch die ganze Woche das Lachen nicht verjehn« heißt mit anderen Worten: Ich kann die ganze Woche kein vergnügtes Gesicht mehr machen, – also das strikte Gegenteil von dem, was unsere Sänger und Sängerinnen aus dem Liede herauslesen und hören. Allerdings können sie sich auf die Notenvorlage berufen, die den stereotypen Druckfehler »vergehn« immer wieder bringt34. Was sollte denn den Burschen, der sein »tausendschönes Herzelein« die ganze Woche nicht gesehen hat, gar so lustig stimmen, daß er eben diese ganze Woche hindurch immerzu lachen muß? – Um eine zutreffende Beantwortung dieser naheliegenden Frage würde die Melodie des Liedes in Verlegenheit kommen, wenn sie von des Gedankens Blässe angekränkelt wäre. Innig, frisch, natürlich und einfach, schmiegt sie sich jeder Auffassung an; sie kann ebenso gut der Ausdruck sehnsüchtigen Verlangens wie der heiteren Übermutes sein. Dadurch verrät sie ihre »niedere Herkunft«. Sie stammt vom Volke ab und ist nahe verwandt mit der von Brahms anderweitig bearbeiteten Melodie: »Soll sich der Mond nicht heller scheinen«:
An dem kunstvollen Aufbau der Strophe, die in dem Empfindungsausrufe: »Wollte Gott, ich wär' heute bei ihr« als Refrain gipfelt, ist freilich die Hand des vornehmen Meisters sofort zu erkennen. Das Lied würde jeder Volksliedersammlung zur Zierde gereichen, wie andererseits die in op. 47 vereinigten Kunstlieder mit ihm Staat machen können.
Ebenfalls ein Couplet höherer Art, diesmal im Charakter der Troubadours, ist »O liebliche Wangen«. Die Musik antizipiert [322] den Inhalt der letzten Strophe und drückt mit ihrem schwankenden Wechsel von Moll und Dur die Ungewißheit des stürmisch werbenden Liebhabers aus. Durch diesen Kunstgriff, der vollen Ersatz leistet für den unberücksichtigt gelassenen spielerisch-erotischen Witz des Dichters (Paul Flemming), erhält der Vorgang eine so große Lebendigkeit, daß man die angesungene Dame und ihren Kavalier vor Augen zu haben meint. Bei dem ritardando poco a poco sucht der Troubadour immer den Eindruck seiner Werbung vom Gesicht der Schönen abzulesen und späht ängstlich nach ihren Mienen aus. Er macht Halt, gleichsam erschrocken über seine Dreistigkeit, bittet zaghaft in elegischem Moll um Verzeihung, bemerkt an dem Lächeln der Geliebten, daß er sie nicht erzürnte, und bricht, nach abermaligem kurzen Zögern, endlich siegesgewiß in jubelndes Dur aus. Die zweimalige Wiederholung des Strophenliedes schwächt den anschaulichen Reiz seiner Wirkung nicht ab, sondern erhöht ihn noch, wenn der Sänger sich auf die Kunst des Vortrages gehörig versteht. Einen gewissen höfischen Zug von Galanterie, der zur Sache gehört, will das Lied nicht verleugnen. Weit unmittelbarer, leidenschaftlicher wirkt die beschuldigende, von Schmerzen durchtränkte Anrede einer betrogenen liebenden Seele – auch ein Duett mit einem stummen Widerpart – in »Am Sonntag Morgen« (op. 49 Nr. 1). Die freie Imitation der Melodie, die in der »zierlich angetanen« Begleitung nach jeder der ersten drei Verszeilen eintritt, kann für die unterdrückte Stimme des Gewissens gelten, welche die Berechtigung der Anklage zugestehen muß. Mit gewaltiger Beredsamkeit wird dann die Anklage von der Klage abgelöst; das jammervolle Wehe und das tiefe Selbstmitleid der Betrogenen sind stärker als alle Vorwürfe. Begleitende Terzen, die besonders in der Kombination des Nachspiels hervortreten, stellen die Nationalität des Gedichtes fest; es stammt aus Italien und ist eines der Rispetti aus Heyses Italienischem Liederbuche. Über einen solchen Anflug von National- und Lokalfarbe bringt es auch das, durch seine schöne, man möchte sagen ritterliche Melodie ausgezeichnete »Magyarisch« (op. 46 Nr. 2) nicht hinaus. Daß es ein Liebling Stockhausens war, entspricht dem Charakter des Sängers, und daß ihn »Sehnsucht« (op. 49 Nr. 3) [323] weniger befriedigte35, wird jeder begreifen, der in der opernmäßig aufgetragenen Empfindung des lebhaften Teiles keinen Ersatz für das Stückwerk der langsamen Introduktion zu finden vermag. Hier hat Brahms sich einmal in der Wahl des Textes, beziehungsweise in der Möglichkeit geirrt, eine annehmbare musikalische Form für den verlockenden poetischen Gedanken zu finden, obwohl das Gedicht einen weniger gewissenhaften und genauen Komponisten schwerlich in Verlegenheit gesetzt haben würde. Das Gleiche gilt von der Liebesklage des Mädchens (op. 48 Nr. 3). Merkwürdig ist, daß sich Brahms mit der kühlen Dialektik eines Verskünstlers wie Schack befreunden konnte. In tadellosen Versen gemeißelt, mochte diese Poesie ihn reizen, den Marmor mit eigenem Blute zu durchglühen. Oder war es die landschaftliche Umgebung in ihrer seinen Naturstimmung, was ihn zur Komposition der an Relativsätzen überreichen »Abenddämmerung« (op. 49 Nr. 5) verführen konnte, was ihn den höchst unmusikalischen Anfang des Gedichtes »Herbstgefühl« (op. 48 Nr. 7) »Wie wenn von frost'gem Windhauch tödtlich« überwinden hieß? Viel leichter verstehen wir die magische Gewalt, mit der ihn Goethes »Die Liebende schreibt« (op. 47 Nr. 5) anzog. Haben doch auch Mendelssohn und Schubert der gleichen Versuchung nicht widerstehen können! Schubert hat das Sonett in ein gefälliges Lied umgegossen, das sich in interessanter Weise mit den Ansprüchen des Dichters auseinandersetzt, ohne sie zu befriedigen. Mendelssohns Komposition des Gedichtes zählt zu den edelsten und vollkommensten Gesängen, die wir haben, und Brahms war ihr ganz besonderer Verehrer. Wenn er trotzdem sich entschloß, mit so erlauchten Vorgängern zu konkurrieren, so konnte er dies nur in der Überzeugung tun, daß auch Mendelssohn in irgend einer Weise seinem Sujet nicht völlig gerecht geworden ist, In der Tat hat Mendelssohn sich eben so wenig um die Form des Gedichts und deren Ansprüche gekümmert, wie etwa Beethoven bei seiner »Adelaide«. Brahms aber, herausgefordert von dem für unlösbar geltenden Problem, die poetische Form des Sonetts ins Musikalische zu übertragen, bewies die Möglichkeit der vollkommen befriedigenden Lösung und schuf zugleich mit dem technischen [324] Meisterstücke eines der seelenvollsten Lieder. Ihm blieb es nicht verhohlen, daß das Sonett eigentlich nur ein erweitertes Epigramm ist, das in seinen beiden mit einander parallel laufenden vierzeiligen Strophen die Prämissen, in dem abschließenden Terzinenpaar die mehr oder weniger überraschende Konklusion mit der lyrischen Pointe bringt. Witz und Empfindung müssen zusammentreffen, um das kleine, jeder Gelegenheit sich gefällig anpassende Wunderwerk des Sonetts zustande zu bringen. Die zweimal vier und dreimal zwei Reime wollen gehört sein, wenn das »Klinggedicht« wirken, und die Pointe darf nicht abgestumpft werden, wenn das »Sinngedicht« zu seinem Rechte kommen soll. Alle diese Bedingungen, die Goethe in seinem Meister-Sonett stillschweigend anerkannt hat, sind auch von Brahms angenommen und erfüllt worden, so daß das nun musikalisch und poetisch gleich vollendete Sonett nichts mehr zu wünschen übrig läßt. Den widerhaarigen fünffüßigen Jambus hat Brahms mit dem Sechsachtel-Takt gebändigt. Nach jeder Periode von drei Takten markiert eine Viertel-Pause in der Singstimme das Versende; nur einmal, wo in den Vierzeilern ein Vers in den andern übergeht, fehlt die Pause (auf jene Stunde, die einz'ge). In den Dreizeilern, die sich enger zusammenschließen, fehlt sie überhaupt; dafür werden die Terzinen durch ein kleines, bedeutungsvolles Zwischenspiel getrennt. Um die Pointe vorzubereiten, bejaht der Komponist die rhetorische Frage: »Und solltest Du nicht in die Ferne reichen?« Die Liebende winkt dem Geliebten zu, und er winkt zurück:
In Gedanken eilte die Erfüllung des Wunsches diesem voraus; er wird nur noch ausgesprochen, um den Zuhörer zu befriedigen, der ihn erwartet. Nach dem letzten Kolon tritt eine Pause der [325] Spannung ein; dann folgt der Schluß: »Gib mir ein Zeichen!« Das Lied ist uns doppelt teuer, weil es zugleich ein Denkmal der Liebe zu Agathe S. ist, für die es Brahms im Jahre 1898 komponierte36. Mit einem anderen Goetheschen, ebenfalls schon von Schubert komponierten Gedicht, »Trost in Tränen«, (op. 48 Nr. 5) durften nicht so viel Umstände gemacht werden. Als Strophenlied behandelt, mußte es sich mit einer ebenso einfachen Melodie wie Begleitung begnügen, die im Wechsel von Tonika und Dominante Rede und Gegenrede des fingierten Dialogs markiert. Das Gedicht gehört zu denen, die, in jeder Hinsicht vollendet, die Musik nur als eine Art Folie der Deklamation zulassen. Ein Komponist, der nicht Schubert oder Brahms heißt, könnte daran verzweifeln. Datiert ist »Trost in Tränen« auf dem Manuskript »November 58«. Brahms schenkte damals das Manuskript seiner Freundin Bertha Porubßky. Es trifft sich eigen, daß das derselben Freundin, nun Frau Bertha Faber, gewidmete »Wiegenlied« (op. 49 Nr. 4) mit jenem zugleich erschien. Von allen in op. 46 bis op. 49 vereinigten Liedern hat dieses die größte Popularität erlangt. Das in seiner Begleitung versteckte oberösterreichische Volkslied (Du moanst wohl, du glabst wohl, die Lieb laßt si zwinga?), das für die glückliche junge Mutter einen besonderen Sinn hatte37, mag das Seinige dazu beigetragen haben. Brahms brachte das musikalische Zitat so bei, wie es ihm seit zehn Jahren im Gedächtnis haftete, nachdem er das Lied von Fräulein Bertha singen gehört hatte. Am 15. Juli 1868 schickte er von Bonn an Fabers einen kurzen Gruß, aber »in etwas mehr körperlicher, papierner Gestalt«, eben jenes Wiegenlied38, und schreibt dazu an Arthur Faber: »Frau Bertha wird nun gleich sehen, daß ich das Wiegenlied gestern ganz bloß für ihren Kleinen gemacht [326] habe; sie wird es auch, wie ich, ganz in Ordnung finden, daß, während sie den Haus in Schlaf singt, der Mann sie anfingt und ein Liebeslied murmelt39. Übrigens täte mir Frau Bertha einen Gefallen, wenn sie mir besagtes Liebeslied ›Du meinst wohl, Du glaubst wohl‹ einmal in Noten und Text verschaffte. Mir summt es nur so beiläufig in den Ohren. Sie aber müssen nun Verse, passende, dazu machen! Mein Lied aber paßt so gut für Mädel wie für Jungen, und brauchen Sie nicht jedesmal ein neues zu bestellen.« Als dann das Lied mit der Widmung »An B.F. in Wien« bei Simrock erschien, glaubte sich Brahms bei Frau Bertha entschuldigen zu müssen, und schrieb ihr am 25. Oktober von Hamburg: »Sie werden doch die vertraulichen Buchstaben in beifolgendem Heft nicht übelnehmen? Ich wollte immer deshalb anfragen, aber meine Feder war in der letzten Zeit so sehr mit langweiligen Revisionen beschäftigt, daß sie den gesitteten Paßgang des Briefschreibens ganz verlernte: .... Ich hatte bei unserem kleinen Lied an nichts weniger als den feierlichen Druck gedacht, aber mein Verleger sah es bei mir liegen, hielt's fest und frug den Kuckuck, was sonst für schöne und lustige und ernsthafte dazu kämen. Ob denn etwa Hanslick das hineingeschmuggelte Österreichische wittert?«
Simrock bekam durch das Wiegenlied, das bald reißenden Absatz fand, Appetit auf mehr von derselben Art, und als ihn seine Frau mit der Geburt eines Töchterchens erfreute, ließ er in der Anzeige dieses freudigen Ereignisses etwas von seinen Wünschen einfließen. Da antwortete Brahms: »Nun freut's mich schließlich sehr, daß Ihre verehrte Frau wieder einmal merkt, weshalb Sie verheiratet sind. Die gewünschte Kleinigkeit habe ich nun allmählich oft genug geliefert; ich möchte mich eigentlich an jener, doch mehrere Seiten bietenden Sache gern einmal auf eine andere Weise beteiligen. – Das war ein bedenklich langatmiger Seufzer. Aber ich muß auch schon einen spaßhaften Text finden, wenn ich noch einmal helfen soll anderer Leute Kinder einzuwiegen.« Simrock ließ nicht locker, und Brahms erwiderte am 28. September 1869, er wolle für Frau Simrock lieber das schönste Liebeslied schreiben [327] als das Gewünschte. »Hier habe ich«, fährt er fort, »ein Brautlied geschrieben für die Schumannsche Gräfin – aber mit Ingrimm schreibe ich derlei, mit Zorn! Wie soll es da werden!«
Mit der Schumannschen Gräfin ist Julie Schumann gemeint, die sich am 11. Juli 1869 mit dem Grafen Vittorio Radicati di Marmorito in Turin verlobt hatte. Die Hochzeit war für den 7. September in Baden-Baden anberaumt, und der Polterabend sollte, nach deutscher Sitte, mit allerlei Aufführungen und Vorträgen geschmückt werden. Außer der erwähnten Kantate waren die »Liebeslieder« mit den Karlsruher Sängern und ein dramatischer Gelegenheitsscherz in Aussicht genommen, in welchem Brahms die Rolle des »Vater Haydn« zugedacht war. Er lehnte ab mit der Begründung, daß ihm der Humor dafür fehle. Eines Todesfalles wegen, der sich in der Familie des Grafen ereignete, wurde die Hochzeit übrigens um vierzehn Tage verschoben und dann in aller Stille gefeiert. Ein tieferer und zarterer Grund für den üblen Humor des Hochzeitsgastes war gewiß nicht vorhanden. Das Interesse, das er, nach Levis Versicherung, einmal für Schumanns drittälteste Tochter, an den Tag gelegt, war längst verraucht und hatte anderen, ebenso flüchtigen, schnell vorübergehenden Neigungen Platz gemacht.40 Just um dieselbe Zeit schwärmte Brahms für eine junge Russin, die in Baden-Baden konzertierte, eine Klavierspielerin, die auch als Komponistin glänzen wollte, Mademoiselle Anna de D. Die Art, wie Brahms ihr »recht nettes« Talent seinem Verleger Simrock empfiehlt (die nötigen Rubel würden bezahlt, außerdem aber würde die Petersburger Bekanntschaft sehr für Absatz sorgen) und die Mühe, die er sich mit ihren Nokturnes gibt, setzen eine mehr persönliche als sachliche Teilnahme voraus. Launig legt er folgende Rechnung über die Dienste bei, die er der Komponistin geleistet:
»Eine frische Modulation, pro Tonart.3 Pf.
(also von C nach Es, über F nach B).12 Pf.
Einen neuen Baß zur Melodie11/2 Sgr.
Schwärmerischer Schluß von 4 Takten5 Sgr.
Einen Mittelsatz geflickt31/2 Sgr.
Ganz neuen Mittelsatz gefertigt15 Sgr.
[328] Wir werden Ihnen gelegentlich einen Stoß Nokturnes schicken, und Sie berechnen glimpflich ....« Und am 15. Oktober bestellt er sich die Korrektur des von ihm protegierten und stark redigierten Verlagsartikels nach Wien.
Dorthin hatte Levi in demselben Jahre (1869), bevor Herbeck an die Spitze der Wiener Hofoper gelangte, einen Ruf als Hof-Opern-Kapellmeister erhalten. Wie sich von selbst versteht, erbat er von seinem Freunde Brahms die nötigen Informationen. Am liebsten würde Brahms, wie er sagt, die Sache mündlich besprechen. Zwar meint er, »ganz entschieden«, daß Levi kommen solle, gibt ihm aber allerlei zu bedenken. Die 2500 fl. Gage würden höchstens auf 3000 vermehrt werden können. Dessoff, Herbeck, und Hellmesberger seien auf Nebenverdienste angewiesen und müßten ein Dutzend Stellen versehen, um eine Familie ernähren zu können. Um die Oper sei es schlecht bestellt, und von Dingelstedt wohl kein Heil zu erwarten. Doch seien treffliche Mittel da, und es lasse sich arbeiten. Der Dirigent der Philharmonischen Konzerte werde jedes Jahr neu gewählt. Dies sei die einzige beneidenswerte Stellung in Wien, in der sich Dessoff kaum behaupten könnte. Seiner Bedeutung nach werde Levi überall der erste sein. Sehr wichtig scheine ihm, daß in Wien nur ein Gesangverein (unter Herbeck) existiere – die unglückliche Singakademie zählte also bei Brahms nicht mehr mit. Wer zu organisieren verstünde, könnte sich aus einem zweiten Chorverein nicht bloß eine (mäßige) Erwerbsquelle schaffen, sondern würde das Regiment überhaupt führen, was sehr wünschenswert wäre, da die ganze Musikmacherei in Wien dann ein anderes Gesicht bekäme. »Und eine Lust«, fährt Brahms fort, »möchte es wohl sein, hier als Erster zu regieren; denn ein anderes Publikum ist hier wohl als in Karlsruhe, und was mit ihm anzufangen. Das Publikum hier kann man gern loben, aber das Kind will gute Zucht, und seine Schulmeister hier (unsere werten Kollegen) haben beim neulichen Lisztschwindel ihre ganze Jämmerlichkeit so arg entblößt, daß ich mich schämte« ....41
[329] Levi fühlte sich durch diese Auskünfte nicht sehr ermutigt, und da Dingelstedt ihn zwar als primus inter pares engagieren, die von Levi angestrebte Stellung eines alleinverantwortlichen Leiters aber nicht zugestehen wollte, so blieb vorläufig alles beim Alten. Was Brahms von Dessoff schrieb, hätte sich beinahe sehr schnell bewahrheitet, und er selbst wäre dann die unschuldige Ursache seines Rücktritts von der Direktion der Philharmonischen Konzerte gewesen. Dessoff hatte die D-dur-Serenade aufs Programm des zweiten Konzerts gesetzt. In der Probe aber erklärten einige Mitglieder der Kapelle, das Werk nicht spielen zu wollen. Brahms, der den mit Geschäften überlasteten Orchestermitgliedern ein unbequemer Mann war, weil sie seine Musik fleißiger probieren mußten als irgend eine andere, hat es lange nicht vermocht, ihre Sympathien zu gewinnen. Der eklatante Mißerfolg des Requiems, sowie die kühle Aufnahme, die der »Rinaldo« und das G-dur-Sextett in Wien erfahren hatten, versteiften die mißgünstigen Elemente in ihrer abweisenden Haltung und schüchterten die wohlgesinnten ein. Dessoff geriet über die Unbotmäßigkeit des Orchesters außer sich. In seiner zornigen Aufregung brachte er kein Wort hervor, durchbohrte die Partitur mit dem Taktstock und lief davon. Zu Hause setzte er sich hin und schrieb seinen Philharmonikern, deren Konzerte er durch nahezu zehn Jahre mit Liebe geleitet hatte, einen motivierten Absagebrief. Er begründete das Entlassungsgesuch mit der Bemerkung, daß er sich vor die Alternative gestellt sähe, entweder durch Beharren auf dem Rechtsstandpunkte den offenen Zwiespalt zwischen sich und dem Orchester noch zu erweitern, oder dessen [330] Drängen für den Augenblick nachzugeben, dann aber sogleich auf ein Amt zu verzichten, das ihm unter den obwaltenden Umständen weder Freude noch Befriedigung mehr gewähre, indem er zugleich betonte, daß sein Rücktritt die einzige Satisfaktion sei, die er dem grundlos beleidigten Komponisten geben könne. Das Schreiben tat seine Wirkung. Die Orchestermitglieder erklärten den Konflikt beilegen und die Serenade spielen zu wollen, und so kam sie am 12. Dezember, im dritten Konzert unter Brahms' eigener Direktion zur Aufführung. In der Probe hatte Brahms folgende Ansprache an das Orchester gehalten: »Meine Herren! Sie haben mein Werk abgelehnt, und ich kann Ihnen nur sagen, wenn Sie Vergleiche mit Beethoven ziehen wollen: eine solche Höhe wird nicht mehr erreicht werden. Aber mein Werk ist hervorgegangen aus meiner besten künstlerischen Überzeugung. Vielleicht werden Sie doch sehen, daß das Werk nicht ganz unwert ist, von Ihnen gespielt zu werden42«.
Brahms hatte die Freude, Klara Schumann unter den Zuhörern zu wissen. Sie war für längere Zeit nach Wien gekommen und hatte am 11. Dezember einen Zyklus von Konzerten begonnen, dem am 19. Januar 1870 »auf Verlangen« ein Abschiedskonzert angereiht wurde. Dieses Konzert ist noch besonders dadurch merkwürdig, daß mit ihm der kleine Saal im neuen, eben vollendeten Musikvereinsgebäude eingeweiht wurde, der in der Nacht darauf abbrannte43. In den Konzerten Klara Schumanns wirkten Luise Dustmann, Rosa Girzick, Gustav Walter, Emil Krauß, Anna Bosse, die Konzertmeister Grün, Popper und Professor Kleinecke mit, welche u.a. Lieder von Brahms aus op. 3, 32, 49, die »Liebeslieder« op. 52 in zwei Abteilungen und das [331] Horntrio op. 40 zum Vortrag brachten. Bei den »Liebesliedern« spielten Frau Schumann und Brahms vierhändig; sie kamen im kleinen Redoutensaale (dort fand das dritte Konzert der Frau Klara statt) viel besser zur Geltung, als im großen, wo sie in einem Konzerte der Singakademie am 5. Dezember 1869 zuerst gesungen und gespielt worden waren. Dagegen gefiel das Horntrio gar nicht.44
Das Jahr 1869, welches für Brahms und die Ausbreitung seiner Musik so wichtig war – das deutsche Requiem wurde über zwanzigmal in deutschen Städten aufgeführt, in Paris und London begann man seine Kammermusikwerke zu kultivieren, und die Ungarischen Tänze trugen seinen Namen durch alle Welt – endete auch materiell mit einem bedeutenden Saldo-Vortrag zu seinen Gunsten. Er konnte neben Verlags-und Konzert-Honoraren in seinem Taschenkalender zum ersten Male Zinsen von kleinen Kapitalien eintragen, die ihm Levis Bruder und Arthur Faber verwalteten. Glücklich aber machten ihn seine Erfolge nicht.
[332] 1 Vgl. Bd. II, S. 133 ff. – Simrock wollte mit den »Liebesliedern« zusammen eine biographische Skizze des Komponisten drucken lassen und wandte sich deshalb an Brahms mit der Bitte, ihm die bezüglichen Angaben zu machen. Dieser erwiderte darauf: »Ob zu meinen Liebesliedern noch meine Biographie deklamiert wird, kann ich wirklich für das Verständnis der Walzer nicht sehr nötig finden. Höflich entschuldigen kann ich mich, daß ich durch mein unstetes Leben nicht in der Lage bin, irgend Daten zu liefern für eine Lebensbeschreibung (der hoffentlich zum Schlusse eine Romanze, Ballade folgt)«.
2 Vgl. Bd. II, 1 S. 148 und S. 275 (Anhang).
3 V. Jahrgang von 1870, S. 468 ff.
4 Jetzt im Besitz der »Gesellschaft der Musikfreunde« in Wien.
5 Bd. II, S. 270.
6 Vgl. die Beilage, welche im Faksimiledruck die Skizze zu Nr. 9 (Am Donaustrande) reproduziert. Die in der linken Ecke oben befindliche Zahl (128) verweist auf die Seite der Daumerschen »Polydora« mit dem Text des Liedes,
7 Aus dem, von Wilhelm Altmann im Verlage der Deutschen Brahms-Gesellschaft edierten Briefwechsel zwischen Brahms und Rudorff erfahren wir nicht nur, welche von den Walzern der Tondichter für geeignet hielt, als zierliche Konzertnummern für Kleinchor und Orchester bearbeitet zu werden, sondern auch, daß er selbst die Nummern 1, 2, 4, 5, 11, 8, 9, 6 aus op. 52 und Nr. 9 aus op. 65 – in die Mitte der anderen als Nr. 5 eingeschoben – instrumentiert hat. Ernst Rudorff, durch seinen Lehrer Bargiel, den Stiefbruder Klara Schumanns, mit dieser und durch sie wieder mit Brahms befreundet, war vier Jahre lang unter Ferdinand Hiller Klavierlehrer und Chordirigent am Konservatorium in Köln, ehe er 1869 von Joachim an die Berliner Hochschule für Musik berufen wurde. Er kam im Sommer 1888 während des Bonner Aufenthaltes öfters zu Brahms, und wandte sich dann durch Frau Schumann an ihn, um die instrumentierten Walzer, die er für ein Hochschul-Konzert einüben wollte, zu bekommen. Brahms schickte ihm die Orchester-Partitur am 2. Februar 1870 mit der eiligen Bemerkung: »Ich überlasse die Sache Ihrer Diskretion. Zweifle, daß Sie die Kopiaturen fertig bringen, und daß Ihnen die Aufführung mit Orchester so leicht und unzweifelhaft scheint. Mir nicht, und nun, da ich sie gleich wegschicke, kann ich sie nicht einmal ansehen. Ich brauche nicht zu sagen, daß das Tempo eigentlich das des Ländlers ist: mäßig. Sonderlich die lebhafteren mäßig (c-moll, a-moll), die sentimentaleren bitte nicht schleppend (Hopfenranke). Ich denke, die neun Stücke werden als eine Konzertnummer passen. Solo – nicht Chor – wie ich meine.« Rudorff führte die Walzer am 19. März 1839 mit dem Soloquartett von Asten, Joachim, Borchardt, Putsch auf und äußerte sich sehr befriedigt über das Wohlgelingen des Versuches. Brahms, der die Walzer später in Budapest probierte, wo sie sowohl von Solisten wie von einem kleinen Chor gesungen wurden, scheint von der Wirkung seines Arrangements weniger erbaut gewesen zu sein; denn er gab es nicht heraus und ließ auch Rudorffs Wunsch, die Walzer für Orchester allein ohne Gesang neuerdings zu bearbeiten, unerfüllt.
8 Ein altes tanzartiges Instrumental- oder Gesangsstück, das ein Baßthema von vier oder acht Takten beständig wiederholt, während die Oberstimmen immer neue Variationen dazu ausführen.
9 Wenn die Partitur nicht etwa von Brahms auf dem oben beschriebenen Papier in Kleinquart notiert war, so dürfte sie eine Abschrift von schöner Hand gewesen sein. Mancherlei spricht dafür. Das Manuskript fehlt bei Simrock. Brahms hat das Original vielleicht einer Dame geschenkt, und »die zierlichste Partitur« könnte von ihr für den Druck kopiert worden sein.
10 Briefwechsel mit Reinthaler und anderen, herausgegeben von Wilhelm Altmann, Verlag der Deutschen Brahmsgesellschaft.
11 Vgl. J. Asbach: »Hermann Deiters (1833–1907)«. – Über den Bonner Aufenthalt und seine damaligen persönlichen Erlebnisse mit Brahms hat Deiters in den beiden vortrefflichen sachlichen Abhandlungen von 1889 und 1898 (Sammlung musikalischer Vorträge Nr. 23/24 und Nr. 63, herausgegeben von Paul Graf Waldersee) nichts verlauten lassen, sich aber mündlich und schriftlich gegen den Verfasser desto ergiebiger ausgesprochen. Zur Ergänzung des im VI. Kapitel dieses Bandes Gesagten, wo im Hinblick auf das Requiem der Sommer in Bonn nur flüchtig gestreift werden konnte, findet ein Auszug aus einem, Koblenz, den 29. Mai 1902 datierten Briefe des Gelehrten hier die passendste Stelle. Deiters, der bedauert, nicht schon 1868 diesbezügliche Aufzeichnungen gemacht zu haben, entschuldigt sich, daß er nach mehr als 30 Jahren nur zufällige Erinnerungen geben könne und schreibt; »Er (Brahms) kam vom Kölner Musikfeste und brachte den Sommer in Bonn zu. Das hübsch gelegene Haus vor der Stadt, in dem er wohnte, ist später photographisch abgebildet worden. Ich war damals jungverheirateter Gymnasiallehrer; er kam häufig zu uns, war öfters abends unser Gast, und ließ es sich sogar gefallen, mit mir vierhändig zu spielen – die Walzer, die Variationen und anderes. Auch ich besuchte ihn häufig in seiner Sommerwohnung. Obgleich ich ihn schon mehr wie zehn Jahre vorher in Bonn gesehen hatte, als er den kranken Schumann in Endenich besuchte, beruhte doch sein Interesse an meiner bescheidenen Person 1868 darauf, daß er ein paar Aufsätze über seine Sachen in der Allg. Musikzeitung gelesen hatte. Er sagte zu mir wörtlich: ›Sie sehen doch tiefer als andere.‹ (Bitte, halten Sie mich nicht für eitel, was ich nicht zu sein glaube!). Vielleicht hatte ich die Stimmung seiner Werke hier und da richtig gedeutet. Bei mir spielte er mir das damals ungedruckte Requiem auf dem Klavier vor. Ich erinnere mich deutlich, wie er bei dem fünften Stück bei den Worten. Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet (zu erkennen gab, daß er dabei an seine eigene Mutter gedacht habe. Am Anfang des zweiten Stückes, wo in das langsame Marschthema auf dem zweiten Viertel Harfenakkorde hineinklingen, sagte er: ›macht es nicht einen so müden Eindruck?‹ Auch eine Menge Lieder hatte er bei sich, die demnächst erscheinen sollten; es waren die in op. 43, 46–49 publizierten. Großen Wert legte er gleich auf op. 43 Nr. 1: ›Von ewiger Liebe‹. Als er es gespielt, sagte ich nicht gleich etwas, ich wollte wohl den Eindruck verarbeiten oder hatte es vielleicht noch nicht ganz erfaßt. Da sagte er, als er das Lied bei der Schumann vorgespielt, habe sie auch stumm dagesessen, und als er auf sie hingesehen, sei sie in Tränen zerflossen gewesen. Das Lied op. 46 Nr. 3 (Die Schale der Vergessenheit) nannte er ›wüst‹ und wollte es nicht drucken lassen; das hat ihm Stockhausen ausgeredet, der es ihm vorsang bei einem Morgenbesuch bei Brahms, bei dem ich allein zugegen war. Damals war Stockhausen hochentzückt von op. 46 Nr. 2; bei einem anderen, ich glaube es war op. 49 Nr. 3, meinte St.: ›das ist dir wenig gelungen‹. Bei dem Wiegenliede op. 49 Nr. 4 wies mich Brahms darauf hin, daß er in der Begleitung die Melodie eines Walzers angedeutet habe, welcher der Dame, der das Lied gewidmet ist, bekannt war.
Mit einigen Bonner Musikern spielte er in einer Klavierhandlung die Klavier-Quartette op. 25, 26 und das Quintett op. 34. Erstere behandelte er sehr leichthin und machte den Spielern Komplimente, bei dem Quintett aber war ihm nichts recht, es mußte immer wiederholt werden. – Ost saß ich mit ihm im Kleyschen Kaffeegarten, wo dann über alles mögliche gesprochen wurde. Einmal lobte ich die musikalischen Aufsätze von Ferdinand Hiller, dem damals hochangesehenen Musikdirektor in Köln; er antwortete: ›ja, ja, er schreibt besser Buchstaben als Noten.‹ – Eines Abends war er in meinem Hause. Unsere beiden Mütter waren anwesend, es war ein kleines Abendessen, und nachher ließ er sich freundlich (wie er damals immer war) herbei, mit mir vierhändig zu spielen. Waren es die Walzer? Ich weiß es nicht mehr. Es war spät geworden, und als wir fertig waren, sagte meine Schwiegermutter zu meiner Mutter: ›Ich glaube, Frau Deiters, es ist Zeit für uns, aufzubrechen.‹ Da sah Brahms verwundert auf und sagte: ›Überraschender Erfolg!‹ – Daß er sich für alles Literarische interessierte, viel las und ausgebreitete Kenntnisse hatte, ist Ihnen bekannt. Auf gelehrte Kleinarbeit erstreckte sich das nicht. Ich hatte damals für das Universitäts-Jubiläum namens des Gymnasiums eine zweifellos höchst gelehrte Abhandlung über die Musen geschrieben und eine Menge von Zitaten usw. beigebracht. Brahms war gerade anwesend, und so gab ich ihm natürlich ein Exemplar. Er erklärte mir ganz offen und unumwunden, daß er für Arbeiten dieser Art kein Verständnis finden könne.«
12 Die Analogien sind durch Kreuze und Zahlen bezeichnet.
13 Aus dem oben angeführten Briefe an Deiters.
14 Nach einer mündlichen Andeutung des Meisters.
15 Im Larghetto des Mozartschen A-Dur-Quintetts führt die Klarinette denselben Intervallen-Sprung (hier von Cis nach G) aus.
16 Siehe oben.
17 Brahms reiste bald nach dem Konzert nach Norddeutschland.
18 Der bei J.P. Gotthard in Wien 1871 erschienene Männerchor »Ruhe schönstes Glück der Erde«.
19 Im Herbst 1874 bezog Billroth sein Haus in der Alserstraße 20, das er im Oktober gekauft hatte. Er schreibt darüber an Brahms; »Ich hatte einige Andeutungen, daß einer der berühmtesten Professoren aus der Zeit bald nach Josef II., Johann Peter Frank, der Besitzer meines Hauses gewesen sei. Doch wie es so geht, ich begnügte mich mit der Wahrscheinlichkeit. Pohl [der Haydn-Biograph] ging aber gleich zum Magistrat und stöberte in den sogenannten Besitz- oder Grundbüchern; er erhob die Wahrscheinlichkeit zur Gewißheit. Die Frau von dem Sohn des berühmten Johann Peter Frank, eines wenig bedeutenden Medizinprofessors, war eine ihrer Zeit berühmte Sängerin; sie sang unter Haydn in ›Schöpfung‹ und ›Jahreszeiten‹. Dadurch kam Beethoven ins Haus, wo öfter Musikaufführungen, im Garten auch Szenen aus italienischen Opern der Zeit, bei Illumination gegeben wurden. Das Haus lag damals in der Vorstadt, am Alserbach, war wohl noch von Wald und Busch zum Teil umgeben; denn nicht weit von mir in der Josefstadt lag ein damals sogenanntes Jagdschloß, worin sich jetzt die Privatheilanstalt des Dr. Eder (Langestraße 53) befindet. Die Gegend hat also damals ein ganz anderes Gesicht gehabt. – Das Interessanteste bleibt mir immer, daß Johann Peter Frank und Beethoven in meinem Hause verkehrten, und daß sich ein solcher Verkehr – seien wir einmal arrogant – fast hundert Jahre später in demselben Hause zwischen Dir und mir wiederholte ... Ich habe eine große Freude an der Konstatierung dieser Dinge gehabt; ebenso Pohl, der ganz verklärt durch meinen Garten schritt, der gerade damals im herrlichsten Rosenflor stand. Beethoven wandelte gewiß diese Wege; sollte nicht auch Haydn in diesem Hause Proben mit der erwähnten Sängerin gehabt haben L nicht unwahrscheinlich. Welch' herrlicher Dreiklang: Haydn, Beethoven, Brahms!« A.a.O.
20 Erinnerungen an Johannes Brahms, S. 67.
21 Vgl. Berthold Litzmann: »Klara Schumann« Bd. III, S. 215 ff.
22 Das soll heißen: Als dankbare Erwiderung für gar nichts ist dieser Brief lang und gut genug.
23 Siehe Band II, S. 147.
24 Levi hatte mit Eduard Devrient die Texte zu Mozartschen Opern bearbeitet. Das »halbe Quartett« war vermutlich das dritte Klavierquartett in c-moll op. 60.
25 Philipp Spitta tritt in seiner Bach-Biographie II, 338 ff. für die Echtheit der Lukas-Passion ein, während die praktischen Musiker mit ihrem Urteil auf der Seite von Brahms stehen.
26 Brahms hatte schon 1868 sein Augenmerk auf Hyperions Schicksalslied gerichtet.
27 Von Allgeyer über Feuerbach.
28 Brahms dirigierte sein Requiem am 12. Mai im Karlsruher »Philharmonischen Verein«. Die Soli wurden von Marie Hausmann und Kammersänger Hauser gesungen.
29 Allgemeine musikalische Zeitung IV 86.
30 d.h. aus den in Simrock's Verlag erschienenen Liedern.
31 Ebendieselben, die Stockhausen in Wien sang: »Mainacht« und von »Ewiger Liebe«. Lange Zeit blieben sie denn auch neben dem schnell populär gewordenen »Wiegenlied« so ziemlich das einzige, was von Brahms'schen Liedern aus op. 43 und 48–49 öffentlich gesungen wurde.
32 Band. II, S. 132–138.
33 Band II, S. 300, Anm.
34 Ophüls schreibt (in seiner Sammlung der Brahms-Texte) ebenso und in »Vergangen ist mir Glück und Heil« gar: »Muß ich mich Dein versehen«.
35 Vgl. oben Seite 300.
36 Johannes Brahms im Briefwechsel mit J.O. Grimm, herausgegeben von Richard Barth (Deutsche Brahmsgesellschaft). S. 60: »Deine schreibende Liebende hat so viel schöne Empfindungen, daß sie die wärmste Gegenliebe finden muß, besonders wo ihre Tränen trocknen, und sie dann im Lispeln des Liebewehens immer inniger um ein Zeichen bittet.«
37 Vgl. I, S. 367 ff.
38 Das von einem blauen Zierrahmen umgebene Manuskript, bei Reimann faksimiliert, ist »Juli 1868, J. Br.« gezeichnet.
39 Anspielung auf den Kontrapunkt von »Du moanst wohl« und »Guten Abend, gut Nacht«.
40 Frau Schumann war anderer Ansicht. Irregeführt von einer Äußerung ihres Freundes, der von der »Rhapsodie« als von seinem »Brautliede« sprach, glaubte sie dessen Verstimmung auf ein Motiv der Eifersucht oder Enttäuschung zurückführen zu müssen. Vgl. Litzmann a.a.O. S. 230.
41 Liszt war im März 1889 zur Aufführung seines Oratoriums, »Die heilige Elisabeth«, nach Wien gekommen und zeichnete auch eines der Konzerte, die Brahms und Stockhausen gaben, mit seinem Besuch aus. In einem seiner Wiener Briefe kommt er auf Brahms und Joachim zu sprechen und nennt sie »mährische Brüder«, d.h. eine abtrünnige Sekte, die, gleich den böhmischen Brüdern, es weder mit den Papisten noch mit den Lutheranern hielt und die Grundsätze des reinen Christentums im Leben zur Durchführung zu bringen suchten: »J'estime sincèrement ces espèces de Frères Moraves, car ils conservent le sens sérieux de l'art!« Ein merkwürdiges Bekenntnis aus der Feder eines Oratorienkomponisten. Er wollte doch damit nicht etwa sagen, daß er seine eigene Kunst am wenigsten ernst nehme? Die Direktion der Gesellschaft der Musikfreunde war jedenfalls anderer Ansicht. Sie beglückwünschte Liszt zu dem begeistert aufgenommenen »epochemachenden Tonwerk« in einem überschwenglichen Dankschreiben, in welchem sie den Komponisten der »Heiligen Elisabeth« den »Tonheroen Österreichs« anreihte.
42 Nach der persönlichen Mitteilung Professor Rudolf Zöllners, damaligen Bratschisten der Hofoper. In den »Signalen«, XXVII, S. 1110, berichtete C.F. Pohl über die Aufführung: »Den Anfang des Konzerts machte Brahms-D-dur-Serenade, der man in allen Teilen mit lebhaftem Interesse folgte. Brahms, der selbst dirigierte und am Schluß wiederholt gerufen wurde, darf wohl mit der Aufnahme seines Werkes zufrieden sein, das, reich an Gedanken und interessant in der Instrumentierung, die Aufmerksamkeit der Zuhörer in steigendem Maße bis zu Ende fesselte.«
43 Der große Musikvereinssaal war am 6. Januar mit einem Gesellschaftskonzert unter Herbeck eröffnet worden.
44 Litzmann, a.a.O. S. 234.
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