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[217] »Viel zerrissenes Notenpapier,« schreibt Brahms am 12. Oktober 1890 an Simrock, »habe ich zum Abschied von Ischl in die Traun geworfen.«
Weise bestellte er sein Haus und sorgte dafür, daß nichts Unfertiges in seinem Nachlasse zurückbleibe. So vernichtete er, was er für wertlos hielt, und konservierte das Brauchbare, um es für den Druck herzurichten. Weit davon entfernt, Jugendsünden zu Alterstugenden machen zu wollen, sah er die sorgfältige Fertigstellung liegengelassener Studien, Skizzen und Konzepte für die einzig ihm noch erlaubte nachschöpferische Produktion an. Hätte er das Bedürfnis gefühlt, sich vor sich selbst zu rechtfertigen, so konnte er, der Wahrheit entsprechend, sagen, daß er nur früher Versäumtes nachhole, wenn er die Zeit, die er für die Ausarbeitung neuer Pläne nicht mehr brauche, mit dem Zurückgreifen auf alte konsumiere. Seiner voreiligen Resignation haben wir, neben einigen von den letzten Klavierstücken, die 13 Kanons op. 113, die »51 Übungen für das Pianoforte«, die 49 deutschen Volkslieder mit Klavierbegleitung und das œuvre posthume der 11 Choralvorspiele für die Orgel zu verdanken.
Schon ihre Stückzahlen deuten an, daß diese Publikationen, von denen die Kanons allein außerdem noch eine Opuszahl tragen, von Sammlungen herrühren, die Brahms in der Jugend angelegt und, mit Unterbrechungen, bis ins Alter fortgeführt hat. Wir brauchen nur an die kontrapunktische Korrespondenz mit Joachim und die kanonischen Ausflüge mit Levi, an den Hamburger Frauenchor und die Düsseldorfer Orgelbank zu denken, um die halbverwehten Spuren jener Kompositionen aufzudecken und bis zum ersten Ausgang zurück zu verfolgen. Sechs von den dreizehn Kanons, und zwar die Nummern 1, 2, 8, 10, 11, 12:[217] »Göttlicher Morpheus«, »Grausam erweiset sich Amor«, »Ein' Gems auf dem Stein«, »Leise Töne der Brust«, »Ich weiß nicht, was im Hain«, » Wenn Kummer hätte zu töten Macht« sind den Stimmheften des Hamburger Frauenchors entlehnt. Nr. 12 trägt in einem der Hefte das Datum 7. Mai 1863. Seinen dreißigsten Geburtstag feierte Brahms in Hamburg, und Hübbe erzählt von einer unverhofften Begegnung, die Brahms mit », seinem Mädchenquartett« – den Schwestern Völckers, Frl. Reuter und Frl. Garbe – im Baurschen Park zu Blankenese hatte.1 Wie, wenn der gesamte Frauenchor sich doch noch ein paarmal um seinen früheren Dirigenten versammelt und einige neue Kanons probiert hätte? Darunter auch solche, die nicht in die Stimmhefte übergegangen sind. Den Kanon »Zu Rauch muß werden der Schmelz der Erden und des Himmels Azur auch« hat Levi ein Jahr später nebst anderen seiner Art, die 1890 noch nicht gedruckt waren, von Brahms in Baden-Baden erhalten.2 Nr. 9 und 13: »Ans Auge des Liebsten« und »Einförmig ist der Liebe Gram«, die beide ebenfalls auf Rückertsche Texte gesetzt worden sind, der von Brahms selbst als »sechsstimmig« bezeichnete Doppelkanon Nr. 13, seltsam genug, mit Benutzung der Melodie des Leiermanns aus Schuberts »Winterreise«:
Brahms hat Rückerts Gedichte in verschiedenen Abschnitten seines Lebens immer wieder zur Hand genommen. 1888 beschäftigten ihn die Vers-, Wort- und Reimspiele der Makamen des Hariri von neuem. »Zu Rauch muß werden« und »Einförmig ist der Liebe Gram« stehen in dem ersten Quartbändchen seiner Liedertexte nicht [218] weit hinter den »Nachtwachen«. Auch das bereits komponierte und in die Hamburger Hefte übergegangene Ritornell »Ich weiß nicht, was im Hain die Taube girret« (op. 113 Nr. 11) kommt dort vor, so daß Brahms 1888 in Thun vergessen hatte, was ihn zwanzig Jahre früher in Lichtental beschäftigte. Da die Melodien zu Nr. 3, 4 und 5 sich schon in den 1858 herausgegebenen »Volks-Kinderliedern« mit denselben Texten vorfinden, (als Nr. 2, 11 und 5), so blieben als nicht nachgewiesen nur Nr. 6 und 7 übrig, die ebenfalls der Düsseldorfer Frühzeit angehören dürften, und Nr. 9 und 13 wären die beiden einzigen, die nach 1888, möglicherweise in Ischl, neu hinzukamen. Aber auch das Jahr 1877 mit Pörtschach und Wüllner käme in Frage. Von dort aus schickte Brahms dem Freunde »ein paar dumme Witze« (Kanons), mit der Verheißung, er werde ihm von Wien aus besseres der Art senden.
Brahms liebte den Kanon, wie er die Fuge liebte, und wurde von den beiden schwierigsten Formen des Tonsatzes wiedergeliebt, weil er sie immer wieder umwarb, auch nachdem er sich längst in ihrem Besitz wußte – wir erinnern nur an seine Variationen über ein Schumannsches Thema op. 9 vom Jahre 1859, in denen nicht weniger als sieben verschiedene Arten kanonischer Verarbeitungen enthalten sind. An sich bedeuteten ihm diese Künste nicht mehr als das Mittel, zum freiesten und gewandtesten Gebrauch des polyphonen Stils zu gelangen, welcher der einzige ist, der, unabhängig vom Wechsel der Moden, den Werken der Tonkunst unerschöpflichen Reiz verleiht und dauerndes Interesse sichert, vorausgesetzt, daß ein musikalisches Genie, kein ängstlicher Pedant, sich ihrer bedient. Bei seinen Fugen und Kanons fragte er: »Ist es, die Kunst darin ungerechnet, gute Musik? Macht das Künstliche es schöner und wertvoller?«3
[219] Den ersten Anstoß, die Kanons zu sichten und zu ordnen, erhielt Brahms möglicherweise von Stockhausen. Dieser gab 1881 seine Gesangsschule heraus, in der er eine Anzahl von Musterkanons aufnehmen wollte, darunter auch solche von Brahms. Zwar erklärte ihm der Freund schon im August 1881, aus seinem Vorrat ein ganzes Dutzend bereit zu haben, fand dann aber so vielerlei zu bedenken und besorgen, daß er nicht zum Entschlusse kommen konnte. Zehn Jahre später, am 2. Oktober 1891, begleitete Brahms die Manuskripte von op. 112 und 113, die er an Dr. Abraham (C.F. Peters) sandte, mit folgenden, seine Zwecke und Absichten deutlich darlegenden Zeilen:
»Hier kommen also op. 112 und 113 zu Ihnen und fragen, ob sie bleiben und sich häuslich niederlassen sollen.
Ihr öfteres freundliches Drängen nach derlei Besuch braucht Sie selbstverständlich nicht abzuhalten, sich gerade diese Gäste zu beschauen und ihren Einlaß zu bedenken.
113 ist ein Opus, für das ich besondere Liebhaberei und besondere Wünsche habe: ›13. Kanons für Frauenstimmen‹.
Zunächst bemerke ich, daß dies nicht die schwierigen Kanons sind, die bei Gelegenheit der Stockhausenschen Gesangsschule in Frage kamen, sondern unschuldige, kleine, verliebte Verse, die leicht und gern von hübschen Mädchen gesungen werden sollten.
Ich möchte glauben, daß (namentlich das häusliche) Quartettsingen durch meine Arbeiten der Art nicht wenig wieder in Aufnahme gekommen ist. Das Gleiche möchte ich vom Kanonsingen wünschen und denke sehr daran, daß Sie ähnliche Sammlungen älterer Meister meinem kleinen Heft folgen lassen sollten.
Wenn Sie nur einiges Zutrauen zu mir haben, so möchte ich, Sie machten es durch billigen Preis möglich, daß die Sängerinnen auch die Partitur als Stimmen benutzen können.
Die Art, wie ich die Partitur eingerichtet habe, ist (soviel ich weiß) neu, und bilde ich mir auf den Einfall mehr ein als auf die Kanons. Ein paar Worte müssen die Benutzung erklären, dazu kann ich wohl die erste (linke) Seite benutzen? ...«
Die Gebrauchsanweisung der Partitur, die zugleich Singvorlage ist, ohne daß die Stimmen alle ausgedruckt zu werden brauchten, findet sich auf der dritten Seite des Notenheftes. Die [220] für Stockhausen ausgewählten »schwierigen« Kanons, über deren Verbleib nichts weiter verlautet, waren ebenfalls so notiert, daß sie gleich aus der Partitur gesungen werden konnten. Vom Eintritt der letzten Stimme an ist die Partitur in Nr. 1, 2, 3, 5, 7, 8, 9, 12, 13 mit Doppelstrichen und Wiederholungszeichen versehen. »Jede Stimme singt zunächst bis an das Ende ihres Systems, dann das durch Doppelstriche Eingeschlossene Zeile für Zeile fort und fängt, wenn sie zum :ǁ gekommen ist, beim ǁ: wieder an.« In der Tat scheinbar eine außerordentlich einfache, ebenso sinnreiche wie praktische Einrichtung, über deren Zweckmäßigkeit die Meinungen der Gelehrten geteilt sind. Gewiß lernt der singende Dilettant durch eigene Anschauung die Arten und Abarten der »fuga canonica« kennen, die in den üblichen Stimmbüchern den Augen des Laien entrückt wird, wie das Allerheiligste. Wohl rühmte sich Brahms, Mandyczewski gegenüber, ein zweites Ei des Columbus auf die Spitze gestellt zu haben. Aber gerade Mandyczewski, der den v. Hornbostelschen Damenchor zur Virtuosität im Kanonsingen ausgebildet und wohl auch damit die unmittelbare Veranlassung zur Auswahl und Publikation des op. 113 gegeben hatte, bevorzugt die herkömmliche, altbewährte Einrichtung von Partituren und Stimmen. Als Brahms zum ersten Male in die Probe kam, um sich die Gesänge bei Frau von Hornbostel anzuhören, begrüßte ihn sein fünfter Kanon mit dem für die Gelegenheit abgeänderten Text: »Wille wille, will, der Brahms ist kommen, wille wille will, was bracht' er dann? Wille wille will, viel schöne Kanons, wille wille will, die wir zu singen han«.
In Nr. 6 (»Solange Schönheit wird bestehn«) haben wir einen Canon per motum contrarium in der Unterterz, in Nr. 8 einen Kanon in der Quint, in Nr. 9 einen Doppelkanon in der Quint und Oktave vor uns; die sechs Stimmen im Kanon mit der Melodie des Schubertschen Leiermanns werden von vier Sopranen und zwei Alten ausgeführt, welche die in Quinten und Sexten begleitende harmonische Unterlage bilden.
Erstaunlich ist bei allen dreizehn, sich in so enger Form bewegenden Stücken die Selbständigkeit ihrer ausdrucksvollen Melodie, welche der Poesie des Textes gerecht wird. Die Melodien sind empfindlich, bis in ihre Gelenke hinein, und verzichten auf [221] chorische Wirkung. »Kanonsingen«, sagt Brahms in einem späteren, denselben Gegenstand berührenden Schreiben an Dr. Abraham, »ist vor allem auch eine gesellschaftliche Unterhaltung und muß improvisiert werden können. Von großen Chören ganz eigentlich geübt zu werden, dazu sind sie nicht geeignet.«
Für den März 1891 war Brahms von den Meininger Herrschaften zu einer Reihe von Lustbarkeiten eingeladen worden, und folgte der Einladung um so lieber, als er, wenn auch indirekt, das Seinige zu der beabsichtigten Kurzweil vorbereitend beigetragen hatte. Die Zeit war gekommen, wo der deutsche Imperialist an dem schweizer Republikaner lustige Revanche nehmen, Böses, aber nicht Bösgemeintes, mit Gutem vergelten und sich am Glück und der Verlegenheit des Freundes weiden konnte. Widmanns »Önone«, die Brahms im Herbst 1888 der Freifrau von Heldburg als Reiselektüre verehrt hatte,4 sollte, vom Banne des gedruckten Wortes erlöst, über die Bretter der herzoglichen Residenzbühne schreiten. Brahms war gerade in Budapest, um am 21. Januar 1891 sein Horn-Trio bei Hubay zu spielen, als er die Botschaft empfing. Er schrieb auf einem Briefbogen, der oben die Aussicht von seinem Hotel (»Hungaria«) auf die königliche Burg in Ofen zeigt:
»Hochverehrte Frau Baronin.
Ihr sehr geehrtes und noch viel lieberes Schreiben kam gerade, da ich in den Wagen steigen mußte, um hierher zu fahren. Obige wundervolle Aussicht zu großer Zerstreuung vor Augen, sage ich ein Wort des Dankes. Es wird wohl alles kommen, wie Sie es freundlich wünschen.
Ich Unwürdiger werde ein griechisch Trauerspiel deklamieren hören, und Ihr jüngster Schiller wird alle Republik vergessen und es sich im Fürstenschlosse, wie wohl! sein lassen. Ich freue mich – vor allem einmal wieder dort zu sein, dann aber Zeuge zu sein, wie Sie sich der Bekanntschaft dieses ganz einzig liebenswürdigen und vortrefflichen Mannes freuen werden. Er ist eigentlich fast ganz Zeitungsschreiber geworden, aber wenn Sie ihn als solchen, wie ich, eingehender kennten, Sie würden ihn [222] nicht bloß für den liebenswertesten seiner Gilde halten, Sie würden auch höchste Achtung und Sympathie für solche Art Tätigkeit empfinden.
Von mir muß ich noch beifügen, daß ich Konzerte überhaupt niemals wünsche, daß ich mich aber ganz innig freue auf jede Morgenstunde, in der wir unter der Säulenhalle des Pompejus5 oder in dem Zimmer der Prinzessin Maria Musik machen dürfen ....«
Das ganze gute, treue, warme Herz des Meisters liegt in den Zeilen. Wie ein Kind freute er sich auf den lieben Zeitungsschreiber, der den oft mißbrauchten und noch öfter mißachteten Beruf zu hohen Ehren brachte, und noch nebenbei ein seiner Dichter war. Auch Wendt sollte sich mitfreuen. Triumphierend meldet ihm Brahms: »Freund Widmann legt nächstens für einige Zeit den Republikaner ab und geht als ›Gast des Herzogs‹ nach Meiningen, wo am 15. März seine Tragödie ›Önone‹ aufgeführt wird. Er wohnt also im Schloß und geht scharwenzelnd mit Hofdamen im Hofgarten spazieren! Ich soll dabei sein – da mag er sich vor schlechten Witzen hüten!«
Der Gast des Herzogs wurde »standesgemäß« mit großem Zeremoniell empfangen. Ein Hofmarschall hieß ihn auf dem Bahnhof im Namen Sr. Hoheit willkommen, eine Hofequipage brachte ihn zum Schlosse, und durch ein Spalier von betreßten Dienern sah er sich dem Herrn des Hauses und Landes zugeführt. Widmann kam, ebenso klug wie freimütig, der übeln Nachrede zuvor und brach den »schlechten Witzen« die Spitze ab, indem er sich selbst nicht schonte und sein höfisches Leben im Feuilleton des »Bund« epilogisierte, wobei die sich um die Kunst ihres Landes wenig bekümmernde Bundesregierung ihr gehöriges Teil wegbekam. Dem Herzog erwies der gewandte Schriftsteller die größte Artigkeit mit der Antithese: »Es kann eben nicht jeder Bundesrat in Kunstsachen ein Herzog von Meiningen sein, aber allerdings könnte der durch und durch freisinnige Herzog von Meiningen sehr wohl [223] ein schweizerischer Bundesrat sein.« Von sich aber bekannte er aufrichtig, daß ihn anfänglich einige Äußerlichkeiten »ein wenig eingeschüchtert« hätten. Einheimische Künstler und zugereiste Gäste, unter diesen Max Grube und Fritz Mauthner aus Berlin, sowie Arnold Ott, der schweizerische Landsmann Widmanns und Verfasser einer ebenfalls zuerst in Meiningen gegebenen »Agnes Bernauer«, belebten den Verkehr. Mit der Zeit ging es immer zwangloser bei Tafel her. Es wurde über die Achthundertjahrfeier in Zürich gesprochen, bei welcher Grube die Regie der Volksschauspiele führen sollte, das Anerbieten aber abgelehnt hatte. Widmann meinte, er wünsche seinen Landsleuten den Herzog selbst als Regisseur, und Brahms ergänzte den Vorschlag des Freundes unter großer Heiterkeit der Herrschaften mit dem Zusatz: »Ja, und als Honorar dafür erhielten Hoheit ein kleines Kantönli«. –
Von Widmann werden wir näher über die Musikaufführungen unterrichtet, die in den Zimmern der Prinzessin Marie und in der »Säulenhalle des Pompejus« stattfanden. Hier wie dort saß Brahms unter den Zuhörern und genoß, wie Ludwig II. von Bayern, das seltene Vergnügen, sich ein Privatissimum der Musik geben zu lassen, mit dem Unterschiede, daß er nicht, wie der unglückliche König, ein Publikum verstorbener fremder Würdenträger aus der Zeit Ludwig XIV. herbeihalluzinierte, sondern die Sessel um ihn her von lebendigen Freunden besetzt sah. Hofkapellmeister Steinbach bestand mit der ersten und vierten Symphonie, der tragischen Ouvertüre und den Haydn-Variationen sub auspiciis magistri sein letztes Rigorosum als Brahms-Dirigent mit Glanz. Brahms war von der elementaren Wirkung seiner c-moll-Symphonie so überrascht und ergriffen, daß er sich die Wiederholung des Werkes ausbat. Einen ganz eigenen Eindruck aber gewann er von dem Kammervirtuosen Richard Mühlfeld, als dieser ein Webersches Klarinettkonzert blies, und der Eindruck vertiefte sich noch in den Matineen der Prinzessin, wo, nachdem er, Brahms, den Klavierpart seines H-dur-Trios gespielt hatte, Mühlfeld die führende Stimme des Mozartschen Klarinettquintetts mit wunderbarem Zauber erklingen ließ. Dr. Ludwig Wüllner aber, der damals am Meininger Theater engagiert war und in Widmanns »Önone« den Thersites meisterhaft darstellte, sang sämtliche Magelonen-Lieder. Während [224] des gemeinschaftlichen Aufenthaltes der Freunde wechselten musikalische Matineen und Soireen mit interessanten Theaterabenden ab, und der referierende Feuilletonist des Berner »Bund« durfte sich zu der Hyperbel versteigen: »In solchen Stunden der höchsten Erhebung des Gemütes, da weilte wirklich die Himmelstochter, die Musik, im Kreise der Hörer, etwa so, wie einst, als Goethe in Weimar seinen ›Tasso‹ oder seine ›Iphigenie‹ dem Hofe vorlas.«
Das achttägige, den befreundeten Musen geweihte Meininger Fest hätte zugleich eine Feier der Genesung bedeuten können, wenn es bekannt gewesen wäre, daß Brahms wenige Wochen vorher eine kurze, aber nicht unbedenkliche Krankheit abermals glücklich überstanden hatte, einen zweiten leichteren Anfall von Influenza. Schon Ende Dezember 1889 war Brahms zum erstenmal in seinem Leben und ziemlich unsanft gemahnt worden, seiner felsenfesten Gesundheit, auf die er sich gern vor andern etwas zugute tat, nicht allzusehr zu vertrauen. Es grassierte damals in Wien, nicht so heftig wie im Jahre vorher und in den folgenden Jahren, jener von den Ärzten »Influenza« benamsete entzündliche Schnupfen, der bei seinem ersten Auftreten für eine Art von Spaß angesehen und behandelt wurde, bis die sich immer häufiger einstellenden Folgeerkrankungen innerer Organe das Lustspiel zur Tragikomödie wendeten, die oft mit dem Tode des von einer akuten Pneumonie befallenen Helden endete. Auch ich hatte eine Attacke der tückischen Krankheit zu erleiden gehabt, und als ich nach einigen Tagen mich wieder, noch etwas schwach, in den »Roten Igel« wagte, wurde ich von Brahms angefahren: »Natürlich, Sie müssen jeden Modeunsinn mitmachen!«
Nicht lange darauf, am 30. oder 31. Dezember, besuchte ich ihn gegen 4 Uhr nachmittags und hörte schon beim Eintritt ins Schlafzimmer, durch die angelehnte Glastür, ein heftiges Schnaufen und Prusten von der Bibliothek her, die immer offen stand. Dort bot sich mir ein halb erheiternder, halb beängstigender Anblick: Brahms stand mit entblößtem Oberkörper über das Becken der in die Mitte des Zimmers gerückten Waschtoilette gebeugt und goß sich unaufhörlich aus einem mächtigen Kruge eiskaltes Wasser über den Kopf. Sein Gesicht war blaurot gefärbt, die Augen glühten, und er sah mit dem triefenden Kopf-und Barthaar aus [225] wie der Triton eines Böcklinschen Meeresidylls. Auf die Frage, was er da tue, antwortete er, zwischen vielen Atempausen keuchend: »Ich kühle mich 'n Bischen ab. Mir ist so suchbar heiß.« (In der Aufregung fiel er in seinen Hamburger Dialekt.) Dabei sah er mich angstvoll und kläglich an. Ich griff nach seiner Hand, die Pulse flogen im hitzigsten Fieber. Durch eigene Erfahrung belehrt, erlaubte ich mir, ihn darauf aufmerksam zu machen, daß er die Influenza habe. Da brummte er ärgerlich: »Warum nicht gar«, trocknete sich eilig ab, zog den Rock an und nötigte mich zum Sitzen. Ich lehnte ab und bat ihn, er möge zum Doktor schicken. Da er sich heftig dagegen sträubte, sagte ich: »Nun gut, so muß ich Sie in die Kur nehmen«, und fuhr im Ton eines ordinierenden Arztes fort: »Sie werden jetzt sofort zu Bette gehen, heißen Tee mit Kognak oder Rum trinken, abends höchstens eine trockene Semmel essen, tüchtig schwitzen, hungern und schlafen. Morgen früh sehe ich wieder nach.« »Ich werde mich nicht ins Bett legen, sondern in den ›Igel‹ gehen, werde keinen Tee, sondern Pilsener Bier trinken, keine trockene Semmel, sondern serbisches Reisfleisch essen,« erklärte er gereizt. »So?« warf ich ein, »dann wird es Ihnen ergehen wie vor hundert Jahren Mozart.« In einer alten Musikzeitung von 1791 hatte ich gerade die Notiz gefunden, daß Mozart an einer »bösen Influenz«, die in Wien viele Opfer forderte, gestorben sei. Die Krankheit war also nichts Neues und auch keine Modesache. Meine möglichst ruhige Mitteilung machte ihn stutzig. »Na,« lenkte er nach kurzem Besinnen ein, »so will ich Ihnen meinetwegen den Gefallen tun. Adjes.« Ich sprach bei Frau Truxa vor und war überzeugt, daß seine Riesennatur sich selbst am besten helfen werde.
Am andern Morgen kam er mir denn auch schon wieder ganz lustig entgegen; aber seine Laune hatte etwas Gezwungenes. Er sah blaß und verstört aus und wollte seine Schwäche verbergen. Nichtsdestoweniger erschien er um 11/2, Uhr pünktlich bei Fellingers zu Tische. Wir trafen uns dann in gewohnter Weise, mehrere Male in der Woche nach Konzerten im »Roten Igel«, wohin er immer gegen 9 Uhr zum Nachtessen zu kommen pflegte. Er redete mich noch eine Zeitlang scherzend mit »mein Lebensretter« an, und die »böse Influenza«, die sich uns beiden so gutartig [226] erwiesen hatte, schien verwunden und vergessen. Daß die Nachricht von Brahms' abermaliger Erkrankung, obwohl diese nur im allerengsten Freundeskreise bekannt geworden war, doch auch weiter hinausdrang, ist dem Schluß eines Briefes zu entnehmen, den Bülow am 8. Januar 1891 an Brahms richtete: »Es hat mich hoch beglückt, von dem Prachtkerl d'Albert bessere (ja ausgezeichnete) Kunde über Deinen Gesundheitszustand zu empfangen, als mir neulich von anderer Seite berichtet worden war. Mögen die Götter Dich zum Heile der Musikwelt und vielleicht auch zum eigenen Pläsier noch lange integer erhalten!«6
Die Krankheit lag ihm wohl noch lange in den Gliedern, und die Praterspaziergänge wurden ihm anfangs sauer, als er von Meiningen über Frankfurt nach Wien zurückgekehrt, dem Echo der Mühlfeldschen Klarinette lauschte, das aus allen Büschen widerklang. Der Frühling bewährte seine belebende Macht. Mit ihm bekamen auch die noch unverwerteten symphonischen Skizzen von 1888 neues Leben. Sie zeigten sich brauchbar und gewillt, Verbindungen mit jungen thematischen Trieben einzugehen, wie die Kammermusikstücke sie erforderten, welche er nun in Angriff nahm. Es hatte seinen besonderen Nebensinn mit der Versicherung, die er in einem an die Baronin von Heldburg gerichteten Dankschreiben laut werden ließ, man trage die Erinnerung an solche Tage als etwas sehr Schönes und Liebes mit sich weiter: Er gehe damit spazieren!
Ehe er sich in Ischl zum Notenschreiben hinsetzte, entwarf er, um seine trüben Gedanken zu bannen, freien Kopf und freie Hand zu haben, folgenden Brief, d.d. »Ischl Mai 1891«, an seinen Berliner Freund, Verleger und Kassierer:7
[227] »Lieber Simrock.
Vor längeren Jahren hatte ich eine Art Testament verfaßt und es in zwei Exemplaren bei mir und einem Freund aufbewahrt. Vor kurzem öffnete ich es und – mußte es vernichten. Man ist in solchem Fall zu weitläufig und will zu vielerlei bedenken. Ich versuche es heute mit dem Allereinfachsten und bitte um die Erlaubnis, Ihnen dies vertraulich mitteilen zu dürfen. Vorkommendenfalls können Sie es als meinen ›letzten Willen‹ vorzeigen und danach tun, soweit Sie können und mögen.
Alle Kosten, die hieraus erwachsen, werden selbstverständlich dem hinterlassenen Vermögen entnommen! Einspruch kann nicht wohl jemand erheben, und wenn nichts anderes, eigentlich vor dem Gesetze Gültiges, da ist, wird man wohl den einfachen Wunsch gelten lassen.
Zum Voraus sage ich, daß ich keinerlei Schulden und Verpflichtungen habe. Sollte sich finden, daß mir jemand schuldet, so erkläre ich das hierdurch für erloschen und ungültig.
Also: Mein Vermögen liegt in der Reichshauptbank, und sind Sie darüber unterrichtet.
I Ich vermache es zu gleichen Teilen dem (Lisztschen) Pensionsverein für Musiker in Hamburg und der Czernyschen Stiftung gleicher Art in Wien.8
II Hiervon gehen ab und sind, so lange die Betreffenden leben, zu gleichen Teilen von beiden Vereinen zu bezahlen:
a) an meine Schwester Elise Grund (durch Christian Detmering in Hamburg) 5000 Mark jedes Jahr.
b) das Gleiche (5000 M.) an meine Stiefmutter Karoline Brahms oder deren Sohn, Uhrmacher Fritz Schnack in Pinneberg.
[228] c) meiner Wirtin Celestine Truxa (falls sie es derzeit noch
10000
ist) 5000 Mark ein für allemal.
Gulden
Außerdem gehört dieser meiner Wirtin, was ich an Möbeln, Kleidern und Wäsche besitze, auch Bilder, die an den Wänden hängen, Teppiche, Decken, Kissen etc. Ausgenommen ist das Medaillon- Bild von Schumann mit Inschrift, ein Lehnstuhl mit Stickerei (Triumphlied!), Ehrengeschenke, Diplome, worüber unter IV.
III Meine Bücher und Musikalien vermache ich der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien.
IV Vorher wünschte ich jedoch, daß meine genaueren und werteren Bekannten und Freunde sich Andenken aus meinem Nachlaß wählen, worüber nicht die Direktion der Gesellschaft, sondern Sie und Herr Mandyczewski zu entscheiden haben, – die Sie beide auch für sich selbst zu wählen hätten.
(Ausgenommen hiervon sind und der Gesellschaft zu übergeben: Die Handschrift der g-moll-Symphonie von Mozart, der 6 Quartetten von Haydn und sämtlicher gedruckter und geschriebener Scarlatti.)
Die gedachten Andenken wünschte ich in liberalster Weise vergeben, doch empfehlen sich hierfür zumeist die vorhandenen Bilder, Kupferstiche, Diplome, Ehrengaben, das Schumannsche Doppelporträt mit Inschrift, obengedachter Lederstuhl und sonstiges der Art. Es ist vielerlei, für diesen Zweck Geeignetes vorhanden, und kann Herr Mandyczewski leicht veranlassen, daß man nichts wähle, was für die Sammlungen der Gesellschaft von Wert sein würde.
Einzelnes anzugeben, behalte ich mir vor; einstweilen bestimme ich für J. Joachim die Skizzen der drei Streichquartette von Schumann, für Christian Detmering meine goldene Uhr samt Kette.
Schließlich, was mich selbst angeht: ich wünschte eigentlich, daß mein Körper verbrannt würde. Läßt es sich machen, so werden die Kosten natürlich dem Vermögen entnommen.
[229] Ebenso wünsche ich, daß alles, was ich Handschriftliches (Ungedrucktes) hinterlasse, verbrannt werde.
Hiefür sorge ich nun, namentlich was Noten angeht, bestmöglich selbst; Sie werden wenig finden, an dem Sie meinen Wunsch erfüllen können.
Sollten sich jedoch die Briefe meiner Eltern und sonst ganz Persönliches finden, so bitte ich Sie dringend, solches ohne irgendwelchen Vorbehalt zu vernichten. Briefe Anderer gleichfalls, soweit sie nicht an die Absender zurückgehen können.
Sollte ich etwas unzweifelhaft Druckfertiges hinterlassen, so schenke ich es hiermit Ihnen. Ich sorge ängstlich, daß nichts Unnützes liegen bleibe! – Ich behalte mir vor, dieses Schreiben zu ergänzen oder auch zurückzuerbitten.
Einstweilen möchte ich Sie bitten, es recht lange aufzubewahren, und bin ich mit herzlichem Gruß Ihr
Johannes Brahms.«
Nicht die ursprüngliche Form dieses in allen Punkten wohlüberlegten, juristisch unanfechtbaren Testaments war die Ursache des langwierigen Erbschaftsprozesses, der um den Nachlaß des Meisters entbrannte, sondern die später daran vorgenommenen, weder formell noch inhaltlich beglaubigten, ungenauen und zweifelhaften Änderungen, Entwürfe zu einschneidenden Korrekturen, die der Interpretation der Rechtsgelehrten einen weiten Spielraum eröffneten. Diese durch Striche im Text, wie oben gezeigt, mit Bleistift ausgeführten Varianten, finden ihre Ergänzung in den, gleichfalls mit Bleistift auf die Rückseite des letzten Blattes hingeschriebenen Zeilen:
»Vermögen u. Bibl. der Gesellschaft zu durchaus freier Verfügung.
Dem Lisztpensionsfond in Hbg.: 3000 Mk.
Der Czernypensionsfond in Wien: 1000 fl.
Stief Mutter oder deren Sohn jährlich 6000 Mk.
Fr. Truxa (falls –) ein für allemal 10 M. fl.
Engelbert Gruber oder Frau in Ischl 10 M. fl.
Mandy (Miller, Faber, Fellinger
Fuchs
Kupfer (Ehrenbürger-Diplom (Gesellschaft
Schumann Medaillon ...«
[230] Was den Testator zur Änderung seines letzten Willens veranlaßte, wird aus dem weiteren Verlaufe seiner sich dem Ende zuneigenden Lebensgeschichte hervorgehen.
Vor allem sei bemerkt, daß das Schriftstück, so wie es hier mitgeteilt wird, das denkbar stärkste Vertrauensvotum für Simrock darstellt und alle von Brahms beliebten, halb scherzhaften, halb ernst gemeinten Beschuldigungen aufwiegt, mit denen er seinen Verleger zu ärgern und zu ergötzen pflegte. Alinea 2 gibt mit den absichtlich gewählten Zeitwörtern Können und Mögen dem Empfänger des Briefes absolute Vollmacht. Simrock kann mit dem Testament anfangen, was ihm recht scheint oder auch nur gut dünkt. Im Falle er davon Gebrauch macht, ist er sowohl der Erklärer wie der Vollstrecker der letztwilligen Verfügung. Das entspricht ungefähr dem fast abenteuerlich anmutenden Inhalt des Briefes über Verlagsangelegenheiten, der kurz vor dem Schlusse unseres zweiten Kapitels wiedergegeben worden ist, und erhärtet zur Genüge, wie unabhängig Brahms sich bis zuletzt von materiellen Gütern zu behaupten wußte. Sein beträchtliches Vermögen, dessen Zinsengenuß er Bedürftigen zuwandte, während er sich den bescheidenen Lebensunterhalt, so lange es ging, durch die Ausübung seiner Kunst redlich verdiente, wurde ihm ebenso zum Symbol wie seine äußeren Ehren, Titel und Ämter. An beidem hatte er Freude, aber er bediente sich weder des einen noch der andern, um vor seinesgleichen zu glänzen oder besondere Vorrechte für sich zu ergattern. Seinem Autornamen den Doktortitel voranzustellen, wäre ihm ebenso albern vorgekommen, wie auf den Geldsack zu klopfen; er lachte über die Narren und Protzen, Streber und Emporkömmlinge aller Kategorien, und es war nicht einmal Stolz, daß er seine ungesuchten verdienten Auszeichnungen vor den gesuchten unverdienten versteckte, mit denen jene prahlten.
Von den kostbaren Handschriften, die er besaß, erwähnt Brahms nur die Partitur der g-moll-Symphonie, die 6 Quartette von Haydn und die alten Abschriften von Scarlatti.9 Alles [231] übrige, die 20 Originalmanuskripte eigener Werke eingeschlossen, wird mit Stillschweigen übergangen. Was aus dem Haufen Papier einmal wurde, bekümmerte ihn nicht. Allenfalls mochte Freund Mandyczwski, der Archivar der Gesellschaft der Musikfreunde, zusehen, was ihm etwa wert scheine, in deren Sammlungen aufgenommen zu werden.10 Die Handschrift seines »Deutschen Requiems«, die 1892 in der Wiener »Musik- und Theaterausstellung« zur Besichtigung auflag, war von einer Freundin, der sie Brahms vor vielen Jahren geschenkt hatte, der Ausstellungs-Kommission eingesandt worden, und erst, als die Gesellschaft der Musikfreunde (nach dem Tode jener Dame) ihn um das Manuskript bat, gab er es ihr. Dies verdient besonders hervorgehoben zu werden, im Hinblick auf andere »Meister« der Tonkunst, die ihre schon bei Lebzeiten unsterblichen Werke mit feierlicher Gebärde irgendeiner Bibliothek in æternam memoriam zu stiften belieben. An sich hat Brahms bei dieser Gelegenheit gewiß nicht gedacht. Es waren, außer den von ihm namhaft gemachten drei Hauptstücken, Noten und Briefe von Komponisten und Dichtern genug da, welche zu Museal- und Studienzwecken dienen konnten, wie dreiunddreißig Skizzenblätter zu verschiedenen Kompositionen und das ganze Skizzenbuch zur Sonate op. 106 von Beethoven, vierundsechzig Blätter von Schubert – darunter die Lieder: »Der Wanderer«, » Morgenlied«, »Zürnende Diana« und der Streichquartettsatz in c-moll – Partituren von Schumann[232] (d-moll-Symphonie, »Ouvertüre, Scherzo und Finale«, Ouvertüre zur »Braut von Messina«, Klavierauszüge und Skizzen, die »Davidsbündler« u.a.), Menuette und Briefe von Mozart, eine Motette von Mendelssohn, sechs Lieder von Weber, drei Klavierstücke von Chopin und zwei von Liszt, sechs Orchesterwerke von Joachim, Grillparzers Komposition zu Heines »Du schönes Fischermädchen«, Berlioz' »La mort d'Ophélie«, Fragmente aus Wagners »Tristan«, Briefe von Beethoven, Cherubini, Hölderlin, E.T.A. Hoffmann, Gottfr. Keller, Paul Heyse, Schopenhauer, Schiller, Goethe, Turgénjew usw.
Als er seine beiden Testamentsexekutoren ermächtigte, einen großen und nicht minder wertvollen Teil seines Nachlasses »in liberalster Weise zu vergeben«, empfahl er Ehrengeschenke, Bilder, Kupferstiche u. dgl.; auch da wäre es ihm wie eine Selbstüberhebung vorgekommen, wenn er, als von sich aus, »genauere Freunde und wertere Bekannte« hätte mit eigenen Autographen bedenken wollen. Auffallend schroff und hart sind die Verfügungen, welche den Nachlaß seiner Briefschaften betreffen. Mit dem Wunsche, alles, was er Handschriftliches hinterlasse, möge verbrannt werden, zielt er vorerst nur auf musikalische Skizzenblätter und unvollendete Kompositionen. Unter dem zum Flammentode verurteilten »Handschriftlichen« versteht er, wie das in Klammer nachgesetzte »Ungedruckte« anzeigt, und auch aus dem Schluß des Briefes hervorgeht, das Nicht-Druckfertige. Daß nichts »Unnützes« liegen bleibe, ist, wie er sagt, seine »ängstliche Sorge«. Darauf soll sein Bemühen gerichtet sein, von »nun« an, d.h. vom Tage dieses Schriftstückes an, bis zu seinem Tode. Die Briefe seiner Eltern und »sonst ganz Persönliches« bittet er dringend »ohne irgendwelchen Vorbehalt zu vernichten, ebenso die Briefe anderer, soweit sie nicht an ihre Absender zurückgehen können«. Vor lauter Eifer gedachte er des himmelschreienden Unrechts nicht, in welches sein auf die äußerste Spitze getriebenes Rechtsgefühl umschlug. Lieber wollte er der Nachwelt den Zugang zu den verborgenen Reichtümern seines Innern, den Eintritt in die Reiche der Vergangenheit, den Weg und die Mittel zum leichteren und sichereren Verständnis seiner Kunst verschließen, als eine Indiskretion gegen Menschen begehen, die ihm ihr Vertrauen[233] geschenkt hatten. Wie er seine an Klara Schumann gerichteten Briefe im Rhein versenkte, so hätte er am liebsten seine ganze Korrespondenz in die Donau geworfen, wenn er gewußt hätte, daß er die Zeit und Kraft, sie durchzumustern, nicht mehr finden würde. Denn die Lebenden, die sich selbst wehren konnten, brauchte und wollte er nicht schützen oder schonen, und die Frage, wer ihm erlaubte, das geistige Eigentum der Toten anzutasten, kam ihm so wenig in den Sinn, wie das damit zusammenhängende Bedenken, ob nicht der gehaltvolle Brief eines bedeutenden Menschen überhaupt nur ein leihweise dem Empfänger überlassenes Gut sei, das, wenn nicht das Leben, so doch der Tod zurückfordere wie hohe Ehrenzeichen.
Er gewann es nicht über sich, die schriftlichen Liebesbeweise der Eltern zu vernichten, und als er nach dem Tode Elisabet von Herzogenbergs ihrem Gatten nahelegte, eine Sammlung ihrer Briefe für Freunde herauszugeben, verweigerte er ihm zu gleicher Zeit ausdrücklich mit dem fast knabenhaften Trotze des Eigentümers seinen ihm von der herrlichen, einst so heiß geliebten Frau anvertrauten Schatz. In dem Schreiben, das Brahms dem trauernden Witwer am 19. März 1892 zugehen ließ, steht die höchst merkwürdige Stelle: »Der Gedanke wird Ihnen jedenfalls nahetreten, den Freunden Mitteilungen aus ihren Briefen zu gönnen. In den meinen bewahre ich – vor allem eine der teuersten Erinnerungen meines Lebens, dann aber auch einen reichen Schatz von Gemüt und Geist, der freilich nur mir gehört. Wie gern hörte ich sie aber zu andern von andern sprechen!« Das klingt fast wie schlecht verhohlene oder gar absichtlich betonte Schadenfreude, anderen Enterbten gegenüber, denen nichts oder wenig von dem Schatz zurückblieb, während Brahms nur die Entschlafene rühmt und sich erkenntlich für das von ihr empfangene Gute erweist, so erkenntlich und so dankbar, daß er es mit niemand auf der Welt, nicht einmal mit dem gebeugten Freunde teilen, sondern alles ganz für sich allein behalten will.
Wie gut, daß gerade diese Forderung seines für ungültig erklärten Testaments nicht nach dem strikten Willen des Erblassers, der übrigens kaum sein »letzter« war, ausgeführt, sondern human und klug, auf Anregung des Erbenvertreters Dr. Josef [234] Reitzes in Wien, mit aller schuldigen Ehrfurcht vor dem großen Toten, weniger umgangen als auf ein vernünftiges Maß reduziert wurde. Der Verlust jener kunstgeschichtlich, ästhetisch, kritisch und menschlich außerordentlich wertvollen Beweisstücke wäre unersetzlich gewesen. Auch wer die Vorgeschichte der in Rede stehenden Klausel nicht kennt, wird als Liebhaber des von der Deutschen Brahmsgesellschaft herausgegebenen Briefwechsels dem Verfasser hierin beipflichten. Josef Gänsbacher hatte vor vielen Jahren von Vater Brahms einen Brief seines Johannes geschenkt erhalten, den der Wiener Gesangsprofessor einer Schülerin weiterschenkte. So lief das intime Familiendokument von Hand zu Hand, bis es als Verkaufsobjekt unter verführerischer Anpreisung in dem Auktionskataloge eines Berliner Antiquars auftauchte, von Hugo Conrat glücklich erstanden und Brahms zurückgegeben wurde. Dies war der lange nachwirkende Anlaß zu der drakonischen, unbilligen Verfügung.
In jenen ernsten Ischler Maitagen, und zwar am 25. Mai 1891, richtete Brahms an seine Schwester Elise, die Witwe des Uhrmachers Grund in Hamburg, die brüderlich ermahnenden Zeilen:
»Liebe Elise, für Deinen lieben Brief danke ich bestens. Er erzählte mir gar so hübsch und ausführlich, wie schön Du wohnst, und wie behaglich Du es genießest; ich ging ordentlich in Gedanken auch dort spazieren und freue mich darauf, wenn ich, wie ich denke und hoffe, zum Herbst all die Herrlichkeit selbst sehe.
Endlich kommst Du ja auch mit dem heraus, was ich mir lange dachte: daß Du in Deinem ›letzten Willen‹ die Kinder ganz beiseite lassen und nur einige Freundinnen bedenken willst. Das ist nun alles ganz gut und schön, aber so recht gefallen will es mir nicht. Kommt Dir denn nicht Dein verstorbener Mann in die Gedanken, und daß er doch wohl ein etwas trauriges Gesicht dazu machen würde? Das Verhältnis zu einer Stiefmutter ist selten ein zärtliches; aber ich meine immer, Du solltest doch bedenken, daß es seine Kinder sind, und daß er doch wohl den leisen Wunsch hätte, Du möchtest einige Teilnahme für sie bewahren.
Außerdem wissen wir nicht, ob ihnen nicht ein Pflichtteil [235] gebührt. Christian [Detmering, Brahms' Vetter mütterlicherseits] und ich könnten in dem Fall Umstände haben. Da möchte ich Dir nun einen Vorschlag machen – doch erst im nächsten Brief, und heute nur beiläufig andeuten, was ich meine.
Es versteht sich, daß ich dafür gesorgt habe, daß sich Deine sorglosen Umstände für den Fall meines Todes nicht ändern. Du brauchst also Dein kleines Vermögen (von Fritz her) nicht für Dich selbst.
Nun meine ich, Du könntest ebensogut bei Lebzeiten und jetzt Deinen Freundinnen schenken, was Du ihnen zugedacht hast – oder einen Teil desselben – so daß von dem, was Du alsdann noch hinterläßt, auch die Kinder bedacht werden können. Es wäre mir sehr lieb, wenn Du mir noch einmal schriebst, wieviel Kinder da sind, und wo, und was sie sind, und wieviel Geld Du hast. (Beides erinnere ich nicht sicher.) Dann kann ich meinen Vorschlag deutlicher machen, und Du überdenkst die Sache auch vielleicht.
Und nun genieße den schönen Sommer fröhlich so weiter und sei herzlich gegrüßt von Deinem Johannes.«
Brahms hielt Wort und sah im November 1891 selbst zum Rechten. Fast eine Woche hielt er sich zwischen den Meininger und Berliner Aufführungen seiner neuen Klarinettstücke, von denen bald zu sprechen sein wird, in Hamburg bei der kranken, wenig liebenswürdigen und verträglichen Schwester auf, welche die ihr vom Bruder regelmäßig erst direkt, dann durch Vetter Detmering übermittelten namhaften Beiträge zu ihrem Haushalt mit schmarotzenden Frauenzimmern vertat. Es entspricht völlig dem Edelmut des mahnenden Johannes, daß er die sechs Kinder Grunds, den Elise, dem Bruder zum Trotz, geheiratet hatte, nach dem Tode der Stiefmutter nicht leer ausgehen wissen wollte. Nötigenfalls würde er auch dafür gesorgt haben. Wie er die Schwester bedachte, haben wir aus seinem letzten Willen erfahren.
Er ließ sich Zeit mit der Absendung des »im Mai 1891« ins Reine gebrachten testamentarischen Briefes. Simrock erhielt ihn erst im August desselben Jahres, dazu die begleitenden Zeilen: »Sagen Sie mir gelegentlich ein Wort über mein heutiges [!] Schreiben, und wenn Ihnen die Geschichte nicht angenehm ist, so schicken Sie mir's ganz einfach zurück... Glauben Sie nicht, [236] daß ich heute früh melancholisch war.« Seine trübe Laune war in den drei Monaten – vom Mai bis zum 20. August – bereits verflogen. Aber daß sie vorhanden gewesen, und daß Brahms sich mit Todesgedanken trug, trotzdem er sein Testament heiter und witzig abschloß, beweisen das Trio und Quintett, die im Ischler Sommer 1891 entstanden.
Das vorwiegend sanfte, elegische Klarinett-Trio ina-moll klingt nach Resignation, manchmal fast wie der Gruß eines verklärten Geistes, der mit dem pathetischen h-moll-Quintett Abschied von der schönen Welt genommen hat. »L'absence« kommt hier vor »Les Adieux«; aber das zweite Stück wurde vielleicht früher empfunden und entworfen, nur später ausgearbeitet und zu Papier gebracht als das erste. Am 12. Juli meldete Brahms das Trio bei Mandyczewski an, der es seinem Notenschreiber Kupfer geben sollte, mit der Frage, ob er es dessen für würdig halte; Gold heiße der Mann ja zum Glück nicht! Zwei Tage darauf schickte er das Manuskript, mit der Weisung, Kupfer möge die Klarinettstimme gleich für die Bratsche übertragen, aber, der hohen Lage wegen, im Violinschlüssel. Er hörte gern ein Wort darüber, ein Hurra brauche es nicht zu sein. Mandyczewski wollte das Trio, das ihm sehr gefiel, gleich probieren lassen, und Brahms hatte nichts dagegen. Doch ehe dies (am 24.) geschah, dankt Brahms am 21. für die freundliche Nachricht und schreibt, er könne Lob und Trio vorläufig auf sich beruhen lassen, um so mehr, als das Stück »der Zwilling einer viel größeren Dummheit« sei, die er jetzt »herauszupäppeln« versuche, dazu benötige er sechs Bogen Querformat mit zwölf Systemen. Das Quintett beschäftigte ihn kaum länger, als er Zeit, um es hinzuschreiben, brauchte. Denn schon am 25. Juli richtete er an die Baronin Heldburg nach der Salet-Alpe am Königssee, die mit dem Herzog von Meiningen um den Tod ihres getreuen Chronegk trauerte, folgenden Brief:
»Verehrteste Frau Baronin. Ihr Brief hat mich ungemein erfreut. Sie schreiben so schön herzlich und warm von Chronegk und Ihrem Verhältnis zu ihm, wie ich es nur irgend gehofft und gewünscht habe. Da mag denn der Tod kommen, Abschied muß einmal genommen sein. Man hat einen Schatz fürs Leben und einen wertesten Besitz – mag er auch dem Auge [237] entschwunden sein. Er wird vielleicht nicht ersetzt, er ist aber auch nicht verloren.
Nun verzeihen Sie, wenn ich ein wenig von mir plaudere. Ich möchte mich nämlich auf das Zudringlichste nach Meiningen einladen! Es ist aber diesmal nicht purer Egoismus. Ganz vertraulich erlaube ich mir zu erzählen, wie sehr ich für Sie gedacht und gar gearbeitet habe. Es ist mir (immer unter uns) nicht entgangen, wie sehr Sie dem herzogl. Kammermusikus und Musikdirektor Mühlfeld geneigt sind, ich habe oft mit Wehmut gesehen, wie mühsam und ungenügend Ihr Auge ihn an seinem Orchesterplatz zu suchen hatte.
Im letzten Winter konnte ich ihn wenigstens einmal vorne hinstellen11 – aber jetzt – ich bringe ihn in Ihre Kemenate, er soll auf Ihrem Stuhl sitzen, Sie können ihm die Noten umwenden und die Pausen, die ich ihm gönne, zu traulichstem Gespräch benützen!
Das Weitere wird Ihnen gleichgültig sein, nur der Vollständigkeit halber sage ich noch, daß ich für diesen Zweck ein Trio und ein Quintett geschrieben habe, in denen er mitzublasen hat, und die ich Ihnen zur Verfügung stelle – zur Benutzung anbiete. Nebenbei ist nun Ihr Mühlfeld der beste Meister seines Instruments, und mag ich für diese Stücke an gar keinen andern Ort denken als an Meiningen.
Einen Wunsch hätte ich in dem Fall noch, ich möchte einen vortrefflichsten Cellisten dazu haben, etwa Herrn Hausmann aus Berlin. Wäre Ihnen dessen Kommen nicht unangenehm? Zu veranlassen wäre er leicht, glaube ich.
Nun aber empfehle ich mich endlich Seiner Hoheit und Ihnen von ganzer Seele, von ganzem Herzen und von ganzem Gemüte und bitte das Geschwätz zu verzeihen Ihrem allerergebensten J. Brahms.«
Seinem Entschlusse, nichts Neues mehr zu schaffen, war also Brahms schon im Sommer 1891 untreu geworden. Wie aus dem humorvollen Schreiben an die Baronin Heldburg hervorgeht, [238] war die Sirene, die ihn verführte, die »Nachtigall des Orchesters«, die Klarinette, und zwar nicht das Instrument im allgemeinen, sondern ein ganz besonderes Exemplar seiner Gattung: die Klarinette des Meiningenschen Kammervirtuosen Richard Mühlfeld, deren persönliche Bekanntschaft er im März gemacht hatte. Zum zweiten Male wiederholte sich das Beispiel, das Anton Stadler, der Klarinettist Mozarts, seinen glücklichen Nachfolgern gegeben hat, und in allen drei Fällen war ein berühmtes Quintett das Ergebnis der Annäherung. Mozarts-A-dur-Quintett und Webers »Quintuor per il Clarinetto principale, due Violini, Viola e Violoncello« op. 34 sind seit 1791 und 1812 oft wieder herausgegeben und neu aufgelegt worden. Es scheint, als habe das Blasinstrument die Werke frisch erhalten; es hauchte ihnen den Odem ein und beseelt sie noch immer. Bei Mozart glauben wir Stadler, bei Weber seinen intimen Freund Heinrich Baermann aus München zu hören: so charakteristisch sind die Stimmen für ihre Bläser behandelt. Zum Schaden des Kammermusikwerkes tritt die Klarinette in dem Weberschen Quintett gar zu gebieterisch hervor, sie weiß, was sie am Munde und unter den Fingern des gefeierten Künstlers bedeutet. Die schwächeren Ecksätze als die glänzenderen waren einmal von größerer Wirkung. Wir, die wir nicht mehr im Virtuosen-Zeitalter leben, neigen uns schon aus diesem Grunde dem in strahlen der Jugendfrische prangenden Quintett von Mozart zu, das den Stil zu wahren weiß und der Klarinette als Prinzipalstimme nur das allerdings wundervolle Larghetto einräumt. Was Weber und Mozart etwa noch zu tun übrigließen, um durchgehends einen alle Teile befriedigenden Ausgleich zwischen den Bläser-und den Geigenstimmen herzustellen, hat Brahms, der Dritte im Bunde, aufs beste besorgt: sein Quintett, sein Trio, seine beiden Sonaten, sind keine Concerti da camera, sondern Kammermusikstücke, welche alle Mitspieler gleichmäßig engagieren, allerdings mit schuldiger Galanterie gegen »Fräulein Klarinette« (so nannte er das Instrument und den Bläser), und wir vernehmen in ihnen die Klarinette Mühlfelds, jenes nur einmal so vorhanden gewesene Organ unaussprechlicher Empfindungen, in welches der große Künstler sein Leben hauchte und aushauchte. »Von ihm geht die Sage«, so schrieb der Verfasser [239] nach den Kammermusiksoireen, die das Quartett Joachim im Januar 1892 mit Mühlfeld und Brahms veranstaltete, »daß er eine Kollektion unsterblicher Rohrblättchen besitze, die aus dem Schilfrohr der von Pan geliebten, von Gäa verwandelten Nymphe Syrinx geschnitten sein sollen. Ein Stuck der Hirtenflöte, mit welcher der Waldgott auf seiner Geliebten oder auf seine Geliebte gepfiffen hat – die Lesarten lassen sich beide verteidigen – steckt jedenfalls in dem Blasinstrument des Herrn Mühlfeld; sonst könnte er nicht so zauberische Klänge daraus hervorbringen.« In der Tat ist Mühlfeld sein eigener Lehrmeister gewesen. Er saß so lange am Geigenpulte des Meiningenschen Orchesters, bis er seine Kollegen eines Tages als der virtuose Klarinettist überraschte, zu dem er sich heimlich ohne Anleitung ausgebildet hatte.
Der allgemeine Charakter der beiden in Rede stehenden Kammermusikstücke, die in Brahms' Katalog als op. 114 und 115, auch der Art nach, eine doppelte Novität repräsentieren, ist bereits festgestellt worden. An musikalischem Gehalt sind sie einander gleich. Geschmack, Neigung und Stimmung mögen das eine oder das andere bevorzugen. Auch darüber ist kaum noch zu streiten, ob die Klangmischung im Trio, wo das Klavier prädominiert, oder im Quintett, wo die Streicher den Ton angeben, von besserer Wirkung sei. Daß sich, außerhalb des Orchesters, Blas- und Streichinstrumente sehr gut, und beide vorzüglich mit dem Klavier vertragen, wußte man auch vor Brahms aus Erfahrung, es war nur etwas in Vergessenheit geraten. Um von den beiden oben angezogenen klassischen Quintetten nicht weiter zu reden, so braucht man nur an Mozarts Es-dur-Trio für Klavier, Klarinette und Bratsche, und Schumanns sich ihm anschließende »Märchenerzählungen«, auch an Beethovens B-dur-Trio für Klavier, Klarinette und Violoncell oder an desselben Meisters Es-dur-Quintett für Pianoforte und Bläser op. 16 zu denken, um inne zu werden, daß das a-moll-Trio keine effektive Neuerung bringt.
Lächelnde Wehmut, die auch Töne tiefen Schmerzes anklingen läßt, ohne daß diese jedoch die Oberhand gewönnen, beherrscht den ersten Satz des Trios, ein Allegro im Alla breve-Takt, der mit einem Poco meno Allegro schließt. Charakteristisch ist das Nachdenkliche, verhalten Sinnende, das überall abdämpfend und [240] beschwichtigend, wenn auch durchaus nicht beruhigend, der Leidenschaft in den Weg tritt.
»Wie war es doch?« – Die Frage nach verklungenen, halb vergessenen, in der Erinnerung zurückgedrängten Erlebnissen tönt immer wieder hervor. Das Gesangsthema der Durparallele in C:
stellt sie und mahnt den Eingeweihten daran, daß aus dem Trio einmal eine Symphonie hätte werden sollen, wie Brahms seinem Meininger Generalissimus Steinbach mitteilte. Die Violoncellmelodie scheint das starke melodische Hauptthema des Satzes:
herbeigeführt zu haben. Mit symphonischer Gewalt breitet es sich erst aus, wenn es vom Klavier gebracht und mit dreiteiligen ruhigen Rhythmen versetzt wird:
Das zweite Thema begegnet sich bald mit seiner eigenen Umkehrung im Kanon:
[241] und spricht für die ungemeine thematische Nutzbarkeit seines Wesens. Ein drittes, mit 1 und 2 verwandtes Thema, das sich gleichsam zur Wahl stellt, bereichert den Satz. Zur Vermittlungs- und Übergangsweise aber hatte sich schon, im Anschluß an 1, eine Melodie angeboten, die weiterhin, zumal in der Durchführung, mit Figurationen abwechselnd, eine hervorragende Rolle spielt:
Ihr Wesen ist das Motiv:
Doppelsinnig möchte es den Eintritt der Repetition verzögern und führt ihn eben dadurch herbei. Das erste Thema tut, als müsse es sein Führeramt niederlegen, wenn die Klarinette, in seufzenden Pausen sich unterbrechend, seinen elegischen Charakter enthüllt:
– gleichsam das Eingeständnis heimlicher Regierungsunlust, und der Mittler reißt, wie häufig bei Staatsumwälzungen, die Herrschaft an sich. Leise streift das Motiv seine melodische Maske ab und erscheint am Eingang der Koda in seiner wahren Gestalt. Diese aber führt sempre pianissimo in übereinanderrollenden Sechzehntelpassagen des Violoncells und der Klarinette zu dem schon von langer Hand her vorbereiteten Durschlusse.
Es ist nicht leicht, sich in das versonnene und versponnene Wesen des Allegros hineinzuleben, und die auf den zusammengedrängten [242] Reichtum einander ähnlicher Gedanken fast allzu eng zugeschnittene Form erschwert das Verständnis. Selten sind bei Brahms die beiden Hauptthemen eines Satzes voneinander rhythmisch so wenig verschieden, wie hier die mit 1. und 2. bezeichneten. Da beide hauptsächlich aus Viertel- und halben Noten bestehen, heben sie sich gegenseitig nicht genügend ab und gestatten in der Entwicklung des Satzes keine besonders starken Kontraste. Und das mag ein Grund mehr gewesen sein, warum keine Symphonie aus ihnen werden wollte.
Das Adagio (D-dur) gibt sich gefälliger, sein polyphoner Satz ist wohl auch nicht so einfach, wie er zu sein scheint. Aber seine ausgesuchten Feinheiten sind so selbstverständlich wie die edlen Umgangsformen eines vornehmen Menschen, der nicht aufzufallen wünscht. Wer bemerkt es gleich, daß zu Anfang des Satzes, der mit einer in zierlichen Bögen geschwungenen Kantilene der Klarinette beginnt, das nachschlagende Klavier die Fortsetzung der Melodie vorausnimmt, so daß diese die Begleitung nachahmt:
und wer hört aus den akkompagnierenden Zweiunddreißigsteln der Klarinette oder den Pizzikato-Sechzehnteltriolen des Violoncells die Thematik so bald heraus? Geheime Ideenassoziationen, welche das Liebesduett der beiden Instrumente mit dem ersten Satze verbinden, können vollends nur an das Divinationsvermögen des Zuhörers appellieren. Stellenweise zerläuft das sanft hinfließende Duett zum Dialog, der wehmütig Hermann v. Gilms schönes Allerseelen-Gedicht heraufbeschwört. Sein schwacher Vers: »Und laß uns wieder von der Liebe reden« besteht hier zu Recht: Wehe dem, der im Mai, anstatt zu lieben, seine Erinnerungen von der Liebe reden lassen muß! Die Altstimme der Klarinette, die sich in ätherischem Glanze mit dem Tenor des Violoncells vermählt, duldet keine Sinnenglut mehr. Zum Organ des Übersinnlichen veredelt, gibt die Klarinette auch dem dritten Satze ein eigentümliches [243] Lüster. An Stelle des munteren Scherzos erscheint ein Andantino grazioso, das einen menuettartigen Walzer in A mit einem steirischen Ländler in D (als Trio) abwechseln läßt. Weder der höfische noch der bäurische Tanz tritt fest auf; die Wesen, die sich nach den Rhythmen der beiden Sätze bewegen, schweben leicht über dem Erdboden dahin und berühren nur manchmal im Fluge die Spitzen der Gräser und Blüten der Kräuter. Die durch den Klangzauber hervorgebrachte visionäre Täuschung eines Geister, reigens wird durch Melodik und Dynamik vervollständigt. In der gebundenen Weise des Hauptsatzes:
sieht man die Zäsuren der achttaktigen, der Klarinette zugeschriebenen Melodie durch Synkopen aufgehoben; aber das Klavier unterbricht an beiden Stellen seine Pausen und tritt im dritten und siebenten Takte mit der Gegenmelodie hinzu:
als besorge es, die lustigen Tänzer könnten aus dem Takt kommen. Klarinette und Violoncell zerpflücken den Kranz der Melodie und werfen einander zärtliche Blumengrüße zu – ein anmutiges Herüber und Hinüber. Einen ganz traumhaften Eindruck bringt die Klarinette mit dem piano hingehauchten Ländler
[244] hervor, der durch das alterierte g (+) die Wirklichkeit drollig parodiert. Das Trio ist so kurz, daß es mit der ebenfalls stark reduzierten Reprise und der Koda zusammen kaum dem Hauptsatze das Gleichgewicht hält.
Soweit die Pole des a-moll-Trios und der e-moll-Symphonie entfernt liegen, und so gegensätzlich beide Werke voneinander geschieden sind, es geht doch ein verwandter Zug mitten durch sie hindurch, und der klassische Zauberkreis der Symphonie berührt sich hin und wieder mit der romantischen Sphäre des Trios. Sogar ein thematischer Zusammenhang zwischen ihnen, mag er noch so sorgfältig versteckt sein, ließe sich nachweisen. Sehr augenscheinlich im Finale, dem lebendigsten und verwegensten Satze des Trios, der die Meinung des Ganzen resumiert. Solange hat der Dichter seine persönliche Empfindung zurückgedrängt und nieder gehalten, nun bricht sie unbändig mit der elementaren Kraft eines wilden Springquells hervor, in dem vom Violoncell angestrichenen, vom begleitenden Klavier sofort kanonisch imitierten Hauptthema:
Seine Leidenschaft möchte alles, durch Resignation teuer Erkaufte preisgeben, sich durch kein Zeitmaß binden lassen. Sanft ermahnt wie eine Stimme von Oben, die Klarinette, in lieblichen Triolen, die dasselbe in die Höhe schießende Thema umschreiben, zur Besonnenheit; und es gelingt ihr, den Rasenden zu beschwichtigen, seinen aufgestörten Geist anderen Gedanken zuzuwenden. Er selbst ruft sich Halt zu mit einer Art mystischer Formel, zwei eingeschobenen Takten, die öfters wiederkehren:
und den kleinen, merkwürdigerweise in der Haupttonart stehenden, Seitensatz im Gefolge haben:
[245] der sich zu einem Kanon in der Gegenbewegung vertieft. Die nachdenkliche Äußerung des philosophisch beruhigten Gemütes, das sich sagt: deine Freuden dürfen keine Realität mehr haben, bricht jäh ab, und mit einem ungeduldigen »Ach was!« stürzt sich der Dichter in den Trubel des vollen Lebensreigens, den das Klavier im zurückgerufenen 2/4 Takt heranbrausen läßt:
In diese Schlußgruppe, die von Klarinette und Violoncell aufgenommen wird, setzt das Klavier mit dem Hauptthema (12) ein. Wiederholung und Durchführung des Satzes fallen in eins zusammen. Bei den kanonischen Imitationen, die sich aus dem Hauptthema ergeben:
meint man, die nach a transponierte e-moll-Symphonie werde beginnen. Gegen den Schluß hin, wo die üppigen Sexten von 15 wieder heranbrausen, meldet sich ein Markato im Zweivierteltakt, unter dem der Boden schwankt, zum Wort, und das Finale bezeigt Lust, wie das des G-dur-Quintetts, in der Csárda einzukehren. [246] Aber streng fast drohend in rhythmischer Vergrößerung, richtet sich das erste Thema auf:
bricht dann kurz ab und bereitet der halb realen, halb phantastischen Lust das ihr bestimmte Ende in Moll.
Hanslick meint in seiner kritischen Besprechung des Trios,12 »nach dem erquickenden kleinen Gedicht des dritten Satzes erscheine das Finale mehr als das Werk tonkünstlerischer Kombination als des freudigen Schaffens«, und spricht, ganz im Sinn des damals allgemein geltenden Urteils, wenn er das Quintett inh-moll für »ungleich bedeutender« erklärt als das Trio. Das bestechendere ist es gewiß, schon wegen seines größeren Reichtums an Klangfarben, noch mehr aber deshalb, weil es zur Wirklichkeit in unmittelbareren Beziehungen steht als das vom Leben fast losgelöste Trio.13 Der unwiderstehliche wehmütige Reiz, den das Quintett auf die Zuhörer ausübt, entspringt dem Gefühle, »daß man vom Liebsten, was man hat, muß scheiden«. In den Klagetönen der Klarinette, welche die führende Stimme bis zum Eindruck der Persönlichkeit steigert, wird das Ende des Werkes mit dem Anfang verbunden, als sollte der Kreis eines individuellen Lebens beschrieben [247] und durchlaufen werden. Goethes »Dauer im Wechsel« ist zu Musik geworden, und die Mahnung der Schlußstrophe: »Laß den Anfang mit dem Ende sich in eins zusammenziehn« wird befolgt. Daneben klingt uns Heyses Lied aus den »Versen aus Italien« von 1880 an, welches beginnt: »Schöne Jugend, scheidest du?« Und wo es dann heißt:
»Wie ein seines Lieb sich kränkt,
Das vom Liebsten scheiden soll:
Immer noch ein letzter Kuß,
Noch ein Seufzer, noch ein Gruß –
Fern noch schwenkt
Sie ihr Tüchlein tränenvoll«.
Da hören wir den Abschiedsseufzer:
der als Leitmotiv das Werk durchbebt und in immer neuen Formen wieder erscheint, bis er mit dem letzten Hauche der Klarinette entschwindet. Es ist selten etwas so tief Ergreifendes gesungen worden wie die in trostloser Öde und völliger Vereinsamung des Herzens hinsterbende und verklingende Melodie entsagungsvoller Sehnsucht:
Sie bildet auch den Abgesang des ersten Allegros, und zwar in dieser Gestalt:
Hier könnte man noch an ein Lebewohl auf Wiedersehen denken, dort gilt es einen Abschied für ewig. Ein einziges solches Parallel-Beispiel beweist schlagender als zehn lange Abhandlungen, mit wie einfachen Mitteln das Genie arbeitet, um die höchsten Wirkungen zu erreichen. Die geringe Vergrößerung des Motivs (1), [248] die fast unmerkliche Verschiebung des Rhythmus und die zweimalige Vorschrift des Crescendo-Diminuendo-Zeichens (in 2, a, b) – das ist alles. Doch sei nicht übersehen, daß am Ende des ganzen Werkes die Klarinette ihr Ade! unvermutet einer Kadenz anfügt, während sie am Schlusse des ersten Satzes den Violinen das Wort als Echo abfängt, um es nach ihrem Sinne zu deuten:
Eben hier, in Beispiel 4, haben wir die Hauptgedanken des Allegros vor uns, die außer dem an zweiter Stelle (b) auftauchenden Leitmotiv eine sanft bewegte, dem Blasinstrument geläufige Figur (a) mit sich führen. Und doch sind die ersten vier Takte des Notenbeispiels, welche das Allegro schließen und eröffnen, nicht eigentlich ein den Satz beherrschendes Thema im gebräuchlichen Sinne des Kunstausdruckes zu nennen. Das Geheimnis des Satzes ist, daß er viele Gedanken, aber kein geschlossenes Thema hat. An dessen Stelle ist eine Reihe von Motiven getreten, die, von dem obersten Leitmotiv beherrscht, gewillt und befähigt sind, verschiedene organische Verbindungen einzugehen und sich zu regelmäßigen Folgen zu ordnen.
Wie ihrem eigenen Triebe gehorchend, schwingt sich die Stimme der Klarinette vogelähnlich mit 4a aus der mit melancholischen Dünsten geschwängerten Atmosphäre auf in den reinen Morgen. »Wen du nicht verlässest, Genius« ... das düstere Gewölk weicht wie vor einer überirdischen Erscheinung zurück. Doch bald findet sich ihre Stimme aus dem sonnigen D dur wieder herab zu den Niederungen, wo Sorgen und Schmerzen zu Hause sind, fluggelähmt und todestraurig. Beethoven, ein Anhänger der [249] Schubartschen Tonartencharakteristik, nannte h moll »die schwarze Tonart«, Schubart selbst »den Ton der Geduld, der stillen Erwartung seines Schicksals«. Bei Bach und andern rechtfertigt sie die ihr zugeschriebenen Eigenschaften. Wir erinnern an Schuberts unvollendet zurückgelassene Symphonie, die sich mit den Kreisen des Brahmsschen Quintetts berührt. Hier aber zeigt sie besonders ihren schwermütigen Ernst.
Sobald die Klarinette von ihrem Aufschwung, der sie bis ins hohe H hinauftrug, sich ermattet auf dem tiefen Fis niederläßt, tragen ihr Viola und Violoncell das Hauptmotiv (1) zu und erweitern es zu einer Melodie, welche von den Violinen übernommen wird:
Neu in ihren acht Takten ist eigentlich nur die Wendung im zweiten, und auch sie könnte, wie alles übrige, von 4a und b abgeleitet werden, wenn man die figurierte Form vereinfachte. Eine energische Willensäußerung:
bringt kräftigere Bewegung in den Satz und veranlaßt die Klarinette, sich an dem mit Sechzehnteltriolenpassagen kolorierten Zusammenspiel der Instrumente lebhafter zu beteiligen. A-dur, die Dominant der Durparallele von h-moll, leitet nach D zu einer innigen, seelenvollen Melodie hin, die, breit fortströmend, sich an Zärtlichkeit nicht genug tut, kein Ende findet; der Motivengruppe des Anfangs gegenüber kann sie das Gesangsthema voll repräsentieren:
[250] usw. in infinitum.
Hier führt die Klarinette, von der zweiten Geige gestützt, das Wort, erste Geige und Bratsche umschreiben den Gesang mit ausdrucksvollen Gegenstimmen und bringen ein hemmendes Sechzehntelmotivchen hinzu. Die Wellen der Melodie gleiten wie der Bach über Kiesel siegreich über jedes Hindernis hinweg und stocken nur, wenn sie bei den Blumen des Ufers verweilen möchten. Wie reizend spielt dieses pianissimo hingehauchte dolce der Klarinette, das den Gesang in eine Kette von Seufzern gliedert:
mit seinem Gram – die Tropfen, welche die Blumen benetzen, sind lauter Tränen. Schon meldet sich, von der Flut herangeschaukelt, das Motiv 4a, der Lockruf der Schmerzen, um in den Beginn des Satzes zurückzuleiten und nach der Repetition an derselben Stelle zur Durchführung überzugehen. Diese täuscht eine nochmalige Wiederholung vor, wendet sich aber vonD in kühnen Modulationen nach cis. Während das Streichquartett die Sextolen des Eröffnungsmotivs (4) geistreich verarbeitet, gibt die Klarinette mit dem ihrem Baßregister zugeteilten Fluggedanken:
dem Figurengewimmel Schwung, zerflattert dann aber und teilt sich mit den Streichern, die abwechselnd mit ihr flogen, in das reiche Tonmaterial, bis die enharmonische Verwechslung von cis und des ein Quasi sostenuto in Des-dur eintreten läßt. In der zarten Episode erscheint das energische h-moll-Thema von 6, seines Trotzes beraubt, ein entwaffneter Mars oder ein Herkules [251] am Spinnrade, der den Faden der Melodie weiter zieht, ohne auf das Drohen und Pochen der Gefährten zu achten. Liebkosend gesellt sich die erste Violine der Klarinette bei und singt ein zärtliches Duett mit ihr, das mit der Melodie Fangball spielt, der Widerstand wird schwächer und schwächer, das zum Forte angewachsene Crescendo sinkt zum Pianissimo herab, und es ist, als sollten Kummer und Weh unter den Blumen entschlafen. Aber eine traurig-süße Erinnerung, das dolce der Klarinette (in tempo) über dem ruhenden Fis des Basses:
mahnt an den Anfang des Satzes und weckt die schlummernden Sorgen auf. Die Identität der Phrase mit den ersten beiden Takten von 5 ist ersichtlich. Die Violinen intonieren wieder ihre rollende Figur (4a), und die Repetition des ersten Teiles nimmt ihren Fortgang. Bemerkenswert ist, daß die Klarinette sich jetzt sofort der Melodie (5) bemächtigt – sie bedarf keiner Einführung mehr und bekennt sich ohne weitere Umschweife als Anregerin und Erweckerin des ganzen Spieles. Noch bemerkenswerter aber erscheint uns das kleine Tongewitter, das die Koda einleitet. Es steht nicht nur im schärfsten Kontrast zu dem anmutigen Gesäusel der vorausgegangenen Parallelstelle, sondern bringt geradezu eine schauerliche Wirkung von dramatischer Kraft hervor. Verzweifelt übertönt in dem sempre più forte der Klagelaut der Klarinette das Tremolo der Geigen; ihre Seufzer wollen uns das Lebewohl der scheidenden Muse bringen.
Die Tragik dieser Szene wird noch überboten von dem Miserere des ihr folgenden H-dur-Adagios. Der himmlische Gesang des Hauptsatzes, der, ein Seitenstück zum Adagio in Beethovens Neunter Symphonie, den Frieden des Himmels zur Erde herabfleht, läßt nicht ahnen, welche Töne gleich darauf angeschlagen werden. Klarinette und erste Violine teilen sich in die seelenvolle, vom Herzen zum Herzen sprechende Melodie. Synkopierte Triolen tragen sie schwebend auf Händen gedämpfter Harmonien:
[252] Erst in ihrer, an das Motiv des letzten Taktes (c) anknüpfenden Fortsetzung spricht sie sich voll und innig aus:
Die erste Violine wird von der zweiten gestützt, um einer aus 11b entwickelten Gegenstimme stand zu halten. Trübungen der Harmonie und Verschiebungen der Melodie bereiten auf den Stimmungswechsel vor, der sich beim Eintritt von h-moll vollzieht. Die Klarinette präludiert mit einer Reminiszenz an den Anfang des Werkes:
einer freien Phantasie über drei Noten:
in denen wir den nach Moll versetzten ersten Takt der Hauptmelodie (11a) wiedererkennen. Wie ein Aufgabethema hat sie die erste Violine im Schlußtakt des Präludiums hingestellt, und sie gehen als Begleitstimme der Takt und Tempo wechselnden Phantasie (4/4più lento) mit. Der thematische Zusammenhang wäre kaum notwendig, um den Mittelsatz vor dem Vorwurf zu schützen, ein in das Adagio hineinkomponiertes Klarinettenkonzert [253] alla Zingarese zu sein. Allerdings wetteifert das Blasinstrument mit dem Primarius einer ersten Zigeunerkapelle, (das Tremolo der tieferen Geigen darf sogar für eine beabsichtigte Nachahmung des Zimbals gelten), und allerdings durchläuft es dabei den ganzen Bereich seines Tonumfanges, die stufenreiche Skala seines Ausdrucksvermögens nebst allen Graden der ihm zu Gebote stehenden Dynamik mit virtuoser Bravour. Vom hinsterbenden Pianogeflüster bis zum gellenden Fortissimoschrei, von hell aufjubelnder Freude bis zum wütendsten Schmerz, vom lauten Glücksgefühl bis zur dumpfen Beklommenheit des in sich zusammenbrechenden Leides, vom D der kleinen bis zum E der dreigestrichenen Oktave hinauf, fehlt kein Ton, keine Nüance, kein Register, und dieses Konzert, dieses Lehrbuch, diese Geschichte der Leidenschaft fand Platz auf acht kleinen Partiturseiten. Trotzdem also diese kurze Phantasie all das Gesagte und mehr enthält, so daß sie jeden Zuhörer auf eine andere Art überrascht und beschäftigt, gehört sie doch eben in dieses Werk und eben in dieses Adagio hinein, weil sie beim Abschied vom Leben, Lieben und Schaffen noch einmal jene Saite des Brahmsschen Gemütes in Schwingungen versetzte, die schon in der Brust des Knaben anklang, als die ungarischen Auswanderer nach Hamburg kamen, die dem Jüngling ertönte, als er mit Reményi zu Joachim und Liszt pilgerte, und die noch im Manne widerhallte, wenn es ihn über die Leitha ins Land der Zigeuner, vom Prater auf die Pußta lockte. Bei der Stelle, wo die Klarinette das Fortissimo der Instrumente mit ihren Schmerzenslauten niederschmettert, droht dem Bläser wie dem Zuhörer das Herz zu zerspringen. Ludwig Dóczi nannte das Adagio den sterbenden Zigeuner, und Brahms lächelte trübe dazu. Beim Schlusse des wiederkehrenden Dursatzes ist es, als trüge ein Engel auf glänzenden Schwanensittigen eine Seele zur himmlischen Heimat über die Sterne empor.
Die beiden letzten Sätze ähneln einander, in der Stimmung wie im Charakter ihrer Themen. Insofern, als die Grundtonart, von einigen Durschlüssen abgesehen, durch alle vier Sätze festgehalten wird – h-moll wechselt nur zweimal mit H-dur: im Hauptsatze des Adagios und in der vorletzten Variation des Finales – nähert sich das Quintett der Suite, im Thema mit [254] Variationen der Serenade. Das Con moto des letzten, wie das Andantino des vorletzten Satzes, das sein »Double«, ein »Presto non assai, ma con sentimento«, unmittelbar nach sich zieht, würden verschiedenen solchen zyklischen Werken zur Zierde gereichen, und man könnte, im Hinblick auf diese allgemeinen Charakteristika, die Behauptung wagen, Brahms habe, nebenbei, eine moderne Erneuerung, beziehungsweise Vermischung jener Tonformen, nach seinem eigenen Sinne, beabsichtigt gehabt.
Sowohl das Thema des Andantinos:
eine melodische Paraphrase des obstinaten Motivs:
wie das des Final-Variationensatzes, das den melodischen Gedanken:
in ähnlicher, hartnäckiger Weise weiterführt, verraten ihre Abhängigkeit von dem Motto des Werkes (1). Die »Atra cura« des Horaz, die sich hinter den Reiter aufs Roß setzt und mit dem Schiffer in den Nachen einsteigt, die »schwarze Sorge«, begleitet in der »schwarzen Tonart« den Wanderer auf seinen stillen Lieblingspfaden und verschönert oder verleidet ihm, je nach wechselnder Gestalt und veränderter Absicht, seine Morgenspaziergänge und Abendwege. Das Motiv schiebt sich immer dazwischen, wenn die Melodie eine andere Richtung einschlagen will, und herrscht als fixe Idee. Ihr zu entkommen, ist unmöglich, und wo es nicht als klagende Nymphe mit dem Einsamen trauert, drängt es sich ihm als neckender Kobold auf:
[255] bald ein Luft-, bald ein Wassergeist, läßt es sich nicht bannen und erhaschen, haucht ihm sehnsüchtige Schauer übers Herz:
und streicht lustig über die hochaufspritzende Flut:
»Fräulein Klarinette« geht auf alle Launen des Tondichters und seiner Dämonen ein und gibt die verblüffendsten Beweise ihrer vielseitigen, verwandlungsfähigen Natur.
Im letzten »Con moto« bezeichneten Satze überläßt die Klarinette das Feld anfangs dem Streichquartett und würzt die angeregte Unterhaltung der Geigen nur mit einigen eingestreuten Brocken. Da der Tondichter in den fünf Variationen des von der Primgeige gebrachten Themas darauf Bedacht nahm, daß die Stimmen einzeln oder paarweise mit der Melodie hervortreten, so darf sich keine über Zurücksetzung beklagen.
Erste und dritte Variation zeigen ein serenadenmäßiges, konzertierendes Gepräge. Dort verändert das Violoncellsolo das Thema:
hier schmückt die Primgeige die erste Hälfte der Variation mit einer Girlande von gebundenen Sechzehntelfiguren:
während die Klarinette den zweiten (regelmäßig wiederholten) Teil mit einer schimmernden Perlenschnur von Stakkatotönen behängt:
[256] Selbst die zweite Violine ging bei der Verteilung des thematischen Materials nicht leer aus, sondern bekam in der H-dur-Variation, mit der Bratsche alternierend, einen figurierten Kontrapunkt zu dem Duett der Klarinette und ersten Geige auszuführen:
Schon hier, wenn sich der Satz vereinfacht, so daß der Zwiegesang ausdrucksvoller hervortritt, fällt die Violine, wie von ungefähr in die traurige Abschiedsweise, welche das Werk durchzieht, und das Ohr des aufmerksam Hinhorchenden wird die prophetische Stimme nicht überhören:
Als hätte die Klarinette jene Anspielung nur halb begriffen und sänne nun nach, bis ihr Verwandtes einfällt, begleitet sie die der Bratsche zugeschobene »con moto« im Dreiachteltakt fortgesponnene Melodie der fünften und letzten Variation:
die sich nur um sich selbst zu bekümmern scheint, mit verräterischen Reminiszenzen an 4 a:
[257] und das »Un poco meno mosso« des Schlusses, von dem unsere Betrachtung ausgegangen ist, läuft in den dunkel verhängten, beklommenen Anfang zurück. Der Kreis schließt sich, das Ziel ist erreicht. Sich zurecht-und zurückzufinden, fällt hier, an der Hand des Meisters, gewiß nicht schwer, aber doch nicht so leicht wie bei dem B-dur-Quartett op. 67, das, seiner formalen Anlage nach, als Vorgänger des Klarinettquintetts anzusehen ist.14 In beiden Werken pulsiert der ungestüme »Wille zum Leben« und wird beide Male bejaht – Brahms war trotz seines tiefen Ernstes und klaren Intellektes kein Pessimist – nur das unbestimmte Vorgefühl des gewissen, nicht mehr fernen Endes, und das herannahende Greisenalter, sprechen ihrQuod non, und der Tondichter phantasiert darüber, in ewigen Herzenstönen den Schluß des oben angeführten Goetheschen Gedichtes ergänzend:
»Danke, daß die Gunst der Musen
Unvergängliches verheißt,
Den Gehalt in deinem Busen,
Und die Form in deinem Geist!«
[258] 1 Walter Hübbe »Brahms in Hamburg« S. 67 und 46f. – II 62f.
2 II 148f.
3 Vgl. die Ausführungen am Beginn des siebenten Kapitels vom ersten Bande! – Wie eingehend sich Brahms mit dem Studium des Kanons beschäftigte, ist aus seinem handschriftlichen Nachlasse zu ersehen. Er hatte sich Schulbeispiele von Moritz Hauptmann notiert und eine Unmenge Kanons von W. Birch, Seb. und Friedemann Bach, Caldara, Haydn, Mozart, Cherubini und Beethoven in Partitur geschrieben.
4 S. 159.
5 Eine Theaterdekoration aus »Cäsar«, die das antike Forum mit der Statue des Pompejus vorstellte und bei Konzerten als rückwärtige Schallwand diente.
6 Die Gerüchte liefen bis in den Juni fort, und Brahms ließ ihnen von Ischl aus in einer Wiener Zeitung ein Ende bereiten mit der Notiz, er sei bei bestem Wohlsein in Ischl eingetroffen.
7 Hanslick stellt in seinem vom 3. April 1897 datierten Aufsatz »Johannes Brahms. Die letzten Tage« (»Am Ende des Jahrhunderts« 365ff.), die Testamentsangelegenheit so dar, als habe er »vor etwa fünf Jahren«, also 1892, Brahms mit Erfolg veranlaßt, seinen letzten Willen schriftlich niederzulegen. Er habe die ihm von Brahms »nach ein paar Tagen« überbrachte, »versiegelte Urkunde« zur Aufbewahrung an sich genommen, sie aber dann an Simrock, der »bald darauf« nach Wien gekommen sei, weitergegeben, weil dieser als der Jüngste von ihnen Dreien die meiste Wahrscheinlichkeit des Überlebens für sich gehabt hätte. Offenbar ließ sich Hanslick von der Erinnerung täuschen und verwechselte den Maibrief mit dem von Brahms erwähnten früheren Testament, das Hanslick stillschweigend an Simrock weitergegeben haben mag.
8 Die Durchstreichungen, welche die Reinschrift des Originals in der oben angedeuteten Weise entstellen, sind erst fünf Jahre später vom Testator vorgenommen worden.
9 Es war die in seinen Besitz gelangte berühmte Sammlung des Abbate Santini. Vgl. Briefwechsel II 46 und 59f.
10 Da »die Gesellschaft der Musikfreunde« in Wien mit anderen Manuskripten die stattliche Reihe Brahmsscher Handschriften erbte, darf sich der Verfasser, wenn auch nur mittelbar, zum Verdienst an rechnen. Erst, als ich Brahms, gestützt auf die materiellen Ergebnisse einer Autographenauktion, vorstellte, wie er dadurch, daß er seine Manuskripte den Verlegern überließ, diesen mindestens dreimal soviel schenkte, als er Honorar von ihnen einnahm, schickte er Kopien zum Druck und behielt die Originale für sich. Dies geschah vom Jahre 1887 an. »Ich steige im Preise,« rief er mir einmal entgegen und schwenkte den Katalog eines Antiquars mit der Land, »was meinen Sie, was ich unter Liebhabern wert bin? Fünf Mark.« So hoch waren zwei auf einer Korrespondenzkarte stehende Zeilen angesetzt. Für das Partiturmanuskript der e-moll-Symphonie, das Friedrich Hegar an seinem 60. Geburtstage zum Geschenk erhielt, wurde 1901 von seinen Züricher Verehrern die Summe von 36000 Frank bezahlt.
11 Mühlfeld hatte auf Brahms' Veranlassung eines der Weberschen Klarinettkonzerte geblasen.
12 »Fünf Jahre Musik«, S. 170.
13 Mandyczewski, der die beiden Werke satzweise, wie sie entstanden, im Manuskript kennen lernte, war der Meinung, das Trio »mit seiner innigen Melodik, mit seinem Prachtschlußsatz« habe Aussicht, eines der populärsten Werke zu werden, das Quintett sei für die allerfeinsten Kenner und Feinschmecker da: »Als ich das einmal«, erzählt er, »Brahms bekannte, nach dem just das Gegenteil eingetreten war, sagte er, Wüllner und Bülow seien derselben Meinung gewesen; so wenig könne man voraussehen, was einem Werke begegnet.« – Demselben Freunde verdanken wir die köstliche, für Brahms' Wesen ungemein bezeichnende Äußerung: »Ich hatte in der letzten Zeit Verschiedenes angefangen, auch Symphonien und Anderes, aber nichts wollte recht werden; da dachte ich, ich wäre schon zu alt, und beschloß energisch nichts mehr zu schreiben. Ich überlegte bei mir, ich sei doch mein Lebtag fleißig genug gewesen, hätte genug erreicht, hätte ein sorgenloses Alter und könne es nun ruhig genießen. Und das machte mich so froh, so zufrieden, so vergnügt, daß es auf einmal wieder ging«.
14 Vgl. II 459.
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