Das künstlerische Gesamtbild Haydns ist so oft gezeichnet worden, daß es überflüssig erscheinen mag, es wieder skizzieren zu wollen. Jedoch mag dieser oder jener Strich, der dem zu starrem Klischee gewordenen Bilde hinzugefügt wird, es nicht unwesentlich ergänzen und vielleicht Licht und Schatten ganz anders verteilt erscheinen lassen.
Unter der Bezeichnung »Papa Haydn« will von denen, die sie anwenden, nicht bloß eine menschliche, sondern vielmehr eine künstlerische Charakteristik verstanden sein. All das, was man mit dem Begriffe des altväterischen, zöpschentragenden, gutmütig-heiteren Allerweltspapas verknüpft, wird im übertragenen Sinne als das künstlerische Wesen des Tondichters Haydn angesehen; jeder von außen, von anderen gegebenen Anregung folgend, nur auf Befehl anderer und zu deren Amusement schreibend, stets humorvoll, immer guter Laune und bestrebt, die anderen in gute Laune zu versetzen, so stellt man sich Haydn vor. Mit Unrecht: Haydn hat es wohl als seine vornehmste Aufgabe angesehen, Musik zu machen und nur Musik; und die Erfüllung dieser Aufgabe beherrscht ihn zuoberst, sie bildet den Grundzug seines Schaffens. Jedoch ist das Musikantische seines Arbeitens nie zum Handwerksmäßigen herabgesunken, und mit Recht konnte er selbst sagen, »er sey nie Geschwindschreiber gewesen, sondern habe immer mit Bedächtlichkeit und Fleiß componirt«. Sicher auch hat er das Inhaltliche, die Idee, nicht zum wesentlichsten Bestandteile seiner Musik gemacht, und das Gedankliche beschwert ihn nur insoweit, als es sich mit der ungetrübten Naivität seines Empfindens, mit seinem im Volktümlichen wurzelnden Denken vereinbaren ließ. Daß er sich aber trotz aller äußeren Einflüsse, trotz aller von ihm verlangten Anpassung an die Gedankenwelt anderer sein eigenes künstlerisches Antlitz bewahren, daß er alle seine Werke zum Ausdruck seiner Persönlichkeit machen konnte, darin liegt die Größe und Bedeutsamkeit dieser künstlerischen Erscheinung. Daß diese künstlerische Natur noch unter Tränen lächeln konnte, nimmt ihr nichts[299] von ihrem Zauber und ihrem Wert. Gott gab ihm eben die Leichtigkeit der Empfindung wie der Erfindung, und das tausendfältige Blütenwunder seiner anmutigen Melodien sproßte auf wie die bunten Feldblumen auf einer der saftig-grünen Fluren seines Heimatlandes. Nicht bloß Blümchen voll tändelnder Grazie sind darunter, sondern manchmal auch schwere dunkle Kelche voll Mahnung des Unendlichen. Und wenn auch das Graziöse, Spielerische in seinen Werken überwiegt, so fühlen wir doch stets darin den Erdgeruch des Bodens, dem sie entsprossen, und das macht sie stark und bleibend.
Der Musizierfreudigkeit Haydns entsprach es, daß sich sein Sinn und seine Vorliebe vorwiegend der Instrumentalmusik zuwandte. Wohl hat er sich darüber beklagt, daß ihm in Eisenstadt und vielleicht sogar in Wien wenig Gelegenheit geboten war, sich mit dramatischen Werken vertraut zu machen, und daß ihm auch mit Ausnahme der Kirchenmusik zur Vokalkomposition wenig gegeben war; wirklich haben erst die beiden Londoner Reisen ihn der Gesangskomposition näher gebracht. Jedoch, wäre der Trieb zur Vokalmusik schon früher in ihm stark genug gewesen, so hätte er die ihn fesselnden Bande, die schließlich keine eisernen Ketten waren, lösen und den Weg zur Vokalmusik finden können. Er war aber ursprünglich vor allem Kapellmeister, der Mann, der gerne mit seinen Instrumentalisten musizierte und für sie schrieb. Speziell für die Instrumentalmusik wird ja die Bezeichnung »Papa Haydn« dahin verstanden, daß er als Vater der Sinfonie oder des Streichquartetts oder der Vater von beiden angesehen wird. Ob und wie weit diese Vaterschaft nachgewiesen werden kann, und wo die andere Elternhälfte zu suchen sei, darüber haben sich die Musikforscher unserer Tage zu wiederholten Malen eingehend geäußert. Die zwei einander gegenüberstehenden musikhistorischen Schulen, die eine, welche die Mannheimer Sinfoniker als die direkten Vorläufer und Anreger Haydns hinstellen will, und die andere, welche den Wiener Vorklassikern dieses Verdienst zuschreibt, haben gewiß mit großem Fleiße und Emsigkeit ihre Argumente und Belege zusammengetragen. Den Kern der Sache erfaßt keine dieser beiden Richtungen: daß es nicht bloß der Vereinigung verschiedener Stilprinzipien bedurfte, sondern einer ausgesprochenen Persönlichkeit, die imstande war, diese Vereinigung restlos durchzuführen, Gebilde zu[300] schaffen, die nicht bloß entwicklungsgeschichtlich wertvoll, sondern künstlerisch wirksam sind. Haydn selbst hat nie ein Hehl daraus gemacht, daß er gerne von jedem Tonkünstler gelernt hat; so wie er gewiß von den Mannheimern manches – wenn auch mittelbar – übernommen hat, so hat er selbst Philipp Emanuel Bach als seinen Lehrmeister angesehen, und hat andrerseits durch faktisch genossenen Unterricht bei Reutter und durch das Aufwachsen in der Wiener: Atmosphäre die wienerische und italienische Art in sich aufgenommen. Der Meister aber, dem er zutiefst verpflichtet war, und der ihm das Mysterium der sinfonischen Musik eigentlich erst erschloß, war der um vieles jüngere Mozart. Nur das Erlebnis der Mozartschen Spätwerke hat in Haydn jene Meisterschaft in der Behandlung der Instrumentalformen reisen lassen, die ihn dazu vermochte, als Krönung seiner Instrumentalkompositionen die 12 Londoner Sinfonien zu schreiben.
Wohl hatte Haydn die grundlegende Gestalt der Sinfonieform, die trotz der Schlichtheit und Einfachheit ihrer Konstruktion bis auf unsere Tage das Gerüst für die erweitertsten und kompliziertesten sinfonischen Gebilde abgibt, vor seiner ersten Reise nach London festgesetzt. Die letzte Sinfonie, die er noch vor seiner ersten englischen Reise herausgebracht hat (Gesamtausgabe Nr. 92), ist eigentlich eine den Londoner Sinfonien vollkommen ebenbürtige und unterscheidet sich in nichts von diesen. Daß die 12 Sinfonien, die er bei seinen zwei Londoner Aufenthalten geschrieben, den von ihm geschaffenen Typus beibehalten, zeigt, daß für ihn die Entwicklung der Form kein Problem mehr war, daß er über die Zeit der tastenden Versuche hinausgekommen war und sich zu einer feststehenden Form bekannte. Hermann Kretzschmar legt in seinem »Führer durch den Konzertsaal« dar, daß die Aufbauarbeit Haydns, vermöge welcher er mit Recht der »Vater der Sinfonie« genannt werden kann, sich in dreifacher Richtung aussprach. Zum ersten durch die endgültige, zur Regel gewordene Einfügung des Menuetts in die Sinfonie und die dadurch zur Regel gewordene Viersätzigkeit, zweitens durch die sorgfältige und bewußte motivische Arbeit und drittens durch die Beseitigung desBasso continuo und Einführung obligater Begleitungsstimmen, besonders in den Bläsern. – Was das Wesen der 12 englischen Sinfonien ausmacht, ist aber nicht allein die technische Arbeit auf[301] Grund der von ihm geschaffenen sinfonischen Form, sondern die geistige Vertiefung dieser Arbeit und die Verinnerlichung der einzelnen Sätze. Nicht darauf kam es ihm an, das Hauptthema des Satzes weiter zu entwickeln, den Durchführungsteil durch kontrapunktische Kunststücke abwechslungsreich zu gestalten, sondern er verstand es, unscheinbare, zellenhafte Motive so mächtig auszugestalten, daß sie im weiteren Ausbau zum Hauptträger des sinfonischen Gedankens wurden und sich wie ein Bogen über den ganzen Satz spannten. Hierdurch erhält der ganze Satz etwas Zusammengefaßtes, Kompendiöses, man steht unter dem Eindruck einer einheitlichen Stimmung und kann es leicht verstehen, daß Haydn, wie er gesagt haben soll, in jedem Satze seiner Sinfonien einen moralischen Charakter darstellen wollte. Erst dadurch, daß er, wenn auch instinktiv, so doch nicht mehr vollkommen naiv gestaltete, bekamen die Werke jenen Reiz, der sie über die Fläche bewußtlosen Instinktes hob, ohne den sicheren und natürlichen Boden zu verlieren. Die Bodenständigkeit Haydns bestand jedoch nicht etwa darin, daß er, wie viele Musikforscher meinen und schreiben, in seinen Sinfonien Volkslieder verwendete. Dort, wo er dies getan hat, geschah es vollkommen bewußt und mit vollkommenem Eingeständnis; zu behaupten, daß seine Themen Volksliedern, welcher Nation immer, entnommen seien, ist falsch. Wohl sind sie volkstümlich, manchmal auch volksliedhaft, aber nie wirkliche Volkslieder. Dazu sind sie zu instrumental erfunden, auch im Gegensatz zu der Mehrzahl der Volkslieder seiner Heimat, die einen Hauch von wehmütiger Sentimentalität haben, zu frisch und ungezwungen, überhaupt nicht derart, daß sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – gesungen wirken würden. Das, was wir als liedhaft oder volkstümlich bei Haydn empfinden, würde auch seine Größe und Meisterschaft nicht ausmachen. Bei aller Innigkeit der langsamen Sätze in seinen Sinfonien, bei aller anheimelnden Gemütlichkeit seiner Menuette, liegt die Stärke des Sinfonikers Haydn in den Allegrosätzen, die auch zu seiner Zeit in der Regel immer den größten Erfolg hatten. Erfolg aber hatten alle Sätze durchweg und unbestritten: wir, die wir jetzt schon die Weiterentwicklung der Sinfonie über Haydn hinaus verfolgen und die Werke Beethovens bereits ganz in uns aufgenommen haben, können natürlich nicht mehr jenen Eindruck von den Haydnschen[302] Sinfonien haben, den seine Zeitgenossen hatten, aber man kann sich vorstellen, daß die Wirkung dieser Werke, in denen sich Eingebung und Meisterschaft so glücklich zu verbinden wußten, zu ihrer Zeit eine starke gewesen sein muß.
Die Reihenfolge, in welcher die Londoner Sinfonien zur Aufführung gebracht wurden (wenn sie auch der Entstehungszeit nicht vollkommen entsprach), ist durch die Numerierung in der Gesamtausgabe gegeben1. Die Nummern 93–98 sind während des ersten Londoner Aufenthaltes aufgeführt worden, die Nummern 99–104 während des zweiten. Wie schon erwähnt, hat Haydn hierbei ältere Werke, und zwar nicht immer sinfonische Werke, mitbenützt; eine Sinfonie Nr. 99, Es-dur – seine Lieblingssinfonie – komponierte er »auf Vorrat« im Jahre 1793 in Wien und nahm sie nach London mit. – Trotz aller inneren und äußeren Gleichartigkeit und trotzdem, wie gesagt, für Haydn die sinfonische Form bereits feststand und er um diese Zeit als Instrumentalkomponist sich auf dem Gipfel der Meisterschaft bewegte, ist doch innerhalb der englischen Sinfonien eine aufsteigende Entwicklungslinie zu verfolgen, die ihren höchsten Punkt in den zwei letzten Sinfonien, der in Es-dur Nr. 103 (mit dem Paukenwirbel) und der in D-dur Nr. 104 erreicht. Nicht mit Unrecht sind daher diese beiden Sinfonien, die übrigens auch in der Breitkopfschen Partiturenausgabe als Nr. 1 und 2 standen, die bekanntesten und beliebtesten, diejenigen, von denen aus man bei der Beurteilung Haydns fortschreitet zu den anderen Londoner Sinfonien hin. Denn über die Londoner Sinfonien und über ein paar Sinfonien Haydns aus seiner früheren Zeit, und zwar nur solche, die durch einen Titel, durch die Bezeichnung eines Satzes ein Kennwort besitzen, geht ja die Vertrautheit des großen Publikums mit Haydnschen Sinfonien nicht. Deswegen sind außer den zwei erwähnten letzten Sinfonien die Sinfonie mit dem Paukenschlag und die Militär-Sinfonie von den Londoner Sinfonien die bekanntesten. Wie oft ist es nicht schon vorher oder nachher geschehen, daß ein Tonstück manchmal nur aus einem derart rein äußerlichen Grunde – um eines Namens, einer Anekdote, eines derben Effektes willen – vor vielen anderen[303] höherstehenden sich in der Gunst des Publikums festzusetzen gewußt hat? Die Trägheit des großen Publikums bedarf solcher Hilfen für die Apperzeption eines Kunstwerkes, besonders in der Musik, wo das Ungedankliche eines Tonstückes derart Gegenständlichkeit erhält. So war es auch mit der Paukenschlag-Sinfonie und mit der Militär-Sinfonie Haydns2. Man muß es zur Ehre Haydns sagen, daß diese beiden Sinfonien, trotz ihrer auf so äußerlichen Gründen beruhenden Beliebtheit, Meisterwerke sind, jedes in seiner Art; und nicht nur die Sätze, welchen diese beiden Sinfonien ihre Bezeichnung verdanken, sind die liebenswerten daran, sondern nicht minder, ja vielleicht noch mehr die anderen. In der Paukenschlag-Sinfonie ist der erste Satz ein Musterbeispiel thematischer Arbeit und der zweite Satz, auch ohne den später hinzugefügten Witz des plötzlich eintretenden Paukenschlags, an den sich so hübsche Anekdoten knüpften, als Variationensatz ausgezeichnet. In der Militärsinfonie ist gleichfalls der langsame Satz zum Namensträger der Sinfonie geworden. Dieser Satz (Andante C-dur) variiert auf einem Thema, das Haydn schon vorher benützt hat; es ist eine französische Romanze »La gentille et jeune Lisette«, die Haydn schon in seiner B-dur-Sinfonie »La reine« (Gesamtausgabe Nr. 85), die er mit anderen für Paris geschrieben und in einem Konzert für die »Lira Organizata« (auf Bestellung des Königs von Neapel geschrieben) verwertet hatte. Hier machte sie Haydn zur Grundlage eines Tongemäldes mit einem verschwiegenen, von Haydn aber anscheinend genau zur Richtschnur genommenen Programm. Welchen Inhaltes dieses Programm ist, darüber sind nur Vermutungen möglich: vielleicht ist es ein militärischer Trauerzug, und das plötzliche Trompetensignal bedeutet »zum Gebet« und Abschied von dem toten Kameraden; vielleicht ist's ein anderer Abschied, der vom Liebchen, und die Alarmtrompete fordert Sich-los-reißen und Hinaus-ins-feindliche-Leben. Der militärische Charakter des Satzes wird außer der Trompetenfanfare betont durch die Verwendung einer Reihe von Schlaginstrumenten (Triangel, Becken, große Trommel), die neben den Pauken dem Orchester beigesellt sind. Übrigens hat auch der erste Satz[304] dieser Haydnschen Sinfonie militärisches Gepräge durch seine rhythmisch-prägnanten Themen, von denen das Seitenthema eine starke Ähnlichkeit mit dem Thema des späteren Radetzky-Marsches von Joh. Strauß (Vater) aufweist.
Alle 12 englischen Sinfonien, ihren Stil, ihren Aufbau kritisch zu zergliedern, würde wohl zu weit führen und vielleicht auch das Genießen, selbst in der Rückerinnerung, abschwächen. Es ist ja das Ureigenste der Haydnschen Sinfonien, daß sie sofort beim Hören starke Wirkung machen, ohne daß man in die Zwangslage versetzt wird, sich kunst-psychologischen Grübeleien hinzugeben. So mögen nur einige besondere Merkmale und eigentümliche Schönheiten einzelner unter diesen zwölfen hervorgehoben werden:
Die III. Londoner Sinfonie) Gesamtausgabe Nr. 95, Breitkopf & Härtel Nr. 3) in C-moll; auffallend vor allem dadurch, daß die sonst regelmäßige langsame Einleitung fehlt und das markante Thema ohne Vorbereitung energisch hereinstürzt. Bekannt und beliebt besonders das Menuett wegen des wirkungsvollen und ausgeglichenste Technik verlangenden Violoncell-Solos.
Die IV. englische Sinfonie in D-dur (Gesamtausgabe Nr. 96), die durch vielfache solistische Verwendung einzelner Instrumente, namentlich der ersten Geige, durch Zierlichkeit und Beweglichkeit der melodischen Linie etwas Konzerthaftes hat; der letzte Satz eine Art perpetuum mobile, wie geschaffen, die Präzision und Feinheit eines Orchesters auf die Probe zu stellen.
Die VI. englische Sinfonie B-dur (Gesamtausgabe Nr. 98, Breitkopf & Härtel Nr. 8); bemerkenswert vor allem dadurch, daß das Thema der Adagio-Einleitung eine nach Moll gewendete Antizipation des Allegro-Themas ist. Hier wird es klarer als in den vorangehenden Sinfonien, daß es Haydn nicht mehr darum zu tun war, mit seiner langsamen Einleitung eine bloße Intrada zum schnellen Teil zu geben, die mit diesem in keinem inneren und äußeren Zusammenhang steht, sondern daß er die Einleitung aus dem langsamen Satz heraus geschaffen hat und sie als geistige Vorbereitung aufgefaßt wissen wollte.
Englische Sinfonie Nr. VII (Gesamtausgabe Nr. 99, Breitkopf & Härtel Nr. 3) Es-dur: bemerkenswert darin das Menuett, das viel kräftigere Töne anschlägt als die Menuette der vorhergehenden. Haydn[305] soll diese Sinfonie, die er im Jahre 1793, also in der Zeit seines Wiener Aufenthaltes nach der ersten und vor der zweiten Londoner Reise schrieb, besonders geschätzt haben, ein Urteil, das wir nicht aus vollem Herzen unterschreiben. Hervorzuheben ist, daß sie als erste unter den Londoner Sinfonien Klarinetten verwendet. Sollte das Salomon-Orchester während Haydns erstem Londoner Aufenthalt noch keine Klarinetten besessen haben, oder mußte sich Haydn mit dem Gebrauch dieses Instrumentes, das in Wien noch gar nicht so allgemein bekannt und in Verwendung war, erst befreunden? Unter den im Jahre 1795 geschriebenen Sinfonien ist eine, die in B-dur (Gesamtausgabe Nr. 102), wieder ohne Klarinetten.
Es mag vielleicht hier am Platze sein, einiges über das Orchester der Haydnschen Sinfonien einzuschalten. Nach authenischen Berichten (vgl. oben S. 10) war beispielsweise das Salomon-Orchester zirka 40 Mitglieder stark, also ungefähr die Hälfte so groß als unsere derzeitigen Sinfonie-Orchester. Es waren aber auch die Säle, was Fassungsraum und Dimensionen betrifft, viel kleiner, durchschnittlich nicht einmal halb so groß wie die heutigen großen Konzertsäle.Hanover square rooms, nach damaligen Begriffen ein sehr geräumiger weitläufiger Konzertsaal, maß 95 Fuß in der Länge und 35 Fuß in der Breite, hatte also ein Flächenausmaß von ungefähr 310 qm, wovon ein gutes Stück für das Podium wegfiel. Das Verhältnis zwischen Orchesterbesetzung und Saaldimension, zwischen Klangstärke und Raum, war ungefähr das selbe wie heute, eher vielleicht ein wenig zugunsten des Klanges verschoben. Es ist daher vollkommen falsch und geradezu stilwidrig, wenn man – wie dies Dirigenten jetzt so gerne tun – bei Aufführungen Haydnscher und auch Mozartscher Sinfonien das Orchester auf eine kleine Besetzung reduziert, um den angeblichen Kammerstil dieser Werke recht zur Geltung zu bringen. Die späteren Sinfonien Haydns, ebenso wie die Mozarts, haben mit Kammermusik nichts zu tun; sie sind gerade als Gegensatz zur Kammermusik, als sinfonische Orchesterwerke, gedacht. Man versuche es lieber, wie dies bei Beethoven schon zur Regel geworden ist, bei unserer großen Streicherbesetzung die Bläser in den Tutti-Stellen zu verdoppeln, und man wird staunen, wie der Sinfoniker Haydn, wenn man aufhört, ihn immer »zierlich« zu finden, ein ganz anderes Gesicht erhält.[306]
IX. englische Sinfonie in D (Gesamtausgabe Nr. 101, Breitkopf & Härtel Nr. 4): Bekannt unter dem Namen »Die Uhr« wegen der tiktakmäßigen, oftmals allein auftretenden Begleitungsfigur im Andantesatz.
Die X. der englischen Sinfonien,B-dur (Gesamtausgabe Nr. 102, Breitkopf & Härtel Nr. 12): ausgezeichnet durch den leichten Fluß der melodischen Gedanken und ihrer sinfonischen Verarbeitung. Den F-dur-Adagiosatz hat Haydn, nach Fis-dur transponiert, auch als Mittelsatz für sein Klaviertrio in fis-moll, jedoch ohne Wiederholung der ersten 16 Takte, verwendet3. Außerdem ist dieses Adagio von einem gewissen Schulze sehr geschickt zu einem Chor mit Orchester »Auf dem Weg zum Heil, zur Wahrheit« arrangiert worden.
Die zwei letzten und krönenden Werke sind, wie erwähnt, die Sinfonie in Es-dur mit dem Paukenwirbel und die Sinfonie inD-dur mit dem eindrucksvollen Quintenmotiv ihrer langsamen d-moll-Einleitung. Das Autograph derEs-dur-Sinfonie hatte Haydn, wie oben berichtet, seinerzeit Cherubini beim Abschied zum Andenken gegeben. Diese beiden Werke sind heute Gemeingut jedes auch nur allgemein musikalisch gebildeten Menschen und zählen mit den beiden großen Oratorien »Schöpfung« und »Jahreszeiten« wohl zu den bekanntesten Werken des Meisters. Die beiden Sinfonien sind von vielen Seiten so eingehend und so trefflich analysiert worden – ich verweise nur auf die Analysen in Kretzschmars »Führer durch den Konzertsaal« –, daß ich mich jeder detaillierten stilkritischen und musiktechnischen Ausführung darüber, die nur längst Gesagtes wiederholen müßte, enthalten kann. –
Bedeuten diese beiden Werke im sinfonischen Schaffen Haydns den Höhepunkt, so bilden sie auch dessen Schlußpunkt; Haydn hat nachher keine Sinfonie, überhaupt kein größeres selbständiges Orchesterstück mehr geschrieben. Nicht aus Ungenüge der physischen und geistigen Kräfte, denn er schenkte dann noch der Welt nebst verschiedenen anderen kleineren Werken seine beiden Oratorien »Schöpfung« und »Jahreszeiten« und neun meisterhafte Streichquartette;[307] aber es fehlte ihm der äußere Anreiz, es fehlten ihm die ständigen Konzerte und das ständige Orchester; er war vielleicht von der Überzeugung durchdrungen, auf dem sinfonischen Kunstgebiete über das Gegebene hinaus nichts mehr schreiben zu können. Dazu kam die entscheidende Wandlung in seinem Schaffen: er fühlte sich seit seinen beiden Londoner Reisen aufs mächtigste zur Vokalkomposition hingezogen. –
Aus der Londoner Zeit rührt noch ein größeres Orchesterwerk her, die im Jahre 1792 aufgeführte Concertante für vier Soloinstrumente (Oboe, Fagott, Violine und Violoncello) und Orchester: ein entzückendes Werk in drei Sätzen, zwar nicht so musivisch durchgearbeitet wie die Sinfonien, aber von unbeschreiblichem Reiz und Wohlklang. Erwähnen wir noch das Konzert für Klappentrompete, das Haydn im Jahre 1796, schon wieder in Wien, für den Trompeter Weidinger, gleichfalls in drei Sätzen (Allegro-Andante-Allegro) schrieb, weiter einige Märsche und etwas Tanzmusik, so haben wir alle Orchesterwerke Haydns dieser ganzen Epoche erschöpft.
Ein Mittelglied zwischen Orchester- und Kammermusik sind die Stücke Haydns für Harmoniemusik. Diese Art des Musizierens ist jetzt, wo die Bläsermusik nur durch die Militärkapellen und die ihnen nacheifernden Blechmusiken repräsentiert wird, leider ganz aus der Übung gekommen, was sehr zu bedauern ist. Es gehen uns dadurch viele eigenartige Klanggenüsse verloren, und der Geschmack der großen Menge wird durch die Auswahl der Stücke und die Art ihrer Darbietung seitens der Blechmusiken ganz verdorben. Die Stücke für Harmoniemusik von Haydn und seinen Zeitgenossen sind jedenfalls, wenn sie dem Publikum auch Konzessionen machen, gute ehrliche Musik, die man sich, besonders im Freien, mit Vergnügen anhört. Haydn hat einige Märsche für solche kleine Bläserbesetzung geschrieben und hat, um der »Feldharmonie« des Fürsten Esterhazy, die von 1791–1795 der einzig verbliebene Rest der fürstlichen Kapelle war, Aufführungsmaterial zu geben, auch einige frühere Kompositionen hervorgeholt, so z.B. die »Sechs Divertimenti«, die schon in den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts entstanden waren. Diese Divertimenti waren für 8 Stimmen geschrieben, gewöhnlich für 2 Oboen, 2 Hörner, 3 Fagotte und Serpent, das im Klange dem Kontrafagott ähnliche Instrument, welches, von schlangenförmiger Gestalt, Mundstück[308] eines Blechinstrumentes, sonst aber Merkmale eines Holzblasinstrumentes besaß. Manchmal waren nur zwei Fagotte, dafür aber Klarinetten vertreten. Die Stücke selbst sind suitenartig, gewöhnlich vier oder fünfsätzig. Der erste Satz ist gewöhnlich ein Marsch, auch als solcher meistens bezeichnet; ein Menuett ist die Regel in allen diesen Partien. Nach Art der französischen Suiten haben die langsamen Sätze manchesmal eine Titelüberschrift:La vierge Marie, Dolcema l'amour, Chorale St. Antoni (wie erwähnt, von Johannes Brahms als Thema für seine Orchestervariationen benützt).
Die Kammermusik hat Haydn, der nicht nur der vielleicht fruchtbarste, sondern auch der vielseitigste aller Komponisten war, natürlich in allen ihren verschiedenen Zweigen gepflegt; seine Hauptwerke auf diesem Gebiete, die letzten Quartette, fallen in die nach-Londoner Epoche und zeigen, daß die in Wien damals und noch heute herrschende Vorliebe für Quartettmusizieren bestimmend und anregend auf sein Schaffen gewirkt hat. –
Die letzten Quartette Haydns, d.h. die vom Jahre 1790 an geschriebenen, umfassen folgende Gruppen:
I. 6 Apponyi-Quartette (69.–74.). Autograph in der Berliner Staatsbibliothek, niedergeschrieben nach der Datierung der Handschrift im Jahre 1793, also zwischen den zwei Londoner Reisen, ganz sicher von Haydn entweder von oder nach London mitgenommen und dort aufgeführt, erschienen sie gedruckt in den Jahren 1795 und 96 bei Artaria, und zwar die ersten drei als op. 73 (in späteren Ausgaben als op. 71), die zweite Serie als op. 74. Die Wiener Zeitung vom 21. Oktober 1795 enthält die Ankündigung: »Drei ganz neue Quartette op. 73 componiert von J. Haydn ... 3 f. Schon seit einiger Zeit haben die Musikfreunde den allgemeinen Wunsch geäußert, von diesem großen Meister neue Quartette zu erhalten. Diese Auflage zeichnet sich durch besondere Genauigkeit, Deutlichkeit und Reinlichkeit aus.« Die Quartette waren aber, wie aus einem von Gaetano Bartolozzi, dem Sohne des Kupferstechers, an die Firma Artaria gerichteten Briefe hervorgeht, schon ein halbes Jahr vorher in London erschienen. Die zweite Folge ist in der Wiener Zeitung des Jahres 1796 am 4. Mai angekündigt: »Drei neue Quartette für zwei Violinen, Viola, Cello op. 74[309] ... 3 f. Diese meisterhaften Quartette sind eben so schön und deutlich gestochen wie die vorhergegangenen drei anderen Quartette op. 73 diesen berühmten Compositeurs, welche vor einigen Monaten in unserer Kunsthandlung erschienen sind.« Die beiden Folgen sind dem Grafen Anton Apponyi gewidmet und umfassen die Quartette in B-dur, D-dur, Es-dur und C-dur, F-dur und g-moll.
II. 6 Erdödy-Quartette, komponiert 1797–99 (75.–80.). In der Wiener Zeitung vom 17. Juli 1799 kündigt Artaria die Herausgabe »der bisherigen letzten 6 Quartette von Haydn« an. »Dieses bisher im Publikum noch nicht gehörte, aber doch, wenn durch nichts anders als schon allein durch die Variationen des Liedes ›Gott erhalte unsern Kaiser‹ so äußerst vortheilhaft bekannt gewordene Werk Haydn's erscheint in unserer Handlung in 2 Lieferungen. Die ersten 3 jetzt ... 3 f. Was wir zur Empfehlung unserer Auflage dieses Werkes zu sagen uns erlauben dürfen, ist, daß noch nichts in unserem Verlage erschienen ist, was dieser, außer der Verzierung des Titelblattes mit dem Portrait des Verfassers, mit allem Fleiß und Kostenaufwand veranstalteten Auflage gleichkäme.« Haydn selbst dankt in einem Briefe am 12. Juli 1799 Artaria, wegen des so lesbaren deutlichen Stiches und schönen Titelblattes, – »Herr Graf Joseph Erdödy schrieb mir viel Schönes und Dankbahres, daß ich endlich solche der Welt communiciert habe«. Am 11. Dezember 1799 konnte Artaria das Erscheinen der zweiten Lieferung anzeigen. Die erste Lieferung op. 75 umfaßt die Quartette in G-dur, d-moll, C-dur (Kaiser-Quartett); die zweite Lieferung op. 76 die Quartette B-dur, D-dur und Es-dur.
III. Zwei Lobkowitz-Quartette (81. u. 82.). Nach dem in Eisenstadt befindlichen Autograph im Jahre 1799 komponiert, bei Artaria erschienen im Jahre 1802 als op. 77, G-dur und F-dur.
IV. Das letzte Quartett (83., irrtümlich als 82. angekündigt), dem Grafen Moritz von Fries gewidmet, komponiert 1803, zuerst erschienen bei Breitkopf & Härtel, dann in verschiedenen Nachdrucken; unvollendet, zwei Sätze – am Schluß Haydns musikalische Visitkarte: »Hin ist alle meine Kraft« –.
Spricht man das Wort »letzte Quartette« aus, so taucht unwillkürlich der Schatten der letzten Quartette Beethovens auf. Ohne diesen Schatten verscheuchen zu wollen, ohne leugnen zu[310] wollen, daß Beethovens letzte Quartette zum höchsten gehören, was Tonkunst bis auf unsere Zeit hervorbringen konnte, muß ich doch den Beethoven zunächst stehenden Platz für Haydn mit seinen Quartetten in Anspruch nehmen. Die Kammermusik, darunter besonders das Streichquartett, harrt noch ihres Historiographen, der Entwicklung und Wesenheit dieses sublimsten Formengebildes der Tonkunst gebührend beschreibt. Er müßte darlegen, wie diese Form durch Beethoven ihre bisher noch nicht erreichte, geschweige denn überbotene Entfaltung erfahren hat; er müßte aber auch ausführen. daß es vor allem Haydn ist, dem wir die Schaffung dieses von allen Genien umschwebten Gebildes zu danken haben, der Sorge trug, es erstarken und gedeihen zu lassen, der ihm die vielgestaltigsten Blüten und herrlichsten Früchte entlockte, so daß alle nachher entstandenen Bildungen nur Schößlinge dieser Mutterpflanze sind.
Wie bei den Sinfonien, verbietet leider auch bei den Quartetten die Raumbeschränkung ein vollständiges Eingehen in jedes einzelne dieser Werke; eine allgemeine Betrachtung mit Hervorhebung einzelner Details muß genügen. Wenn Goethe das Streichquartett mit einem anregenden Gespräch zwischen vier gescheiten Leuten vergleicht, so muß man sagen, daß das Gespräch in diesen letzten Haydnschen Quartetten immer anregender wird und die vier Leute in ihrem Esprit nie erlahmen. Die sechs Apponyi-Quartette sind – wenn auch wahrscheinlich in Wien niedergeschrieben und hier zuerst veröffentlicht – doch sicher unter Bedachtnahme auf London und speziell auf Salomon komponiert. Man wird es daher verzeihlich finden, daß die erste Geige, die nicht gerade virtuos behandelt ist, aber einen Spieler voraussetzt, der über ausgebildete Technik und klangliche Beherrschung seines Instrumentes verfügt, in der Konversation ein wenig dominiert, jedoch den andern Instrumenten so viel Redefreiheit läßt, daß sie nicht untergeordnet erscheinen. Die meisten der Apponyi-Quartette und auch das erste Erdödy-Quartett setzen nicht unmittelbar mit dem Thema des ersten Satzes ein, sondern haben eine ganz kurze Vorbereitung: ein paar Akkorde, »Adagio« oder auch im schnellen Tempo, nur ein paar coups d'archet, um das dann anhebende Allegrothema desto besser hervortreten zu lassen. Nicht immer ist dieses Allegrothema eine wohlgesetzte, kantabel dahinfließende Melodie; das zweite Apponyi-Quartett in [311] D-dur läßt nacheinander alle vier Instrumente, vom tiefsten an, mit einem unruhigen Oktavsprunge beginnen, gleichsam eine zur Diskussion gestellte Frage, bis die erste Geige die Führung übernimmt und den aufgenommenen Faden weiterspinnt. Das fünfte Apponyi-Quartett hat als Einleitung eine 8 Takte lange fanfarenartige Entrada von allen vier Instrumenten unisono gespielt. Aus dem Akkordmotiv der Fanfare ist das dann eintretende Allegrothema des ersten Satzes gebaut. Das sechste Apponyi-Quartettg-moll heißt »Reiterquartett« wegen des im galoppierenden Rythmus hereinstürmenden ersten Satzes, vielleicht auch wegen des über Stock und Stein springenden, zuerst pathetisch einsetzenden, dann bald fröhlichen Schlußrondos.
Was von der Kunst der motivischen Arbeit bei den Sinfonien gesagt wurde, gilt im erhöhten Maße für die Quartette. Hier, wo das Hilfsmittel der verschiedenen Klangfarben- und Kombinationen fehlt, ist die Mannigfaltigkeit, die durch immerwährendes Neugestalten des thematischen Materiales erzeugt wird, um so erstaunlicher Ein besonders hervorhebenswertes Beispiel hierfür ist der erste Satz des zweiten Erdödy-Quartetts in d-moll. Ein würdevolles Thema, zwei Quintenschritte in halben Noten, weswegen das Quartett auch »Quintenquartett« heißt, wird durch alle möglichen kontrapunktlichen Kunststücke: Umkehrung, Engführung, Verkleinerung hindurchgeführt, durch abwechslungsreiche Episoden derart belebt, daß man aus dem Hören und Staunen nicht herauskommt. Eine der blühendsten melodischen Eingebungen Haydns und der Tonkunst überhaupt hat der erste Satz des vierten Erdödy-Quartetts B-dur, von den Engländern »the Sunrise« genannt. Wirklich wie die aufgehende Sonne, alle Herzen weitend, alle Sinne beglückend berührt dieses stolz aufsteigende Thema, das auch Richard Wagner im Ohre klang, als er den Einzug der Gäste in die glänzende Wartburghalle besang.
Zum Unterschied von seinen Sinfonien ist in den Haydnschen Streichquartetten oft das Schwergewicht in den langsamen Satz verlegt. Viele der langsamen Quartettsätze sind der Mittelpunkt, die Krönung des ganzen Werkes; sie zeigen den Melodiker Haydn, der aus der Tiefe eines überquellenden Herzens zu singen weiß, von seiner schönsten Seite. Diese Adagiosätze fließen manchmal dahin wie ein breiter, majestätischer Strom, voll Großheit und[312] voll Heimlichkeiten. Beispiele solcher schöner Adagiosätze bieten das erste und zweite Apponyi-Quartett, sowie das sechste (das Reiterquartett), weiter das erste, das vierte und besonders das fünfte Erdödy-Quartett mit dem berühmten Largo in Fis-dur. Über das letztere, Cantabile e mesto bezeichnet, besitzen wir eine interessante Stelle aus einem der Briefe von Fanny Hensel, der Schwester Mendelssohns, an Moscheles: ...
»Erinnern Sie sich noch, lieber Herr Moscheles, wie Felix an einem der Abende, die Sie im Herbst bei uns zubrachten, das wunderschöne Adagio in Fis-dur aus einem Haydn'schen Quartett spielte? Vater liebte Haydn vorzugsweise, jenes Stück war ihm neu und ergriff ihn wunderbar. Er weinte, während er es hörte, und sagte nachher, er fände es so unendlich traurig. Dieser Ausdruck fiel Felix sehr auf, weil Mesto darüber stand und es doch uns Andern eher den Ausdruck der Heiterkeit gemacht hatte.« Dieses Largo wurde eine Zeitlang von großen Orchestern gerne als besonders wirksames Programmstück, entweder für Streichorchester allein oder auch in einer Bearbeitung mit Bläsern, zur Aufführung gebracht. Der Adagio-Satz im sechsten Erdödy-Quartett hat die Überschrift »Fantasia« und wirkt durch die vornehme Einfachheit der Melodieführung sowie der Satzweise. Ein schönes Adagio mit stark dominierender erster Geige bildet den Mittelsatz des ersten Lobkowitz-Quartetts.
Die übrigen langsamen Mittelsätze sind Variationensätze: ein einfaches liedhaftes Thema Andante mit einigen Veränderungen, manchmal in die kleine Rondoform zusammengezogen. Der bekannteste dieser Variationensätze steht im dritten Erdödy-Quartett: die Variationen über das »Gott erhalte«, weswegen dieses Quartett auch »Kaiser-Quartett« heißt. Die Menuette bewahren im großen und ganzen ihren österreichischen Ländlercharakter. Dort, wo sie aber über die ursprüngliche Gestalt eines Tanzsatzes hinauswachsen, entwickeln sie sich, wenn auch nicht dimensional, aber innerlich, ganz eigenartig und haben schon den Scherzo-Charakter der nach-Haydnschen Zeit. Dieser Art ist beispielweise das Menuett des »Quinten-Quartetts«, das durch seine kanonische Führung so fremdartig klingt, daß es den Beinamen »Hexenmenuett« erhalten hat. Das beste unter allen Menuetten ist das des ersten Lobkowitz-Quartetts G-dur, das man mit seinem aufregenden[313] Trio und seinen synkopierten Rhythmen nicht anders als »beethovenisch« bezeichnen kann. Die Menuette der allerletzten Quartette haben die Tempobezeichnung »Presto« und besagen dadurch, daß nur mehr der Name beibehalten wurde für eine Form, die sich musikalisch und inhaltlich schon in einem ganz anderen Entwicklungsstadium befand. Die letzten Sätze der Quartette sind ziemlich gleichartig in ihrer Gestalt: Rondoform durchsetzt mit Elementen der Sonatenform im Zweiviertel- oder Sechsachteltakt; manchmal auch in Viervierteltakt, wie im Kaiserquartett oder im vierten Erdödy-Quartett B-dur, wo sie Marschcharakter haben. Das letzte Quartett Haydns, sein dreiundachtzigstes, ist unvollendet geblieben. Zwei Sätze, ein Andante grazioso und ein Menuetto, waren wahrscheinlich als Mittelsätze gedacht. Zur Ausführung der beiden Ecksätze fehlte dem greisen Meister die Kraft; darum gab er die Inschrift auf seiner Visitenkarte dem Torso gebliebenen Werke als Entschuldigung mit: »Hin ist alle meine Kraft – alt und schwach bin ich.« Die zwei vorhandenen Sätze sind meisterhaft; nicht mehr von dem Schwung der Erfindung wie die früheren, aber von einer wundervollen Konzentration und Beherrschung der musikalischen Arbeit.
Im 10. Salomon-Konzert des Jahres 1794 wurde nach den damaligen Berichten ein Quintett für 2 Violinen, 2 Violen und Violoncello von Haydn aufgeführt und im nächsten Salomon-Konzert wiederholt. Es erschien auch vier Jahre später bei André & Offenbach als Quintett in C-dur op. 88 von Joseph Haydn; in Wahrheit war es aber von Michael Haydn. Joseph Haydn führt es auch in seinem Verzeichnis der für London geschriebenen Werke nicht an, hat über haupt nie ein Quintett geschrieben. Viel erzählt ist die Anekdote, wonach Romberg ihn bei seinem Besuche in Wien gefragt habe, warum er nie ein Quintett geschrieben habe; Romberg, der eine belehrende Auseinandersetzung erwartete, war nicht wenig verblüfft, als er die Antwort erhielt: »Es ist halt keines bei mir bestellt worden.« Wieso es dazu kam, daß dieses Quintett in C-dur, obzwar der Vorname Haydns nicht genannt war, mit Zustimmung oder Duldung Josephs als von diesem komponiert ausgegeben wurde, ist dunkel.[314]
Sonstige Streicher-Kammermusik aus dieser Epoche ist nicht erwähnenswert; seitdem Fürst Nikolaus I., der Monomane für Baryton, nicht mehr unter den Lebenden weilte, hat sich Haydn mit diesem Instrument nicht mehr weiter beschäftigt.
Nicht so große Begeisterung und Befriedigung wie die Streichquartette vermag die Klavier-Kammermusik Haydns zu erwecken. Haydn war durch den Stand der Technik im doppelten Sinne gehemmt: objektiv, durch die technische Beschaffenheit der Klavierinstrumente jener Zeit, und subjektiv, durch die nach unseren Begriffen noch primitive Fingertechnik der Spieler. Die Klaviermusik hat sich erst spät nach Haydn zu dem entwickelt, was sie heute für die Tonkunst bedeutet; erst durch das Auftreten der Virtuosen, gerade jener, die zu Haydns Zeiten, bei seinem Londoner Aufenthalt, noch Wunderkinder waren, ist das Klavierspiel und damit die Komposition für Klavier weitergebracht worden. Im Gegensatz zu dem polyphonen Stil, als dessen Repräsentanten wir J.S. Bach ansehen können, vertritt Haydn – aber nicht als erster oder einziger – die monodisch-akkordische Stilart; erst aus der Vermischung beider entsprang der moderne Klavierstil, der nicht nur ein pianistischer, also spieltechnischer, sondern auch ein kompositorisch-musikalischer Fortschritt ist. Nach keiner dieser beiden Richtungen können uns heutzutage Haydns Klavierkompositionen, seien sie nun für Klavier allein oder mit Zuziehung anderer Instrumente geschrieben, befriedigen; und es ist schmerzlich zu sagen, daß sie für uns im allgemeinen nur mehr als Lehr- oder Übungsbehelfe, für Schüler oder Dilettanten, in Betracht kommen. Haydn selbst scheint übrigens diesen Kompositionen nicht viel Bedeutung beigemessen zu haben, sonst hätte er nicht selbst so häufig Umarbeitungen für andere Instrumente vorgenommen oder zugelassen. Wie Händel mit seinen Arien, Rossini mit seinen Ouvertüren, so jongliert Haydn mit seinen Klavier-Kammermusikwerken herum; bald tauchen sie als Stücke für Blas- oder Streichinstrumente allein, bald mit Klavier auf, und auch dann gibt's noch alle möglichen Variationen hinsichtlich Zahl und Art der Instrumente. Der im Erscheinen begriffenen Gesamtausgabe wird es vorbehalten sein, in dieses Wirrsal von teils berechtigten, teils unberechtigten Bearbeitungen, Arrangements, Neuausgaben,[315] Nachdrucken usw. Licht zu bringen, obzwar ich bezweifle, daß es in manchen Fällen gelingen wird, vollständige Aufhellung zu erlangen.
Haydn hatte ja oft einige seiner Werke, namentlich die Kammermusikwerke – und dazu berechtigten ihn die damaligen Urheberrechtverhältnisse und mahnte ihn die vernunftgemäße Wahrung seiner Interessen – zweien oder mehreren Verlegern gleichzeitig zur Veröffentlichung überlassen; es ist daher oft schwer zu konstatieren, welche Ausgabe die authentische ist. Soweit nach dem Gesagten eine sichere Feststellung möglich ist, rühren aus der ganzen in diesem Bande behandelten Epoche nur zwei Klaviersonaten her, die eine in C-dur, in London für die Frau des Kupferstechers Bartolozzi komponiert, und eine zweite in Es-dur, der Magdalene v. Kurzböck gewidmet. Klavier-Trios (für Klavier, Violine, Violoncello) sind in größerer Zahl vorhanden; seinen englischen Freunden Bartolozzi und Mrs. Schroeter widmete er je 3 Sonaten für Klavier, Violine und Violoncell, der Fürstin Marie Esterhazy gleichfalls drei; die der Gemahlin des Marschalls Moreau gewidmete Klavier-Violinsonate, über deren Schicksale oben (S. 213 ff.) berichtet wurde, gab er dann nochmals dem Musikalienhändler Johann Traeg als Trio und widmete sie wieder der »Mademoiselle Madelaine de Kurzbeck«. Traeg kündigte ganz stolz an:
»Herr Kapellmeister Joseph Haydn hatte die Güte gehabt, diese Sonate eigends für mich zu komponieren, welche ich mir die Ehre gebe, hiermit allen Kennern und Liebhabern anzubieten. Zu ihrem Lobe etwas zu sagen, würde von mir eine dreiste Anmaßung sein, da Haydn's Werke in ganz Europa geschätzt werden, und sie alle mit dem Stempel der Originalität und Genialität bezeichnet sind. Nur dieses erlaube man mir hier bemerken zu dürfen, daß ich die größte Sorgfalt angewendet habe, sie sauber, rein und korrekt stechen und abdrucken zu lassen, damit das Äußere dem Inneren nur einigermaßen entspreche.«
Sein wahrscheinlich letztes Trio Es-dur erschien 1799 als op. 88 bei Breitkopf & Härtel als Original-Ausgabe »nach dem Autograph gestochen«, war aber zwei Jahre vorher schon bei Artaria als op. 79 erschienen. Ob diese verschiedenen Machenschaften auf Vergeßlichkeit Haydns zurückzuführen sind, oder ob er zu sehr auf die Vergeßlichkeit der anderen spekulierte, wer weiß es? Man kann eben nur immer wiederholen, daß die ungeordneten Verlags-[316] und Rechtsverhältnisse jener Zeit große Schuld an diesen nicht erquicklichen Vorkommnissen haben.
Die Umsetzung von Klavier-Violinsonaten auf Klavier-Trios war besonders leicht, weil, wie schon Pohl im II. Band S. 317 ausführt, in den Klaviertrios das Cello einen ganz unobligaten Part hatte und größtenteils nur zur Verstärkung des Basses diente. Die Violine wird auch manchmal durch Flöte ersetzt, ein Beweis, daß es bei diesen Werken nicht auf Klangeigentümlichkeiten, auf bestimmte Stimmung oder Charakteristik ankam, sondern nur darauf, hübsche, melodisch flüssige Stücke für häusliche Musikübung zu haben4.
Auch die Bläser-Kammermusikstücke sind nicht immer mit Sicherheit als solche zu agnoszieren; viele sind für ganz bestimmte Anlässe oder Ausführende uminstrumentierte Streicher- oder Klavierstücke. Zu den authentischen sind 3 Trios für 2 Flöten und Violoncello zu rechnen, die Haydn 1794 für London komponierte, und deren Autograph in der Berliner Staatsbibliothek liegt; gefällige kleine, spielgerechte Stücke, von denen man der Kuriosität halber eines oder das andere einmal aufführen könnte.
Soviel über die Haydnsche Instrumentalmusik dieser Epoche, die mit der Rückkunft Haydns von London an Bedeutung verliert. Von seinem englischen Aufenthalt an wendet sich das Interesse des Altmeisters der Gesangskomposition zu. Was die menschliche Stimme im Verein mit dem Wortausdruck an tiefgehender Wirkung zu erschürfen vermag, hatte Haydn jetzt erst kennen gelernt, und sein Streben ging dahin, auch hierin seine Meisterschaft zu zeigen. Alle Formen der vokalen Musik, vom Kanon, der aus ein paar Takten besteht, bis zum mächtigen, die Hörer stundenlang im Banne haltenden Oratorium, hat er gepflegt und gemehrt.
Bei Betrachtung seiner Gesangskompositionen beginnen wir mit den Liedern.[317]
Unter den verschiedenen Liedkompositionen Haydns aus seiner späteren Epoche verdient sein »Gott erhalte«, das – ursprünglich als österreichische Kaiserhymne komponiert – durch den hinzugedichteten Text »Deutschland, Deutschland über alles« zum deutschen Nationalliede geworden ist, besondere Hervorhebung. Über die Einzelheiten der Entstehung vgl. oben S. 115ff.; hier sollen nur die Musik und ihre verschiedenen Texte noch ein wenig näher betrachtet werden.
Auffallend ist, daß Haydn in dem eigenen Verzeichnis seiner Werke von 1805 das Lied anzuführen vergaß; es erging ihm hierbei eben wie manchem anderen, der das Selbstverständliche und Zunächstliegende leicht übersieht.
Vielleicht war dieses Übersehen mit ein Grund, weswegen man von manchen Seiten behauptete, die Melodie des »Gott erhalte« sei gar nicht von Haydn. Die erste dieser Plagiatbeschuldigungen stammt aus dem Jahre 1837, 28 Jahre nach Haydns Tod. Damals starb Nicola Zingarelli, und ein Mailänder Blatt »Cosmorama teatrale« behauptete in einem dem Andenken Zingarellis gewidmeten Artikel, er sei auch der Komponist der berühmten österreichischen Hymne »Gott erhalte Franz den Kaiser« gewesen. In Wahrheit verhielt sich die ganze Sache so: Der Text der Volkshymne war bald nach ihrem Erscheinen ins Italienische übersetzt worden, und zwar von zwei verschiedenen Autoren: Giuseppe Bombartini und Giuseppe Carpani. Diese letztere Übersetzung hatte Zingarelli nun als Text für eine mit Haydns Stück gar nicht identische Festkomposition benützt, die aber wenig Anklang fand und bald verschwand. Wie das schon so vorzukommen pflegt, wurde die Behauptung des Mailänder Blattes von verschiedenen Biographen und Autoren, selbst in Deutschland, aufgegriffen, bis Anton Schmid5 durch Abdruck der Zingarellischen Komposition nachwies, daß die letztere mit Haydns Volkshymne auch nicht die entfernteste Ähnlichkeit aufweist. Bezeichnenderweise benützte ein anderes ausländisches Musikblatt »La Revue et Gazette musicale« diesen Verteidigungsartikel, der Haydns Autorschaft nachwies, dazu, um (am 2. Dezember 1842) zu behaupten,[318] es sei in Wien soeben der Nachweis er bracht worden, daß das österreichische Volkslied »Gott erhalte« nicht von Haydn, sondern von Zingarelli herrühre.
Neben dieser Anschuldigung des äußeren Plagiates, die Haydn die Autorenschaft am »Gott erhalte« ganz absprach, gibt es andere, die Haydn zwar die Urheberschaft lassen, ihn aber des inneren Plagiates bezichtigen, d.h. behaupten, er habe die Melodie gestohlen. Besonders hat sich in dieser Richtung Herr Fr. Kuhač (recte Koch) hervorgetan, welcher den Nachweis zu erbringen versuchte und seiner Meinung nach erbrachte, daß Haydn erstens gar kein Deutscher und Niederösterreicher, sondern ein Kroate, zumindestens seiner Abstammung nach, gewesen sei, daß alle seine Themen kroatischen Ursprunges seien, und daß speziell die Melodie des »Gott erhalte« ein in Kroatien ganz bekanntes altes kroatisches Volkslied sei, das Haydn ganz einfach als eigene Komposition ausgegeben hätte6.
Merkwürdigerweise wurde diese Behauptung besonders in England geglaubt und verbreitet, und im Lexikon von Grove findet sich allen Ernstes die Angabe, das »Gott erhalte« sei ein kroatisches Volkslied, und Haydn sei überhaupt ein kroatischer und kein deutscher Komponist. Da diese von Kuhač vorgebrachte Beschuldigung der unrechtmäßigen und uneingestandenen Verwendung kroatischer Volksmelodien durch Haydn sich nicht nur auf das »Gott erhalte«7, sondern auch auf die Instrumentalwerke Haydns erstreckt, soll hier dazu Stellung genommen werden. Vorausschicken will ich, daß wohl niemand Haydn oder irgendeinem Tonsetzer daraus einen Vorwurf machen dürfte, daß er Volkslieder, und seien es auch solche fremder Nationalität, in seinen Werken künstlerisch verwertet. Das haben Beethoven, Schubert, Brahms und andere mit dem größten Erfolg und Beifall getan. Es ist auch weiter gänzlich belanglos für die Wertung Haydns sowohl wie der deutschen oder kroatischen Nation, ob wirklich ein Ur-Vorfahre[319] Haydns aus Kroatien eingewandert ist oder nicht; soweit die Abstammung Haydns erforscht werden konnte, ist dies allerdings nicht erwiesen worden. Aber alle diese unbewiesenen Behauptungen dazu zu benützen, um den kroatischen Volksliedern eine Bedeutung für das Schaffen Haydns beizumessen, die ihnen nicht gebührt, dem muß doch entgegengetreten werden. Am klarsten und bündigsten fertigte Ernst Rychnowsky8 diese ganze Frage ab: »Ob Haydn, wie behauptet wurde, kroatische Volkslieder als Themen benützt hat, oder ob umgekehrt seine instrumentalen Themen zu Volksliedern geworden sind, läßt sich so leicht nicht entscheiden. Trifft ersteres zu – klare Beweise sind absolut nicht erbracht worden –, so liegt gar kein Grund vor, nationales Kapital daraus zu schlagen.«
Harmloser, dabei doch interessanter als die Behauptung von Kuhac sind die Untersuchungen und Feststellungen darüber, daß einzelne Melodieteile und Motive des Liedes sich schon in verschiedenen früheren Kompositionen vorfinden.
Einige Belegstellen für diese »Wandernde Melodie« hat schon W. Tappert (Musikalische Studien, 1868) aufgezeigt; sie sollen hier, vermehrt durch andere, abgedruckt werden, können aber gewiß noch Ergänzungen finden.
3. Aus Sperontes »Singende Muse an der Pleiße«, Leipzig 1736
[320] 5. Aus »Chur-Trier'sches Gesangbuch 1786«: »Kirchenlied auf die verordnete Donnerstägige Procession«.
7. Aus einem Rondeau f. Clavier in dem 1728 zu Hamburg von G.P. Telemann herausgegeben ersten deutschen Musik. Journal »Der getreue Music-Meister«.
9. Aus der »Gewitteranglaise« von Chr. G. Breutkopf (Terpsichore 1789).
10. Aus Jos. Haydn »Messe C-dur« (Mariazellermesse) Benedictus.
Daß Haydn diese Vorläufer seiner Melodie gekannt oder sich auch nur der Anleihe bei seinen eigenen Werken bewußt war, ist nicht anzunehmen. Das »Gott erhalte« ist wie aus einem Guß, und der Bau der Melodie ist ein Meisterstück ersten Ranges. Das innig-Schlichte, dabei doch feierlich-Erhabene der Weise ist wie keine andere dazu geeignet, ein Volksgesang zu sein und dem Hochgefühl einer großen Menge Ausdruck zu verleihen; mit den einfachsten[321] Mitteln ist hier wirklich die größte Wirkung erzielt. Daß Haydn selbst von dieser seiner Komposition sehr viel hielt und sie sich häufig an Stelle einer Kirchenmelodie vorspielte, ist oft erzählt worden. Für das Gebiet der Variationen und freien Fantasien bildete und bildet noch heutzutage das Lied ein unerschöpfliches Feld. Beethoven hat in einem seiner Konzerte eine freie Fantasie über das »Gott erhalte« gespielt, in einer am 23. Mai 1799 aufgeführten Ouvertüre »Der Tyroler Landsturm« hat Salieri die Hymne verwertet, zahllos sind die Variationenwerke, Ouvertüren, Fugen und Fantasien mit Benutzung der Melodie. Die Krone aller dieser Bearbeitungen sind wohl die von Haydn selbst komponierten Variationen in seinem Streichquartett op. 75 Nr. 3 (C-dur). Nicht unerwähnt soll bleiben, daß die Melodie im Laufe der Zeit hie und da ein klein wenig verändert, d.h. falsch wiedergegeben wurde; speziell im Schlußteil
wurde dem e bei »erhalte« oft ein langer, oft ein kurzer Vorschlag vorgesetzt, ebenso der Vorschlag bei
kurz, manchesmal lang gespielt9. Namentlich die österreichischen Militärkapellen spielten lange Zeit hindurch eine ganz falsche Version der Melodie. Jetzt ist aber so ziemlich überall die ursprüngliche Fassung, über die man sich aus den stark verbreiteten Faksimiles des Autographs10 leicht informieren kann, in Geltung.
Vielgestaltig und mannigfaltig sind die Wandlungen, welche der Text des Liedes durchgemacht hat. Über die Persönlichkeit des Verfassers Lorenz Leopold Haschka wurde schon früher (S. 115 f.) gesprochen, auch über seine dichterischen Qualitäten. Gelegenheitspoet, wie es Haschka war, haben die Verse, die ursprünglich der Haydnschen Komposition als Unterlage gedient haben, auch ganz den Charakter von Gelegenheitspoesie. Dennoch hat Haschka mit den Eingangsworten »Gott erhalte« ein Wort geprägt, das mit der Melodie verbunden blieb, und das die meisten späteren Umdichter immer mit herübergenommen haben. So sei ihm darum[322] sein Mitverdienst an der Schaffung und der Lebenskraft dieses jetzt zum Volksgesange gewordenen Gelegenheitswerkes nicht abgesprochen. Mit Ausnahme der beiden Anfangsworte war freilich der Dichtung Haschkas nicht jene Verbreitung beschieden wie der unsterblichen Melodie. Mannigfache Textunterlegungen machten Haydns sangbare Weise bald den verschiedensten Zwecken dienstbar. Schon im Jahre 1798, ein Jahr nach der Erstaufführung, erschien die Melodie als Freimaurerlied in einer Sammlung von Maurergesängen11, dann als Gesellschaftslied12, dann als Kriegslied mit dem Text »Gott gib unsern Waffen Siege, Friede dann dem Vaterland«. Auch für kirchliche Zwecke wurde die Weise verwendet, nicht nur in Österreich und Deutschland, sondern auch in England, wo wir in einem geistlichen Gesangbuch (Clare's Psalmody) den 87. Psalm in Versen auf Haydns Melodie, auf »Emperors Hymn«, wie es dort heißt, angepaßt finden.
Daneben gab es immerfort, gleich in den ersten Lebensjahren der Hymne, am Texte Verbesserungen, Umschreibungen, Zusätze, insbesondere für die Gemahlinnen des Kaisers Franz I., deren er doch vier besaß. Als Kaiser Franz selbst am 2. März 1835 starb, wurde im nächsten »concert spirituel« als Trauerkundgebung für den verstorbenen und zugleich Huldigung für den neuen Herrscher das »Gott erhalte« wie es hieß »als Trauer- und Hoffnungsgesang« auf einem Text von J.F. Castelli, für Solostimme, Chor und Orchester von Ignaz v. Seyfried eingerichtet, aufgeführt. Die beiden ersten Strophen mit dem Textanfang »Gottes Ratschluß hat genommen – uns den guten Kaiser Franz« standen in Moll, die dritte Strophe mit den Anfangsworten »Aber in den Kelch des Schmerzes – mischt sich auch der Hoffnung Glück« in D-dur. Ein Wink der hohen Regierung mag vielleicht diese künstlerische Geschmacklosigkeit hervorgerufen haben. Nach dem Tode des Kaisers Franz und der Thronbesteigung durch Kaiser Ferdinand hatte man in den leitenden Wiener Kreisen erkannt, daß Haydns Hymne eine Bedeutung hatte, die über die eines gewöhnlichen Musikstückes hinausging; das Lied war – wie schon gesagt – ein politisches Programm[323] geworden. Wo das Lied ertönte, stimmte das Volk begeistert ein; vergessen waren die hohen Steuern, vergessen war alle Schimpferei über die Regierung und die höchst unbeliebten Männer, die damals das Heft in der Hand hatten; alle fühlten sich durchdrungen von Gedanken der Treue und Anhänglichkeit an das Kaiserhaus, wenn sie das »Kaiserlied« sangen. Metternich, zu jener Zeit noch immer der Steuermann des österreichischen Staatsschiffes, beschäftigte sich daher sofort nach dem Regierungsantritte des Kaisers Ferdinand mit der Idee einer zeitgemäßen textlichen Umdichtung der Volkshymne, vor allem deshalb, weil der dreisilbige Name des neuen Kaisers in das Versmaß nicht hineinpaßte. Es wurde für die Neudichtung des Textes eine Art beschränkter Konkurrenz ausgeschrieben13, und der Kommission, welche die Entscheidung zu treffen hatte, lagen vierzehn Entwürfe, darunter von Grillparzer, Egon Ebert, J.G. Seidl und Castelli vor. Keiner derselben fand Gnade vor den Augen Metternichs. Da schlug der Staatsrat Jarcke, ein eingewanderter Norddeutscher, früher Professor an der Berliner Universität, der bei Metternich in hoher Gunst stand, seinen Landsmann Carl von Holtei vor. Carl von Holtei, der Schauspieler und Dichter, war auf seinen abenteuerlichen Zügen nach Wien gekommen und gastierte mit seiner Frau am Josefstädter Theater. Metternich stimmte dem Vorschlag Jarckes zu, und Holtei erhielt die ehrenvolle Aufgabe übertragen, sehr zum Mißvergnügen aller Wiener und namentlich der Wiener Literaten. Die darüber ausgebrochene Erregung scheint längere Zeit angedauert zu haben. Es wurden an allen Straßenecken Pamphlete verteilt, in welchen gegen die Holteische Dichtung Stellung genommen wurde. Eines derselben, welches mit den Worten beginnt: »Auf dem Ballplatz sitzt ein Preuße«, gibt dem Gegensatz zwischen Norden und Süden sehr drastischen Ausdruck; auch die unglückliche letzte Zeile des Holteischen Gedichtes »Ja den Kaiser Gott erhalte unseren Kaiser Ferdinand« wurde durch Trennung der beiden Buchstaben »Ja« zu einem nicht mißzuverstehenden, gegen den Dichter gerichteten Witz ausgenützt. Die Zeitungen aus jener Zeit durften über den Standpunkt der Bevölkerung natürlich nichts schreiben; sie halfen sich damit, daß[324] sie über die ganze Angelegenheit überhaupt mit Stillschweigen hinweggingen. Der »Hans Jörgel«, die humoristisch-satirische Zeitschrift, Nachfolger des »Eipeldauer«, die noch bis in unsere Tage hinein erschien, schrieb damals, im August 1835, anläßlich der Schilderung eines Festes, welches am Tivoli stattfand: »Da ist ein Sängerchor g'wesen, was eine neue patriotische Hymne abgesungen hat, die mir meinertreu recht gut gefallen hat, weils von einem Wiener nach unserer Art und gar keinen ausländischen Gedanken in sich gehabt hat.« Die Anspielung war dem Wissenden wohl eine ziemlich deutliche. Schließlich mußte selbst die hohe Regierung der vormärzlichen Zeit dem Drucke der öffentlichen Volksmeinung nachgeben und einen anderen offiziellen Text einführen. Holteis Dichtung verschwand von der Bildfläche, und am 13. Februar des Jahres 1836 erklärte ein Dekret des Polizeiministers Sedlnitzki den inzwischen von Josef Christian Freiherrn von Zedlitz gedichteten Text als den authentischen. Die Dichtung von Zedlitz verließ die Anfangsworte »Gott erhalte«. Er blieb bis zur Thronbesteigung des Kaiser Franz Josef I. als authentischer in Geltung. Bald nach der Regierungsübernahme durch Franz Josef I. mußte wieder daran gedacht werden, einen Text für die Volkshymne zu besitzen, der den veränderten Verhältnissen Rechnung trug. Diese Bestrebungen erfuhren einen starken Anstoß durch die bevorstehende Vermählung des jungen Kaisers mit der Prinzessin Elisabeth von Bayern. Ministerpräsident Freiherr von Bach ließ daher an mehrere österreichische Dichter die Aufforderung ergehen, einen Text für die Volkshymne zu dichten, wobei jedoch gleich die Bedingung gestellt wurde, daß der Text den Namen des Herrschers nicht enthalten dürfe und dadurch gewissermaßen über den Zeiten stehe. Diese Aufforderung erging unter anderen an Grillparzer, weiter an Zedlitz, der den Text der Ferdinandschen Hymne gedichtet hatte, auch an Johann Gabriel Seidl. Grillparzers Text, welchen der Dichter selbst nicht als gelungen ansah und dies auch in einem Schreiben an den Ministerpräsidenten zum Ausdruck brachte, enthält große poetische Schönheiten, ist aber im ganzen zu reflektierend und zu wenig dem Denken und der Ausdrucksweise der großen Masse angepaßt. Wie in dem seinerzeit für Kaiser Ferdinand verfaßten Entwurf behielt Grillparzer auch hier die Anfangsworte[325] des Haschkaschen Textes bei. Den Sieg trug Johann Gabriel Seidl davon. Dieser begabte Dichter hatte gleichfalls die durch die Tradition geheiligten Anfangsworte des alten Textes mit herüber genommen und Verse geschaffen, die leicht sangbar und leicht verständlich waren. Da unternahm es aus freien Stücken am 26. August 1841 Hoffmann von Fallersleben, jener deutsche Barde, der seine Lieder umherziehend selbst sang und verbreitete, der Schöpfer unzähliger Volks- und Kinderlieder, zu der alten Melodie neue Verse zu dichten, die jetzt zu einem allgemein deutschen Vaterlandslied geworden sind. »Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt«, diese Anfangsworte seines Liedes sind ebenso wie früher das »Gott erhalte« zu einem Merkwort geworden, bei dessen Klange sich die Deutschen aller Gaue einen. Durch Hoffmann v. Fallerslebens einfache, ungekünstelte, dabei doch zündende Worte zu Haydns ewiger Melodie ist in Sangesweise und Sangeswort die Vereinigung von Nord und Süd aufs glücklichste herbeigeführt und den Deutschen ein Nationalgesang geschenkt worden, worum sie alle Völker beneiden können.
Haben wir uns bei dieser einen Liedkomposition Haydns wegen ihrer wechselvollen, mit der Politik verknüpften Schicksale etwas länger aufgehalten, so können wir die übrigen kürzer behandeln, müssen sie uns aber doch von der musikalischen Seite etwas näher ansehen. Es handelt sich vor allem um die 12 englischen Canzonettas, in zwei Sammlungen zu je 6 Stück erschienen: 6 Original Canzonettas dedicated to Mrs. John Hunter the English words by Mrs. John Hunter first set London 1796; und second set London 1796 the Words chiefly by Mrs. J. Hunter dedicated to Lady Charlotte Bertie14. Es erschien auch später eine Ausgabe mit unterlegtem deutschen Text von Jäger. Die Titel der ersten 6 Lieder sind: Mermaid's song (Die Seejungfer),La memoria (Rückerinnerung), Pastorale (Schäferlied), Despair (Die Verzweiflung), Pleasing Pain (Ermunterung), Fidelity (Die Treue), die der zweiten 6 Lieder: Sailors song (Englisches Matrosenlied),[326] The Wanderer (der Umherirrende), Sympathy (nach Metastasio), She never told her love (Aus Shakespeare), Pearcing eyes (Heller Blick), Content (Zufriedenheit). Das Lied »The Wanderer« ist später auch einzeln erschienen mit deutschem Text und unter dem Titel »Buonaparte oder die Wanderer in Aegypten« (Wir wandern in Wüsten bei glühender Hitze); Text und Musik waren ursprünglich von Dr. Harrington und Haydn gewidmet, der das Lied leicht veränderte und in seine Sammlung aufnahm. Irgend etwas, das man als englisch bezeichnen könnte, haben diese Haydnschen Kompositionen nicht; sie sind von derselben Art wie die früheren Lieder Haydns auf deutsche Texte und so wie die Lieder jener Zeit überhaupt. An den damaligen Liedern, die meistens Strophenlieder sind und schon darum an Ausdrucksfähigkeit behindert waren, kann man höchstens den größeren oder geringeren Grad von Schönheit der melodischen Erfindung, das größere oder geringere Angepaßtsein an die allgemeine Stimmung der Worte, und die größere oder geringere Abgeschmacktheit des Textes (denn diese waren meistens abgeschmackt) feststellen, mehr nicht. Immerhin kann man diese 12 Canzonettas schon etwas höher einschätzen als die anderen gleichzeitigen Erzeugnisse auf dem Gebiete der Liedkomposition; einzelne wie Sailors Song, Fidelity, Despair ragen sogar um ein beträchtliches darüber hinaus. Sie sind in der Stimmung glücklich getroffen, erfreuen durch innige Melodik und machen auch Ansätze zu einer selbständigen Klavierbegleitung Außer dieser Sammlung von Canzonettas hat Haydn in England auf englische Texte noch ein paar Lieder geschrieben, die einzeln erschienen oder Handschrift geblieben sind: What art expresses (Der Tausenden so oft Freude gegeben), The spirits song (Des Geistes Gesang) und eine kleine Stammbuchkomposition: O tuneful voice Unter diesen fällt das eine »The spirits song« ganz besonders auf: hier haben wir einen würdigen Ahnen der Schubertschen Lieder, und zwar jener kurzen Gesänge, wo das höchste, was Musik zu geben vermag, in die kleinste Form gebannt ist.
In der Nationalbibliothek zu Wien befindet sich ein handschriftlicher Band, enthaltend »Lieder beim Clavier zu singen von Joseph Haydn«, in einer aus dem Ende des 18. Jahrhunderts stammenden Abschrift. Ob diese Lieder alle wirklich von Haydn[327] stammen, ist zweifelhaft. Das erste »An Iris« ist jedenfalls von Haydn und als solches schon in der 1784 erschienenen Sammlung enthalten. Die anderen drei sind betitelt: »An die Dämmerung« (Hüll' in deinen Schattenmantel), »Aus Wilhelm Meisters Lehrjahren« (Heiß mich nicht reden) und »Das Mädchen und die Rose« (Schön wie die Rose). Die Gedichte von Bouterwek, denen »An die Dämmerung« entnommen ist, sind 1791 und Wilhelm Meisters Lehrjahre 1796 erschienen. Die Lieder wären daher als nach dem Jahre 1796 entstanden zu datieren. Da wir aber weder von Haydn selbst noch von irgend jemandem aus seiner Umgebung15 diese Lieder erwähnt finden, müssen wir bei dem großen Interesse, das neue Haydnsche Kompositionen nach seinen Londoner Reisen fanden, die Autorschaft Haydns bezweifeln. Wären sie von ihm, so wäre dies größter Beachtung wert: denn erstens wäre dies der einzige Fall, daß Haydn ein Goethesches Gedicht komponiert hätte, und zweitens müßten wir dann das Lob, das dem unbekannten Komponisten dieser Lieder unbedingt zu spenden ist, auf Haydn übertragen und sagen, daß er mit diesen Kompositionen das Verbindungsglied zwischen den süßlich-sentimentalen Erzeugnissen der Berliner und Wiener Liedkomponisten des 18. Jahrhunderts und den Schubertschen Liedern, diesen Kleinodien lyrischer Kunst, geschaffen hat.
Erwähnen wir noch die Kanons, diese kleinen kunstreichen Improvisationen, in denen sich der Witz und die Laune der Musiker manchmal entluden. Haydn hatte davon eine ganze Reihe geschrieben, so nebenher, oft als heiter-musikalischen Stoßseufzer über Personen, Ereignisse u.s.f., etwa so wie Goethe und Schiller ihre Xenien schrieben. Eine bestimmte Sammlung darunter wollte er ernst genommen wissen, nämlich die »Zehn Gebote«, die er alle als Kanon gesetzt hatte; der erste ist identisch mit dem als Dank für die Verleihung des Doktorhutes der Universität Oxford übersandten Krebskanon »Thy voice o harmony«. Beim siebenten Gebot »Du sollst nicht stehlen« saß ihm wieder der Schalk im Nacken und er eignete sich eine fremde Melodie an. Eine ganze Anzahl autographer Kanons hatte er in schwarzen Rähmchen an[328] der Wand seines Arbeitszimmers hängen: »Das sind meine Kupferstiche«, sagte er den Besuchern; »da ich nicht reich genug bin, mir schöne Gemälde zu kaufen, habe ich mir eine Tapete gemacht, die nicht jeder haben kann.« In der Schätzungs-Inventur von Haydns Nachlaß heißt es: »40 Canons mit deutschem, italienischem und lateinischem Text, welche in Herrn Haydn's Studierkabinette als Bilder hingen und in 6 abgetheilten Paketen hergegeben wurden, 10 f. geschätzt.«
Die Leipziger Allgem. Mus. Zeitung vom März 1800 bringt (S. 439) die Nachricht, daß »Haydns 6 deutsche Canons zu 4 und 5 Singstimmen ohne Begleitung, erstes Heft (Salzburg bei Meyer) seit kurzem in Wien verboten seien. Da man gar keine andere Ursache des Verbots auffinden kann, so vermuthet man, der Text zum letzten Kanon habe es verursacht. Dieser enthält nemlich Worte, welche zu einem gewissen, sehr bekannten (auch in Oesterreich) Gesellschaftsspiele gesungen werden: ›Adam hatte sieben Söhne‹.« Heutigentags sind die zeit- und ortgemäßen Anspielungen der Texte nicht mehr aktuell, die Übung des Kanonsingens ist auch ganz abhanden gekommen, daher haben diese witzigen kleinen Dingerchen nur mehr historisches Interesse16.
Einen besonderen Platz unter den Werken Haydns nehmen die Bearbeitungen schottischer Lieder ein. Haydn selbst machten diese Bearbeitungen viel Freude; sie waren nicht anstrengend, sehr einträglich und machten seinen Namen in England ungeheuer populär. Er zählt in seinem eigenen Katalog 365 solcher von ihm harmonisierter schottischer Lieder auf; es waren aber eher mehr, da er sie selbst vielleicht nicht mehr alle in der Erinnerung hatte. Die erste Aufforderung an Haydn zur Bearbeitung solcher schottischer Lieder ging, wie früher erwähnt, von Napier aus, der sich durch die Mitarbeiterschaft Haydns vor dem finanziellen Zusammenbruch rettete. Napier war aber weder originell, noch war die von Haydn bearbeitete Sammlung schottischer Lieder der erste[329] Versuch dieser Art, den Napier gemacht hatte. Schon vom Beginn des 18. Jahrhunderts an wurden Sammlungen schottischer Gesänge herausgegeben, und diese Veröffentlichungen dauern bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts hinein. Die erste mir bekannt gewordene Sammlung stammt aus dem Jahre 1701 und hat den Titel: A collection of original Scotch Tunes (full of the Highland humours) for the violin, being the first of this kind yet printed. Es ist außerordentlich zu verwundern und zu bedauern, daß sich noch kein britischer Musikforscher gefunden hat, der sich der dankenswerten Aufgabe unterzöge, in die Geschichte und die Bibliographie aller Sammlungen schottischer Lieder, auch der späteren, unter Mitarbeit Haydns und Beethovens entstandenen, ebenso wie in das Folkloristische darin Licht zu bringen. Ein paar Fingerzeige gibt J. Cuthbert Hadden in seiner Biographie George Thomsons (London 1897), aber sie sind weitaus nicht genügend, um dieses ganz unbekannte Gebiet aufzuhellen. Hadden gibt als älteste ihm bekannte Sammlung den »Orpheus Caledonius«, 1725 von William Thomson herausgegeben, an. (Es gab drei verschiedene Thomsons, die sich mit der Herausgabe ihrer Heimatslieder beschäftigten.) Zwischen diesen und dem ersten Band der Napierschen Publikation liegen eine Reihe anderer, die hier aufzuzählen uns zu weit führen würde. Der erste Napierband hatte den Titel: A Selection of the most favourite Scots-Songs Chiefly Pastoral. Adapted for the Harpsichord with an Accompaniment for a Violin by Eminent Masters. (Diese Meister waren: zwei Engländer Dr. Arnold und Shield, ein Irländer Carter und ein Franzose Barthélémon.) Als Einleitung enthielt der Band »A Dissertation on the Scottish Music«; er war mit einem reizenden Titelkupfer F. Bartolozzis geziert.
Dieser Publikation war kein großer Erfolg beschieden, und Napier wandte sich an Haydn, der die Bearbeitung einer zweiten Sammlung, bestehend aus 100 Liedern, übernahm. Der Titel dieses zweiten Bandes war: A Selection of Original Scots Songs in Three Parts. The Harmony by Haydn. Dedicated by Permission to Her Royal Highness the Duchess of York. Dieser Band hatte, wie wir hörten, großen Erfolg, und der überglückliche Napier konnte noch einen dritten Band mit 47 Liedern[330] herausgeben, der der Königin gewidmet war. Der Beifall, den Haydn als Bearbeiter fand, erregte die Aufmerksamkeit von George Thomson, der aus Liebe zu seinem Heimatlande und Enthusiasmus für dessen Volkskunst sich schon lange mit der Sammlung von schottischen Volksliedern beschäftigte; als Bearbeiter der Dichtungen hatte er Robert Burns gewonnen, für die Musik Pleyel und Kozeluch. Als ihn Pleyel im Stiche ließ, wandte er sich sofort an Haydn, der ihm bereitwilligst zusagte. In der Vorrede zum ersten Band seiner Sammlung, der den Titel führt: A Select Collection of Original Scottish Airs for the Voice. With Introductory & Concluding Symphonies and Accompaniments for the Piano Forte, Violin & Violoncello by Pleyel, Kozeluch & Haydn. With Select & Characteristic Verses both Scottish and English adapted to the Airs including upwards of One Hundred New Songs by Burns, äußert sich Thomson über seine, des Herausgebers Tätigkeit folgendermaßen:
»The Symphonies and Accompaniments next engaged his solicitude. For the composition of these he entered into terms with Mr. Pleyel who fulfilled part of his engagement satisfactorily; but having then stopped the Editor found it necessary to turn his eyes elsewhere. He was so fortunate, however, as to engage Mr. Kozeluch, and afterwards Dr. Haydn to proceed with the work, which they have finished in such a manner as to leave him nothing to regret on Mr. Pleyel's breach of engagement. The Symphonies and Accompaniments of the first and second volumes as presented to the Public in the first edition were wholly by Pleyel and Kozeluch: but this new Edition of these two volumes contains a very considerable number by Haydn, which are now introduced in the room of such Symphonies and Accompaniments in the former edition as appeared less happily executed than the rest. The third and fourth volumes were wholly to Haydn who to the inexpressible satisfaction of the Editor, has all along wroughtcon amore. He says in a letter to the Editor ›Mi vanto di questo lavoro e per ciò mi lusingo di vivere in Scozia molti anni doppo la mia morte17.‹
[331] This Work certainly would alone perpetuate his celebrity, had he not by his many other wonderful compositions rendered his name immortal. –
There are some critics, whose partiality to a favourite Composer is such, that they will scarce vouchsafe a hearing to any other. Should any of these ask why Haydn was not employed to do the whole work the Editor would say, that though he himself idolizes Haydn, yet the Public have long admired the other two Composers also, whose style unquestionably possesses great sweetness, elegance and taste; and that a greater variety is obtained from all, than could have been expected from one of the Composers.«
Dies scheint also schon eine zweite Auflage des ersten und zweiten Bandes der Sammlung gewesen zu sein, von denen Thomson ankündigte, daß sie von Pleyel, Kozeluch und Haydn stammen, während der dritte und vierte vollständig von Haydn sei. Weiter gab Thomson wallisische Lieder heraus, die er folgendermaßen ankündigt: Select Welsh Melodies collected by him in a tour through North Wales, and now first adapted for the Voice. With Symphonies and Accompaniments to each Melody, composed chiefly by Haydn, who has also set many of the Airs for two Voices.
The Third or concluding Volume of the Welsh Melodies with Symphonies and Accompaniments, wholly by Beethoven, is now in the hands of the Engraver.
Dann verlegte er sich auf irische Melodien, deren Bearbeitung er Beethoven anvertraute. Das Vorwort zu diesen zwei letzteren Publikationen ist interessant:
»These Works have been in preparation for many years and would have been produced sooner but for the anxiety of the Editor to render them as complete and perfect as possible, both in Music and Poetry. And he trusts that the Scottish Welsh, and Irish Melodies, united to interesting Songs and enriched by Accompaniments for the Piano-Forte and for the Violin and Violoncello of the most masterly, beautiful and expressive character, such as no other national Melodies can boast of, will prove equally acceptable to Singers, to instrumental performers, and to every person of taste. For it is universally allowed that if Mozart may be excepted. Haydn and Beethoven in Music, and Burns in Song, are the most celebrated Composers that the world has produced. And had not Mozart been unfortunately cut off too soon, Mr. Thomson would certainly have endeavoured to obtain the aid of his delightful talents also.«
Haydn bearbeitete noch für einen dritten Verleger, William Whyte in Edinbourgh, sehr zum Verdrusse Thomsons, schottische Volkslieder, und zwar 2 Bände; der erste Band mit dem Titel: A Collection of Scottish Airs Harmonized for the Voice &[332] Piano Forte with introductory & concluding Symphonies and Accompaniments for a Violin & Violoncello by Joseph Haydn Mus. Doct. Edinbourgh Published by the Proprietor William Whyte Nr. 1 South St. Andrews Steet, und der Lady Campbell gewidmet, enthält an der Spitze folgendes:
»Advertissement
In offering to the public the present edition of the National Melodies of Scotland, the proprietor wishes to specify one particular, in which it materially differs from all those which have preceded it and owing to which chiefly he has been emboldened to hope for a share of public patronage. The harmonies of the songs, in all existing editions of Scottish Airs, are the productions of compo sers of various descriptions and degrees of genius and talent. The harmonies of the present are composed exclusively by Haydn; confessedly the first of modern masters. From this circumstance it is, that while the genius of the composer indulging in all the varieties of its luxuriance has accomodated itself to the specific characteristics of each different air, there yet arises a general uniformity, which can hardly fail to give pleasure to the classical ear.
Of the merits of the harmonies it would be presumption in the proprietor to speak. The character of their admirable author renders him superior to ordinary praise; but it may not, perhaps, be superfluous to say, that he has himself pronounced them to be his best, and that there is too much reason to fear they may also be his last.
St. Andrews Street
1st March 1806.«
Der zweite Band, der 1807 erschien und der Gräfin von Dalkeith gewidmet war, hatte nachstehendes Advertissement vorangesetzt:
»The Publisher respectfully apologizes to his Subscribers for the long interval which has elapsed betwixt the publication of the First Volume of this Work and the present; and for the number of the songs being restricted to twenty-five in place of forty, as was originally proposed. Both circumstances are to be ascribed to the same cause – a cause evidently not under his control, – the precarious health of the illustrious Composer, and the delay and difficulty which has attended all communications with the continent of late years. The airs, comprised in the present volume, are all harmonized by Dr. Haydn, in a style of elegance and originality, in no instance inferior to his earliest and most vigourous efforts.«
Endlich wäre zu erwähnen, daß zu Haydns Lebzeiten eine kleine Auswahl aus den Haydnschen Bearbeitungen, der Text »mit deutscher Nachbildung von A. Wagner«, bei Breitkopf & Härtel erschien.
Diese ganze umständlich erscheinende, aber durchaus nicht erschöpfende Bibliographie habe ich nur hierhergesetzt, weil bisher[333] der Versuch dazu noch nie unternommen wurde und sie für künftige weitergehende Forschungen und für Agnoszierung eventuell auftauchender Bände vielleicht gut verwertet werden könnte.
Um sich einen richtigen Begriff von der Bearbeiter-Tätigkeit Haydns machen zu können, müßte man die Lieder im Original gekannt haben. Vielleicht war das, was Haydn zur Bearbeitung übergeben bekam, schon nicht mehr das Original; ungeschickte oder ungenaue Aufzeichnungen der ursprünglichen Volksmelodie mögen daran oft Wesentliches, oft nur Unwesentliches geändert haben. Auch die Texte, die aus dem Gaelischen in ein englisch-schottisches Messingisch übertragen wurden, haben in einzelnen Wendungen und Worten ihren urtümlichen Sinn vielleicht eingebüßt. Haydn mußte die Lieder, wie er sie bekam, zur Grundlage seiner Bearbeitung nehmen, und da er oft nur das Gerippe einer Melodie mit einem ihm meist unverständlichen Gedicht erhielt, bearbeitete er diese Dingerchen eben so, wie er als Musiker, als deutscher Kunstmusiker, für gut befand. Manche sind dabei vielleicht im Sinne des Originals gelungen, manche nur in unserem Sinne, im Sinne des kultivierten, d.i. nicht wurzelecht volkstümlichen Musikers, manche gar nicht, was schließlich bei einer so übermäßig großen Anzahl auch vorkommen kann. Sie in deutscher Übersetzung wiederzugeben ist aus mancherlei Gründen sehr schwierig: vor allem aus metrischen Gründen. Daher sagt der Folklorist Dr. Heinrich Möller im vierten, die keltischen Volkslieder enthaltenden Bande seines Sammelwerkes »Das Lied der Völker« (Mainz, B. Schotts Söhne) sehr treffend: »Ein besonderes Dilemma bei der Übersetzung ergibt sich aus dem der keltischen Musik eigentümlichen Vorschlagrhythmus
der in England unter dem Namen ›Scotch snap‹ bekannt und uns hauptsächlich aus der Zigeunermusik vertraut ist. In englischen Übersetzungen ist er leicht wiederzugeben und sehr beliebt, weil auch da unbetonte Endsilben wie in pretty, ever, bonnie, nach Belieben gedehnt werden können. Dem Rhythmus der deutschen Sprache dagegen läuft diese synkopische Figur derartig zuwider, daß nur wenige Worte ihr ohne Vergewaltigung angepaßt werden können.«
Man erhob übrigens schon zu Lebzeiten Haydns gegen seine Bearbeitungen lebhafte Einwände; als Beweis sie hier ein Passus[334] aus einer Rezension, die in der »Neuen allg. deutschen Bibliothek« (Bd. 104, Stück II, S. 383) im Jahre 1805 erschien, mitgeteilt:
»Daß der große Haydn diese Gesänge mit einer Begleitung versehen hat, bekundet nur die große Gewandtheit dieses Meisters in der Harmonie; denn es möchte wohl vielen anderen nicht gelungen sein, zu diesen Melodien ›gute Bässe‹ und Mittelstimmen zu machen. Dadurch haben sie aber an ihrem Volks- und Nationalcharakter keineswegs gewonnen; die erste obenangezeigte, leichte, rührende Melodie verliert unter der schweren, vierstimmigen Begleitung gerade das, was ihren Charakter bestimmt, und der schöne bunte Baß des zweiten Liedes verhält sich zum Geiste des Gedichtes gerade so, wie ein großer deutscher Tonkünstler zu einem ehrlichen schottischen Weidmann. – Die meisten dieser Gesänge also gehören in ihr Zeitalter, in ihr Vaterland, und wollen durchaus keinen deutschen Baß leiden.« Das Urteil ist allerdings ein bißchen hart und bezieht sich in erster Linie auf die Breitkopfsche Auswahlsammlung; man wird aber in der großen Zahl der in den verschiedenen Original-Publikationen veröffentlichten Lieder gewiß eine Reihe solcher finden, die allen Ansprüchen – denen der Musiker, der Folkloristen, der Sänger und der Zuhörer – gerecht werden.
Größere Arien oder Gesangsszenen Haydns aus dieser Epoche sind nur wenige vorhanden: Die für die Banti in London geschriebene Arie: »Non partir bell' idol mio«, die sich in der landläufigen Primadonnen-Arienform bewegt; eine etwas gehaltvollere, im Jahre 1798 auf den Text eines russischen Großfürsten komponierte Arie »Solo e pensoso«, für nicht sehr hohe Stimme geschrieben, nicht brillant, sondern sehr sangbar, aus zwei Teilen, einem langsamen Einleitungsteil und einem zweiviertel Allegretto bestehend; die sehr breit ausgeführte Gesangsszene »Lines from the battle of the Nile«. Text von Mrs. Knight, der Begleiterin der Lady Hamilton. Dieses Stück, das für Sopran und Klavierbegleitung, teilweise von Haydn, teilweise von Elßler geschrieben, in Eisenstadt liegt, dürfte mit Orchester-Begleitung gedacht sein: Einem groß angelegten, begleiteten Rezitativ (Ausania, trembling 'midst unnumbered woes) folgt eine Arie, die (Allegretto) den Rhythmus und Charakter einer Marschhymne hat – (Text:[335] »Blessed leader«) und rezitativisch mit dazwischengelegten Fanfaren auf den Worten »Eternal praise great Nelson to thy name and these immortal partners of thy fame« schließt.
Noch sollen zwei kleine Kammerduette erwähnt werden, für Sopran und Tenor (Nisa e Tirsi) geschrieben, auf die Texte »Saper vorrei se m'ami« und »Guarda qui, che lo vedrai« (auch mit dem Text »Senti qui, che il senti«), die im Stile der Zeit und gleichartiger Kompositionen anderer Tonsetzer gehalten sind und nicht darüber hinausragen.
Zu den köstlichsten Früchten der späten Haydnschen Muse gehören seine mehrstimmigen (drei- und vierstimmigen) Gesänge mit Begleitung des Pianoforte. Haydn knüpft darin an keinen unmittelbaren Vorgänger an; die mehrstimmigen Gesänge, die er in England gehört hatte, die Madrigale, Glees, Rounds, Catches und wie sonst diese kleinen kontrapunktischen Spielereien hießen, die dort so im Schwunge waren, hatten gewöhnlich keine Begleitung, sondern wurden a cappella gesungen, und in Wien finden sich auch keine derartigen Stücke. Haydn schuf sie so, wie ein großer Maler etwa ein paar Aquarell- oder Pastellskizzen hinwirft, und Griesinger teilt mit, daß Haydn ihm gesagt habe, »die Gesänge seyen bloß con amore in glücklichen Stunden, ohne Bestellung componiert«. Anfang Dezember 1801 hatte Griesinger schon an Breitkopf & Härtel gemeldet, daß sich Haydn mit der Absicht trage, eine Sammlung drei- und vierstimmiger Gesänge herauszugeben; »mit 13 ist er fertig, die er mir gezeigt hat. Jetzt geht's aber langsam mit seiner Arbeit und es fehlt ihm an Texten, weil wie er mich versichert, die wenigsten Dichter musikalisch dichten«. Und 14 Tage später schreibt Griesinger: »Haydn läßt sich aber bis das 25 voll ist, auf nichts ein, denn ›wenn ich jetzt etwas drucken laß, muß es schon ein bisserl groß seyn‹ ... Mit Texten können Sie Haydn einen Gefallen erweisen, aber nichts verstiegenes und keine verschrobenen Perioden!« Haydn verkaufte die Gesänge, nachdem er sie bereits dem Grafen Brown zugesagt hatte, an Breitkopf & Härtel, bei denen sie 1803 erschienen. Haydn wollte sie der Kaiserin v. Rußland widmen in der Hoffnung, von der Kaiserin dafür ein wertvolles Geschenk zu erhalten. Die Widmung jedoch unterblieb, und Griesinger schreibt hierüber: »Aus einem mir ganz unerklärlichen Zartgefühl hat er[336] aber die Idee mit der Dedication ganz aufgegeben. Er befürchtet der Fürst und Swieten möchten ihn einer Betteley beschuldigen, wenn sie erführen, daß er ein Geschenk erhalten hätte.« Breitkopf & Härtel gaben die Gesänge in zwei Teilen heraus, zuerst die Quartette als 6. Heft der gesammelten Werke und dann die Terzette. Die Verlagsfirma scheint die Texte bemängelt zu haben, denn Griesinger schreibt: »Es scheint Haydn sey zu schlechten Texten prädestiniert; eigentlich trägt er die Schuld seiner unwissenschaftlichen Bildung. Er hat mich die Lieder (eines ›der Augenblick‹ ausgenommen) nie lesen lassen, sondern sie mir immer versiegelt entweder für Sie oder für Swieten zugeschickt.« Der Vorwurf wegen der Texte ist vielleicht nicht ganz unberechtigt; hat Haydn doch nicht daran gedacht, irgendein Gedicht von Goethe oder Schiller, die zu jener Zeit schon als die überragendsten Erscheinungen am Dichterhimmel anerkannt waren, zu vertonen, und was er sich an Dichtungen und Dichtern auswählte, galt schon damals als ein wenig veraltet. Schuld daran war aber nicht so sehr seine »unwissenschaftliche Bildung« als sein hohes Alter und die dadurch bedingte Minderung seiner geistigen Elastizität, vor allem aber wahrscheinlich van Swieten, sein Vormund in allen literarischen Dingen, der wahre und neuere Poesie nicht zu Haydn gelangen ließ. Vier von den Gedichten der mehrstimmigen Gesänge, nämlich: »Danklied zu Gott« (Du bist's, dem Ruhm und Ehre gebührt), »Abendlied zu Gott« (Herr, der Du mir das Leben), »Wider den Übermuth« (Was ist mein Stand) und »Betrachtung des Todes« (Wie sicher lebt der Mensch) sind von Gellert aus seinen »Geistlichen Oden und Liedern«; sie sind auch von Carl Philipp Emanuel Bach komponiert: »Der Augenblick« (Inbrunst, Zärtlichkeit) und »An den Vetter« sind von Ramler; »Alles hat seine Zeit« ist eine griechische Skolie ins Deutsche übertragen von Ebert, und »An die Frauen« (Natur gab Stieren Hörner) ist die zweite Ode Anakreons in der »Lyrischen Blumenlese«, übertragen von Bürger; »Die Beredsamkeit« (Freunde, Wasser machet stumm) ist von Lessing. »Der Greis« (Hin ist alle meine Kraft) von Gleim; die Dichter von »Die Harmonie in der Ehe« (schon bei Kirnberger, Anleitung zur Singcomposition, Berlin 1782 vertont) ebenso wie von »Daphnens einziger Fehler« und »Freund, ich bitte, hüte Dich«, habe ich nicht eruieren können.[337]
Wenn man sich aber weniger an die Texte kehrt und sich mit der Musik der mehrstimmigen Gesänge beschäftigt, wird man seine helle Freude haben an den reizenden Einfällen und der seinen, miniaturenhaften Faktur.
Diese mehrstimmigen Gesänge, obzwar ursprünglich nicht als Chor- sondern als Sologesänge gedacht, hatten an Zelter einen begeisterten Bewunderer gefunden, dem sie insbesondere für seine Berliner Singakademie ein wertvolles Aufführungsmaterial bedeuteten. Zelter hatte sich an Haydn mit der Bitte um einige Chöre gewandt18. Haydn schrieb in seiner Antwort (25. Februar 1804), in welcher er für die Übersendung der Zelterschen Biographie von Fasch dankt, wie schon früher mitgeteilt, als Nachschrift: »Ich wünschte, daß sich mein lieber Zelter die Mühe gebe das Abendlied von meinem Singquartett Herr, der du mir das Leben für seinen ganzen Chor abwechselnd theils mit vier Solostimmen und theils wieder mit halben oder ganzen Chor zu arrangieren. NB. Es müßte aber durchaus das Pianoforte so wie ich es setzte, dazu accompagnieren.« Zelter hatte schon einige Monate früher die beiden Haydnschen Gesänge »Abendlied zu Gott« und »Danklied zu Gott« für seinen Chor arrangiert, kam also Haydns Wunsch zuvor. Er schickte ihm die Partituren und bat ihn, daran zu verbessern, was er für nötig finde. Über die Wirkung aber, die beide Kompositionen beim Berliner Chor hervorbrachten, schreibt Zelter: »daß ich Ihnen nur die Freude gewähren könnte, Ihre Chöre bei uns zu hören und sich an der Ruhe, Andacht, Reinigkeit und Heiligkeit zu erbauen, womit Ihr schöner Chor: ›Du bist's dem etc.‹ hier gesungen wird! Die schönste und beste Jugend von Berlin steht hier mit Vätern und Müttern, wie in einem Himmel voller Engel beysammen, feyert in Lob und Freude die Ehre des höchsten Gottes und übet sich an den Werken der größten Kunstmeister, die die Welt gesehn hat.«
Und als Goethe an Zelter wenige Jahre später (27. Juli 1807) schrieb: »Da möchte ich denn alle Woche einmal bei mir mehrstimmige Gesänge aufführen lassen im Sinne Ihrer Anstalt, obgleich nur als den fernsten Abglanz derselben. Helfen Sie mir dazu und senden mir vierstimmige nicht zu schwere Gesänge, schon[338] in Stimmen ausgeschrieben«, schlägt Zelter sofort als passend ein Heft Haydnscher »in ihrer Art sehr guter Gesangstücke« vor, die dann auch einstudiert wurden und den folgenden Winter im Goetheschen Hause mit Erfolg zur Aufführung kamen.
Den Übergang zu den großen Chorkompositionen bilden einige kleinere Stücke für Chor, teilweise mit Solostimmen:
»Der Sturm«, Chor mit Orchesterbegleitung, englisch »The Storm«, italienisch »La Tempesta«. Der englische Text von dem Dichter John Wolcot (Dichtername Peter Pindar) »Hark the wild uproar«, deutsch: »Hört die Winde furchtbar heulen«, italienisch: »Ve venti fremon fieri«. Ein sehr flottes, schönes Chorstück mit Begleitung von großem Orchester; anfangs erregt und stürmisch, wird die Stimmung gegen Schluß ruhig und sanft. Bei der Aufführung in London wurden einige Stellen vom Soloquartett gesungen, was aus der gedruckten Partitur nicht ersichtlich ist. Der mittlere Teil enthält schon Vorahnungen der beiden großen Oratorien, namentlich der Darstellung des Winters in der Instrumental-Einleitung zum Frühling aus den »Jahreszeiten«. Das Stück, das Haydn im Autograph (Eisenstadt) der Partitur als »Madrigal« bezeichnet, wird auch in der Kirche als Offertorium mit dem Text »Domine auxiliator« benützt.
»The invocation of Neptun.« Über die Entstehung vgl. oben S. 84. Das Autograph im British Museum hat folgende Bezeichnung: »Nor can I think my suit is rain;« a song and chorus, in full score, composed by, and in the autograph by Joseph Haydn, in the year 1794, at the desire of the Lari of Abingdon, and by him given to T. Monzani, the celebrated flute player, who in 1821 presented it to the British-Museum. Mr. Monzani states that it was intended to form part of an oratorio, but that Haydn never did more towards its completion. The poetry is talen from the introductory stanzes prefixed to Nedham's translation of Seldon's ›Mare Causume‹; besteht aus einer Baß-Arie und einem vierstimmigen Chor, beides mit Begleitung des vollen Orchesters. Beide Stücke sind, wenn auch klangvoll, doch rhythmisch sehr uninteressant; im ganzen ist das Stück schwächer als »The Storm«.
»Die Erwählung eines Kapellmeisters«, eine heitere Kantate für 3 Solostimmen, Chor und kleines Orchester (2 Oboen,[339] 2 Hörner, Fagott, 2 Violinen, Viola und Cello). Das Stück ist für uns nicht ganz verständlich, da wir nicht wissen, wer unter den auftretenden oder genannten Personen verstanden ist.
Apollo (Alt) ruft Minerva und Bacchus auf, ihm einen würdigen Mann zur Besetzung der Kapellmeisterstelle zu nennen. Minerva (Sopran) empfiehlt Scorbutico, einen Mann »in besten Jahren, in Studiis erfahren«. Bacchus (Tenor) schlägt den Pulcherrimus vor, dessen Stimme, erst so zart durch den Wein, »dieses Getränk, dieses Gottes Geschenk«, so stark, so sein geworden ist. Apollo erklärt, daß beide ja denselben Mann meinen, und nach einigen Wechselreden schließt der Chor: »Es leb' der ächte Musensohn«. Ebenso schwach wie der Text ist die Musik; die Arien sind langweilig, die Chöre nichtssagend, im ganzen wenig Erfindung und wenig Humor. Es ist doch merkwürdig, daß Haydn, der sonst so schalkhaft und heiter sein kann, hier versagt hat und gegen den ernsten Johann Sebastian Bach und dessen heitere Kantaten vollständig unterliegt.
Die Musik zum Trauerspiel »Alfred« (Entstehung oben S. 103). Vorhanden ist eine Arie mit Rezitativ des Schutzgeistes (»Ausgesandt vom Strahlenthron«), dann ein Duett zwischen Alfred und Odun (»Der Morgen graut, es ruft der Hahn.«)19. In Eisenstadt befindet sich das eigenhändige Manuskript des gleichfalls zu »Alfred« gehörigen Chores »Triumph dir, Haldane, die Schlacht ist gekämpft«, der später als »Kriegerischer Chor« (Triumph steig' zum Himmel) erschienen ist. Dieser dreistimmige Chor (Sopran, Tenor, Baß) wie die obige Arie sind gut gemeint, aber nicht übermäßig wirkungsvoll.
Vor Eingehen in die großen Chorwerke – die Messen und die beiden Oratorien – schalten wir hier die Betrachtung des letzten dramatischen Tonwerkes von Haydn ein, eine Betrachtung, die uns zu bisher ganz unbekannten oder vielmehr unbeachteten Tatsachen führen wird.
Die letzte Oper, die Haydn geschrieben, rührt aus der Zeit von Haydns erstem Londoner Aufenthalt her. Unter den Verpflichtungen, die der Meister anläßlich seiner ersten englischen Reise[340] übernommen, war auch die, für Gallini eine Oper zu schreiben. Alle Biographen bringen nun übereinstimmend die Notiz, daß diese Oper später unter dem Titel »Orfeo e Euridice« durch Breitkopf & Härtel veröffentlicht sei. Das ist aber nur teilweise richtig. Die Oper, die Haydn 1791 in London auf ein Textbuch des Badini und im Auftrage Gallinis schrieb, hatte den Titel »L'anima del Filosofo«; ihr Stoff behandelte allerdings die Orpheus-Mythe, die Musik war aber nicht mit der später als »Orfeo e Euridice« herausgegebenen vollständig identisch. Den richtigen Titel der Oper erfahren wir schon aus der Stelle eines Briefes von Haydn an die Polzelli, worin es heißt: »la mia opera intitolata l'anima del filosofo anderà in Scena nel ultimo di Maggio [1791] io ho gia terminato il 2do atto.« Zu irgendeiner Aufführung ist es infolge des Aufführungsverbotes für Opern, das an Gallini seitens des Königs Georg III. ergangen war, nicht gekommen. Haydn erzählte, daß er schon die erste Probe der Oper begonnen habe, als nach den ersten 40 Takten behördliche Organe erschienen seien, die die Fortsetzung der Probe verboten hätten.
Die handschriftliche Originalpartitur der Oper ist erhalten und merkwürdigerweise bis jetzt der Aufmerksamkeit aller Musikhistoriker entgangen. (Auch Ludwig Wendschuh, der eine Dissertation über Jos. Haydns Opern geschrieben, kannte die Partitur nicht.) Das Autograph befindet sich in der Berliner Nationalbibliothek und ist tadellos erhalten. Auf 133 Blättern ist die Oper mit Ouvertüre und anscheinend allen Gesangsnummern in Haydns eigener Handschrift (mit Ausnahme der ersten sieben Seiten der Ouvertüre) vorhanden. Das Manuskript der Oper ist überschrieben: L'opera L'Anima del Filosofo composta da me Giuseppe Haydn 1791. Die vorangehende Ouvertüre, von welcher, wie erwähnt, die ersten 7 Seiten nicht von Haydns Hand geschrieben sind, hat die Überschrift: Ouverture a grand orchestre dell' opera d'Haydn l'anima del Filosofo.
Schon ein oberflächlicher Vergleich der bei Breitkopf & Härtel noch zu Haydns Lebzeiten (1807) erschienenen Partitur sowie des vorher erschienenen Klavierauszuges von »Orfeo e Euridice« mit der handschriftlichen Partitur von »L'anima del Filosofo« zeigt, daß man es bei ersteren mit einer Auswahl zu tun hat: Die Breitkopfsche Partitur enthält 11 Nummern gegen 38 in der Originalpartitur[341] (die Rezitative mitgerechnet). Sieht man aber näher zu, so entdeckt man auch sonst bedeutende Unterschiede: vier Nummern der Breitkopfschen Ausgabe (Nr. 1, Nr. 6, Nr. 7 und Nr. 9) kommen in der autographen Partitur nicht vor; weiter fehlen in der Breitkopfschen Ausgabe die eigentlich die Handlung vorwärtsbringenden Secco-Rezitative; dann ist die Aneinanderreihung der Stücke in der späteren Ausgabe eine ziemlich willkürliche, mit der Szenenfolge und dem dramatischen Geschehen in der Originaloper nicht übereinstimmend. Haydn hat weder die Originalpartitur noch, wie er selbst sagt, eine Abschrift davon zurückbehalten, sondern mußte sie abliefern; er ließ sich aber heimlich von Elßler ein paar Stücke abschreiben, die er dann im Jahre 1805 mit wenigen anderen, die er neu hinzukomponierte oder aus verschollenen Werken herübernahm, rasch in einer Partitur vereinigte und sie Breitkopf & Härtel zur Veröffentlichung sandte.
Wir haben also gewissermaßen zwei Fassungen des Werkes: Die eine aus dem Jahre 1791 nach dem Text von Badini und die zweite aus dem Jahre 1805, die zwar durch neue Stücke ergänzt wurde, aber doch Torso ist und eigentlich nur für den Konzertgebrauch bestimmt war. Für die Betrachtung des Textes kommt die Originalfassung in Frage, denn die in der späteren Ausgabe hinzugefügten Arien sind bloß lyrischer Natur, dem Inhalte nach aber ganz im Sinne des ursprünglichen Dramas. Die Orpheus-Sage, jener uralte Mythus vom Erzvater der Musik, jener Stoff, der von der Geburt des Musikdramas angefangen unzählige Opernkomponisten anregte und beschäftigte, bis er zu der Unterwelt der Offenbachschen Travestie hinabstieg, hat bei den verschiedenen Dichtern auch verschiedene Fassungen, Ausdeutungen, Abschlüsse gefunden, abgesehen von Episoden, Nebenfiguren, Nebenhandlungen usw., die manchmal eingeschoben sind. Für uns gilt jetzt die Glucksche Meisteroper als das Standardwerk, mit dem wir alle anderen zu vergleichen geneigt sind; und wenn wir sie jetzt – soweit der dünne Faden der Handlung in Betracht kommt – als Vergleichsobjekt heranziehen, stellen wir fest, daß der Haydnsche Orpheus im Gegensatz zum Gluckschen den dem alten griechischen Mythus entsprechenden tragischen Ausgang hat: Eurydike kann nicht mehr an die Oberwelt zurückkehren, sondern bleibt ein seliger Schatten, und Orpheus, für den das Leben keinen Inhalt und[342] keinen Sonnenschein mehr hat, leert die ihm von Bacchantinnen angebotene Schale mit dem Todestrank; und als die Mänaden mit dem toten thrakischen Sänger, dessen süßer Mund nun für immer verstummt ist, den Gestaden ihrer selig-unseligen Insel zusegeln wollen, erfaßt sie ein Sturm und läßt sie Schiffbruch leiden. Damit schließt die Oper. Um den Titel »L'anima del filosofo« zu rechtfertigen, vielleicht auch um einen Funken irgendeiner selbst. erfundenen Idee aufglimmen zu lassen, läßt der Textverfasser den unumgänglich notwendigen Miniatur-Deus ex machina (bei Gluck ist es Eros, hier ist's ein Genius) dem untröstlichen Orpheus den Rat geben, er möge sich – bei der Philosophie Trost holen: al cor dolente della Filosofia cerca il nepente (für dein leiderfülltes Herz suche in der Philosophie den Trost). Aber sein gutgemeinter Vorschlag fällt bei Orpheus auf nicht sehr fruchtbaren Boden; unwillig sagt der göttliche Sänger: Ah la filosofia! se vuol farmi felice al mio vedovo sen venta Euridice. (Ach was Philosophie! wenn sie mich glücklich machen will, dann soll sie Euridice an meinen vereinsamten Busen bringen.) Dieser klägliche Versuch, etwas Geistigkeit in den Text zu bringen, ist das einzige, was man hervorheben könnte; im übrigen erheben sich Stoffbehandlung und Reimkunst nicht über die italienischen Durchschnittsopern jener Zeit.
Nun zur Haydnschen Komposition der Oper. Im allgemeinen kann man darüber dasselbe sagen wie von allen Haydnschen Opern: viel Musik und wenig Theater. Daß Haydn kein dramatischer Komponist war, und daß ihn auch die zeitweilige Verbindung mit einem großen Theater, mit allem, was zum Rüstzeug einer Bühne gehört, nicht zu einem Theatraliker machen konnte, wird einem hier klar. Manchmal läßt sich durch jahrelange Routine ersetzen, was einem an dramatischer Begabung abgeht: dazu fehlte aber unserem Meister Haydn die Möglichkeit. So viel sich Haydn auch auf seine Opern einbildete, so hoch er selbst wahrscheinlich seinen »Orfeo« eingeschätzt haben mag, wir müssen uns sagen, daß er gegen den Gluckschen nach jeder Richtung hin unterliegen muß. Nach jeder Richtung hin: nicht nur im Hinblick auf Erfassen der dramatischen Situationen, sondern auch im Hinblick auf Schönheit und Charakteristik der melodischen Erfindung. Nicht ein Stück in dem Haydnschen »Orfeo«, das geeignet wäre, bleibender Besitz der musikliebenden Menschheit zu[343] werden, wie es im Gluckschen mehrere sind. Die Solostücke sind der schwächere Teil der Musik; die meisten Arien (es kommt nur einmal ein Duett vor) sind höchst konventionell, ganz im Stil der damals landläufigen italienischen Dutzendopern. Einige unter den Arien werden durch Chorstellen, die der Solostimme antworten oder sie fortsetzen, etwas abwechslungsreicher gestaltet; zu einem richtigen durchgearbeiteten Ensemble kommt es nie. Beinahe möchte man sagen, daß die später in der Breitkopfschen Partitur hinzugefügten vier Stücke besser sind als die älteren, unter welch letzteren die Szene der Euridice »Sventurata che fo« in der Anlage und im Stil, weiter die kräftige Baß-Arie des Creonte »Mai non fa« hervorragen. Unter den vier erwähnten Stücken ist vielleicht die f-moll-Arie des Orpheus »In un mar d'acerbe pene« der Hervorhebung wert. Weitaus besser als die Solonummern sind die Chöre der Oper, also ein Gebiet, auf dem Haydn gar keine Routine, dafür aber angeborene Begabung besaß. Da ist erstens der liebliche Chor der »Amorini«, den Frauenstimmen zugeteilt, zu nennen, dann der Männerchor, welcher der Euridice Mut zuspricht, »Ferma, ferma in piede«, dann der in nahezu jeder Orpheus-Oper unerläßliche Furienchor, der den sonst ungewohnten, hier um so eindrucksvoller wirkenden, phantastischen, kraftgenialischen Haydn zeigt, und die Schlußszene, Orpheus mit den Bacchantinnen, die, groß angelegt, mit ausgezeichnetem Stimmungswechsel, schließlich – sempre più piano – leise verhallend der Oper einen ahnungsvoll-verklärenden Schluß gibt. Als Ouvertüre zu der Oper »L'anima del Filosofo« steht in der oben beschriebenen autographen Partitur ein Stück, welches identisch ist mit der Ouvertüre Haydns, die Salomon im Covent-Garden- Theatre zu London am 6. April 1795 seiner Oper »Windsor Castle« vorangesetzt hatte. Ob sie Haydn zuerst für »L'anima del Filosofo« komponierte, entzieht sich der Feststellung, da sie nach der Sitte jener Zeit – trotz Gluckscher Opernreform – keine wie immer geartete Beziehung zur Oper hat. Sie ist ein belangloses Stück in der gebräuchlichen Form: langsame Moll-Einleitung, darauf ein Presto-Satz C-dur, der eher einer Komödie wie einem tieftragischen Heroenstoff als Vorspiel dienen würde. –
Überraschend, über alles bisher und vielleicht auch nachher von Haydn Geschriebene hinausgehend, ist die Orchesterbehandlung[344] in dieser Oper. Da war Haydn in seinem Elemente, da konnte er mit Instrumenten nach Herzenslust schalten und walten und hat, man muß es sagen, von dieser Möglichkeit den ergiebigsten Gebrauch gemacht. Die Ouvertüre ist mit kleinerem Orchester besetzt: Flöte, 2 Oboen, Fagott, 2 Hörner, 2 Trompeten, Pauken und Streicher; im Verlaufe der Oper treten aber an einzelnen Stellen noch andere Instrumente hinzu, die ganz bestimmte charakteristische Klangwirkungen auszuüben ausersehen waren: so im Klagegesang der Euridice »dov'é l'amato bene« zwei Englisch-Hörner: in dem weichen Frauenchor, der den 3. Akt eröffnet, zwei Klarinetten; im Furienchor 2 Posaunen. In der späteren Partitur ist die neu eingefügte Szene des Orfeo »Rendete a questo seno« sogar von Harfe begleitet, ein bei Haydn ganz seltenes Instrument. Die Behandlung der einzelnen Instrumentengruppen ist eine besonders sorgfältige, individualisierende, mit voller Bedachtnahme auf Spieltechnik, Klangcharakter und Gesamtwirkung. Hier im instrumentalen Teil erkennen wir die Hand des Meisters, die wir im gesanglichen leider vermissen. Deshalb haben versuchte Wiederbelebungen des Werkes, die allerdings nur nach der bei Breitkopf & Härtel erschienenen Partitur erfolgten – nicht bloß bühnenmäßige, sondern auch solche im Konzertsaal – nur zu einer achtungsvollen Verbeugung vor dem Schöpfer der »Schöpfung« und der »Jahreszeiten« geführt.
Um die Messen Haydns tobt, ebenso wie um die Mozarts, bekanntlich schon seit geraumer Zeit ein Kampf, der die in Kunstfragen üblichen und zulässigen Grenzen weitaus überschritten hat. Schon zu Lebzeiten Haydns hat man gegen seine Messen Einwendungen erhoben, hat ihnen allzu große Weltlichkeit, sogar oft frivole Lustigkeit vorgeworfen; eine große Partei von Klerikern und Kirchenmusikern bekämpft ja überhaupt die vom Orchester begleitete Kirchenmusik. Ohne in diesen Kampf, der vielleicht mehr kirchenpolitischer als musikalischer Natur ist, eingreifen zu wollen, muß ich doch als getreuer Biograph für Haydn Partei ergreifen. Zwar mag es Vermessenheit erscheinen, Haydn verteidigen zu wollen, aber es mag doch notwendig sein, die Mentalität des Messekomponisten Haydn klarzulegen. Wenn Hermann Kretzschmar20 sagt: »Wir müssen uns über das Gelungene und Geniale,[345] was auch diese Werke enthalten, gerade so freuen, wie in der Architektur über den Wunderbau des Markusdoms. Aber wie diesen niemand als Muster eines christlichen Gotteshauses ansieht, so müssen wir auch dem Erzbischof von Hohenwarth recht geben und ihn dafür loben, daß er kurzerhand seinerzeit für die Wiener Kirchen die Aufführung Haydnscher Messen verbot!«, so ist das eine Einstellung, der ich nicht zu folgen vermag; denn christlich oder religiös ist dasjenige, was bestimmt ist, dem Schöpfer und der Kirche zu dienen, und kann auch nur nach der Gesinnung des Gläubigen beurteilt werden. Haydns Messen sind jedenfalls aus der Tiefe eines gottesfürchtigen Gemütes heraus geschaffen und versuchen auf ihre Art dem Herrn zu huldigen. Wenn es ihnen nicht überall und immer gelingt, Andacht zu erwecken, so darf nicht übersehen werden, daß sie für ganz besondere Verhältnisse geschaffen waren, für eine ganz spezielle Kirchen- und Kunstgemeinde, daß sie den natürlichen Instinkten eines bestimmten volksmäßigen Empfindens und Glaubens Rechnung tragen mußten. Und wenn wir ihnen andrerseits künstlerische Mängel vorwerfen müssen, so darf nicht vergessen werden, daß Haydn seine Messen nicht aus freiem Antrieb und in schaffensfreudigen Stunden, sondern immer in höherem Auftrage schrieb, nicht als Gelegenheitswerke im Goetheschen Sinne, sondern »auf Bestellung« mit einem fixen Termine für die Fertigstellung.
Ausschließlich die Wiederaufnahme seiner Tätigkeit als fürstlich Esterhazyscher Kapellmeister brachte es mit sich, daß Haydn sich nach seinen zwei Londoner Reisen wieder der Messenkomposition zuwandte, ein Schaffensgebiet, das er seit dem Jahre 1782, seit der Mariazellermesse, nicht betreten hatte. Des Fürsten Nikolaus II. große Vorliebe für Kirchenmusik war wohl in erster Linie bestimmend für Haydns neu erwachte Tätigkeit auf diesem Gebiete; obzwar es nicht erwiesen ist, daß dem Meister die förmliche Verpflichtung auferlegt war, jedes Jahr eine Messe zum Namenstag der Fürstin Marie21 zu komponieren, wie Pohl22 behauptet, so scheint es doch ein Wunsch des Fürsten gewesen zu sein. Und so besitzen wir[346] aus den letzten Lebensjahren des Meisters sechs große Messen, die mit Bedachtnahme auf die ihm zur Verfügung gestandenen technischen Möglichkeiten geschrieben sind; man muß sagen, daß sie über diese letzteren sogar teilweise hinausgingen, und daß der Meister bei diesen großen Messen, wenngleich für die Propsteikirche in Eisenstadt und die fürstliche Kapelle geschrieben, den Blick manchmal weit hinausschweifen ließ, größeren, bedeutenderen Aufführungsmöglichkeiten zu. Wir haben schon gehört, daß Haydn die fürstliche Kapelle, die zu Beginn seiner wiederaufgenommenen Tätigkeit in ihrem Stande sehr schwach war, durch Heranziehung der »Feldharmonie« (der fürstlichen Militärmusik) für besondere Gelegenheiten verstärken konnte, und daß diese Verstärkung dann später definitiv der fürstlichen Kapelle einverleibt wurde. Daher kam es, daß Haydn im Laufe der Jahre über eine Orchesterbesetzung verfügen konnte, welche so ziemlich der des klassischen Sinfonieorchesters – mit Ausnahme der Posaunen, die in Eisenstadt nicht vorhanden waren – entsprach. Auch das Sängerpersonal nahm an Zahl immer mehr zu, und Haydn hatte daher einen numerisch wie qualitativ recht ansehnlichen Körper zur Verfügung, den entsprechend auszunützen – zur größeren Ehre Gottes und seinem Fürsten zu Gefallen – sein eifrigstes Bestreben war. Daß dieses Bestreben kein völlig erfolgloses war, wird jeder zugeben, der den Haydnschen Messen unbefangen gegenübertritt und sie nicht durch die Brillen doktrinärer Vorurteile betrachtet. Was uns diese Werke aber vor allem wertvoll macht, ist die große entwicklungsgeschichtliche Bedeutung, die sie nicht bloß für die Kirchenmusik, sondern für die Konzertmusik überhaupt haben. Haydn war es, der als erster die Gegenüberstellung von Chor- und Solistenensemble in diesen späteren Messen konsequent durchgeführt, »gleichsam zum Stilprinzip erhoben«23 hat. Das Prinzip dieser Gegenüberstellung von Solistenensemble und Chor nahm er dann in seine beiden Oratorien »Schöpfung« und »Jahreszeiten«, wo allerdings zum Unterschied vom Soloquartett der Messen nur drei Solostimmen auftreten, hinüber, und von ihm hat es Beethoven übernommen, der es in der »Missa solemnis« und namentlich in der Neunten Sinfonie zu großartigster Vollendung[347] geführt hat; wie ja überhaupt die »Missa solemnis« in ihren Grundzügen die Form der Haydnschen Messen, nur ins Titanenhafte gesteigert, zeigt und Beethoven sich hierin als direkter Fortsetzer seines Lehrers – dieser Ausdruck in einem höheren Sinne genommen – erweist.
Haydns sechs große Messen aus der nach-Londoner Zeit sind alle sogenannte »Missae solemnes«, d.h. sie sind ihrem Umfange nach größer, sind reicher instrumentiert, gegliederter und konzertanter in der Behandlung der Stimmen als die damals üblichen Messenkompositionen, was sich aus der besonderen Gelegenheit, für die sie alle komponiert waren, und aus dem Bestreben, in ihnen die künstlerische Gegenleistung für die Stellung am Esterhazyschen Fürstenhofe zu bieten, erklärt. Sie bedeuten einen großen Fortschritt gegenüber den Messen aus Haydns früherer Zeit und zeigen so recht deutlich, welche Entwicklung Haydn inzwischen in bezug auf Satztechnik, Stimmenbehandlung und Instrumentation gemacht hatte. Die Mängel in der Textbehandlung, die man einzelnen dieser späteren ebenso wie der früheren Messen vorwirft, sind Mängel, die der Vokalmusik jener Zeit, wo das Melodische und die Stimmführung die Hauptsache waren, überhaupt anhaften, sind daher nicht etwas spezifisch Haydnsches.
Sehen wir uns die einzelnen Messen nach der Reihenfolge ihrer Entstehung an:
1. »Heiligmesse«. B-dur. Über die äußere Veranlassung und Entstehung vgl. oben S 111.
Das Autograph in der Staatsbibliothek zu Berlin trägt die Überschrift »Missa Sti Bernardi v. Offida di me Giuseppe Haydn 796«. Die Messe wurde oft auch fälschlich »Sti Josephi« bezeichnet. Die allgemein übliche Benennung »Heiligmesse« rührt davon her, daß im Sanctus Alt und Tenor das bekannte Kirchenlied »Heilig, heilig« anstimmen, was von Haydn deutlich bezeichnet wird (er schreibt zum Tenor ausdrücklich »Heilig«). Schnerich24 erscheint die Beziehung zu dem Kirchenlied zu wenig bedeutungsvoll, um den Titel zu rechtfertigen, und er möchte diesen letzteren gerne auf den heiligen Bernhardus bezogen haben, daher die Messe »Heiligenmesse« genannt wissen, welche Folgerung doch zu[348] konstruiert erscheint. Die Orchesterbesetzung der »Heiligmesse« ist: 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, Trompeten, Pauken, Streichorchester und Orgel; der Chor vierstimmig (Sopran, Alt, Tenor, Baß). Auffallend ist das Fehlen der Flöten; die Klarinetten treten nach der Vorschrift des Autographs erst im Credo bei »et incarnatus est« statt der Oboen ein bis zur Stelle »et sepultus est«, dann heißt es bei »et resurrexit« »Clarinetti tacent« bis »et vitam venturi«, wo dann Klarinetten und Oboen zusammengehen. Die letzte Messe Haydns vor den englischen Reisen, die Mariazeller Messe aus dem Jahre 1782, hatte noch keine Klarinetten, mit deren Gebrauch, wie erwähnt, Haydn erst in England vertrauter wird. Das Kyrie besteht aus einer Adagio. Einleitung und einem darauffolgenden dreiteiligen Allegro-Satz, der sehr lebendig und voll Schwung ist, allerdings unseren heutigen Vorstellungen eines Kyrie-Satzes nicht ganz entspricht. Das Gloria ist kräftig, voller Leben; an das »gratias agimus« klingt die Stelle »Domine fili« und »Jesu Christe« aus dem Gloria der Beethovenschen »Missa solemnis« leicht an; der Schluß »in gloria Dei patris« ist fugiert. Das Credo hat nach einem markigen ersten Teil einen Mittelsatz »et incarnatus est«, der plötzlich neben dem gewöhnlichen Soloquartett noch einen zweiten Solo- Sopran und einen zweiten Solo-Baß erfordert; außerdem tritt im Beginn dieses Teiles ein Solo-Cello zu den männlichen Gesangssolisten; der letzte Teil des Credo-Satzes »et vitam venturi« ist eine leicht gesteigerte Fuge. Sanctus25 und Benedictus sind von großer Innigkeit, speziell der letzte Satz; Agnus dei und Dona nobis geben einen würdigen Abschluß. Das fürstlich Esterhazysche Handbuch sagt über die Messe: »ist dankbar für den Sopran«.
2. Paukenmesse. C-dur. Autograph überschrieben »Missa in tempore belli« Eisenstadt 796 Haydn.
Die zweite, die er im Jahre 1796 schrieb. Über Veranlassung und erste Aufführung siehe oben S. 112 f.
Die ursprüngliche Besetzung des Orchesters nach dem Autograph war: 2 Clarini (Trompeten), Timpano, 2 Oboen, 2 Fagotte, 2 Violinen, Viola, beziff. Baß (Cello, Kontrabaß u. Orgel), also keine Flöten und Klarinetten; in der Partitur-Ausgabe von Breitkopf[349] & Härtel ist die Orchesterbesetzung, wahrscheinlich von Haydn selbst, vermehrt. Sie umfaßt außer Streichquintett noch eine Flöte, zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Fagotte, zwei Hörner, zwei Trompeten, Pauken und Orgel.
Die Messe zeigt gegenüber ihrer unmittelbaren Vorgängerin gewisse Fortschritte. Die Faktur ist seiner, zügiger, die Verwendung der vorhandenen Ausdrucksmittel eine freiere. Das fürstlich Esterhazysche Handbuch sagt: »ist dankbar für den Baß«. Aber auch die anderen Solostimmen sind liebevoll behandelt, namentlich wieder der Sopran; das Soloquartett wird zum Hauptträger der musikalischen Gedanken. Ebenso sind die Instrumente aufmerksam bedacht, namentlich das Violoncello, dem im »qui tollis« ein wirkungsvolles Solo zugeteilt ist. Im Agnus tritt die Pauke solistisch auf. Die gedämpften Paukenschläge, von den Streichern dann aufgenommen, können vielleicht das Herannahen von Truppenmassen bedeuten, und so wollte es angeblich auch Haydn selbst aufgefaßt wissen; poetischer ist die Ausdeutung, wonach das Pochen des beklommenen Herzens damit zum Ausdruck gebracht werden soll. Die daran anschließende Fanfare der Bläser, welche das »Dona nobis pacem« einleitet, hat unverkennbar kriegerischen Charakter und gibt die Stimmung wieder, aus der heraus die Friedensbitte entstanden ist. Augenscheinlich war es derselbe Stimmungskomplex, der Beethoven bei der Komposition des »Agnus dei« in der »Missa solemnis« erfüllte; aber auch rein musikalisch genommen weisen die betreffenden Stellen in beiden Werken eine gewisse Ähnlichkeit auf.
3. Nelson-Messe d-moll. Bei den Engländern Coronation-Mass, bei den Franzosen Messe Impériale. Das Autograph befindet sich in der Nationalbibliothek zu Wien. Es trägt zu Beginn die Überschrift »In nomine domini« ... »di me Giuseppe Haydn 10. July 798 Eisenstadt«. Am Schluß: »Fine Laus deo 31. Aug.« Haydn schrieb diese Messe also in einundeinhalb Monaten, während er für die übrigen Messen stets 2 bis 3 Monate benötigte; Haydn war damals krank und konnte nicht ausgehen, was der Arbeit an diesem Werke sehr förderlich war. Die Partitur ist für 2 Trompeten (Clarini) in D, Pauken, Streichorchester und Orgel (auf 2 Systemen ausgeschrieben) gesetzt; Holzbläser fehlen.[350]
Auch diese Messe schlägt kriegerische Töne an; im Benedictus erschallt bei der Stelle »qui venit« der Ruf schmetternder Trompeten, gleichsam den Einzug des Siegers markierend. Nach der Überlieferung soll diese Stelle durch Nelsons Sieg bei Abukir veranlaßt sein. Der ganzen Messe haftet etwas Feierliches, Glänzendes an, selbst das Miserere läßt die nötige Demut vermissen. Das fürstlich Esterhazysche Handbuch notiert: »ist dankbar für den Sopran und Baß«; aber auch der Tenor hat Gelegenheit, in dem rührenden »et incarnatus« sich hervorzutun. Im Verlauf der Messe sind häufig die Chorresponsen den »vorbetenden« Solostimmen gegenübergestellt. Einzelne Stellen in der Messe lassen erkennen, daß ihre Entstehung in die »Schöpfung«- und »Jahreszeiten«-Epoche fällt: im Gloria erinnert Anfang und Ende stark an »Die Himmel erzählen« und »laut ertönt aus ihren Kehlen«, und ebenso klingen im Benedictus die beiden Oratorien – wenn auch ganz flüchtig – an. Das »Credo in unum deum« ist einer alten Choralmelodie entnommen. Übrigens sei auch erwähnt, daß das Seitenthema im Finale der d-moll-Sinfonie von Robert Schumann ganz dem »Dona nobis« der Nelson-Messe ähnelt, eine Ähnlichkeit, die durch die Begleitungsfigur der zweiten Geige noch verstärkt wird.
4. Theresien-Messe. B-dur. Autograph in der National-Bibliothek zu Wien. Zu Anfang: »In Nomine Domini di me Giuseppe Haydn 799«. Am Ende: »Laus Deo«. Genaue Datierung fehlt, so daß man nicht weiß, ob sie eine der für Eisenstadt komponierten war, oder ob sie separat, auf Wunsch oder zu Ehren der Kaiserin Maria Theresia, der zweiten Gemahlin Kaiser Franz' II., geschrieben wurde. Die Besetzung nach dem Autograph ist 2 Violinen, Viola, Baß, Orgel (auf einem System), 2 Klarinetten in B, 2 Trompeten in B und Pauken. Das fürstlich Esterhazysche Handbuch sagt: »Ist dankbar für den Sopran«. Sie ist aber vor allem dankbar für den Dirigenten: leicht aufzuführen, ist sie von einer Musizierfreudigkeit, die ihre Beliebtheit bei Zuhörern und Ausführenden erklärlich macht. Dem ersten Einleitungs-Adagio des Kyrie folgt gleich ein fließend gearbeiteter Alle gro-Satz, der in eine Fuge endet, die das Thema der Kyrie-Fuge in Mozarts Requiem verwertet. Kyrie, Gloria und Credo sind – man muß es sagen – ein wenig äußerlich, erst das Sanctus wird etwas[351] gehaltvoller, und das Benedictus ist vielleicht der beste aller Teile. Das Agnus dei ist wieder ernst, das Dona nobis ist brillant und lebhaft bis zum Schluß, eher für ein festliches Te Deum geeignet als für die Friedensbitte einer Messe.
5. Schöpfungsmesse. Missa solemnis. B-dur. Autograph im Besitz von Breitkopf & Härtel enthält den Zusatz: »di me Giuseppe Haydn 801 ai 28to di Luglio«. Dieses Datum bezeichnet den Beginn der Komposition, denn in einem Briefe vom 11. September 1801 schreibt Haydn: »ich möchte Ihnen gern ein mehreres schreiben aber eben bin ich armer alter Knab mit meiner neuen Mess, so übermorgen produzirt werden muß beim Schluß ...«
Die Orchesterbesetzung nach der autographen Partitur weist auf: 2 Klarinetten in B, 2 Oboen, Fagott, Streichquartett und Orgel. Aber im »Sanctus« enthält das Autograph oben über den Noten von Haydns Hand die Bemerkung: NB. Corno 2do e Tympano oblig. In die gedruckte Partitur sind diese zwei Hörner und Pauken aufgenommen. Die Messe gehört nicht zu den stärksten Werken des Meisters. Sie ist redselig, ohne vielsagend zu sein, hat viel äußeren Glanz, läßt aber Innerlichkeit vermissen. Im Agnus dei erscheint an der Stelle qui tollis peccata die Melodie des Duetts aus der »Schöpfung«: der tauende Morgen. Auf Wunsch der Kaiserin mußte Haydn in der Abschrift, die er von der Partitur für sie machte, diese Stelle ändern.
Griesinger erzählt über dieses Selbstzitat (Leipziger Allg. Mus. Ztg. 1809, S. 743) eine Geschichte, die Haydn in einem sehr frivolen Lichte erscheinen ließe, wenn sie wahr wäre: »In der Messe, welche Haydn im Jahre 1801 schrieb, fiel ihm bei dem Agnus dei qui tollis peccata mundi ein, daß die schwachen Sterblichen doch meistens nur gegen die Mäßigkeit und Keuschheit sündigten. Er setzte also die Worte:qui tollis peccata mundi ganz nach der tändelnden Melodie in der Schöpfung: der thauende Morgen, o, wie ermuntert er! Damit aber dieser profane Gedanke nicht zu sehr hervorstäche, ließ er unmittelbar darauf in vollen Chören das Miserere anstimmen.«
Dies erzählt wiederum über das Agnus in der Schöpfungsmesse, daß Haydn das Miserere mit Allegro überschrieb, »in Erwägung, daß der unendliche Gott seines unendlichen Geschöpfes sich gewiß erbarmen werde«. Haydn sei von einer plötzlichen[352] Freudigkeit während der Komposition befallen worden und machte dadurch seinem fröhlichen Gemüte Luft. Diese Anekdote klingt deshalb nicht glaublich, weil eine Allegro-Vorzeichnung im Agnus dieser Messe nirgends zu finden ist. Und ebenso ist die Griesingersche Anekdote wohl pure Erfindung; Haydn hatte das Thema aus der »Schöpfung« verwendet, weil es ihm gerade so aus der Feder floß, und hat nicht viel überlegt, auf welchen Text es ursprünglich komponiert war oder welche Beziehungen sich daraus konstruieren ließen. Zelter, der in seiner Haydn-Begeisterung alles, was von seinem Idol stammte, dankbarst hinnahm, schrieb auf sein Exemplar der Partitur: »Opus summum viri summi«.
6. Messe in B-dur (Harmoniemesse). Autograph zuletzt im Besitz von Charles Malherbe in Paris. Das Autograph der Horn-, Trompeten- und Paukenstimmen in der Bibl. des Pariser Konservatoriums. Auf der 1. Seite:
Kyrie. In nomine Domini di me Giuseppe Haydn 1802 am Ende: Fine – Laus Deo.
Eine Abschrift, wahrscheinlich von der Hand Johann Elßlers, seinerzeit im Besitze von dessen Bruder in Berlin, enthält die Überschrift: Missa in B 1802 Neukomm geschenkt d. 16. Febr. 1809.
Es ist dieselbe Messe, über die Haydn an den Fürsten Esterhazy unterm 14. Juni 1802 schrieb: »– indessen bin ich an der Neuen Messe sehr mühesam fleißig, noch mehr aber furchtsam, ob ich noch einigen Beifall werde erhalten können.« Orchesterbesetzung: 1 Flöte, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, Pauken, 2 Violinen, Viola, Baß und Orgel.
Der Name »Harmoniemesse« rührt wahrscheinlich von der reichlichen Verwendung der Bläser her. Gegenüber der »Schöpfungsmesse« bedeutet sie einen Aufstieg, wenngleich sie nicht zu den stärksten Haydnschen Messen gehört. Das fürstlich Esterhazysche Handbuch bemerkt: »ist dankbar für den Sopran«, dem tatsächlich einige eindrucksvolle Soli, speziell das »Incarnatus est«, anvertraut sind. Von tieferer Wirkung ist auch das »Benedictus«; dagegen muß das »Dona nobis pacem«, welches ganz nach Art der Schluß. Stretta einer Ouvertüre in rauschendem, scharf rhythmisiertem Allegro con spirito dem Ende zueilt, Widerspruch erregen.[353]
Aus der Gruppe der vielen kleineren Kirchenwerke, die Haydn noch in diesen letzten Jahren seines Schaffens geschrieben haben mag, verdient eines nur Hervorhebung und Betrachtung: das zweite, sogenannte große, Tedeum in C-dur. Über die äußere Veranlassung zur Komposition dieses Stückes ist nichts bekannt. Eine Version geht dahin, daß es bei einem Dankgottesdienste anläßlich der Befreiung Italiens von der französischen Invasion in der italienischen Nationalkirche zu Wien zum erstenmal aufgeführt wurde, doch ist diese Mutmaßung nicht sehr glaubhaft. Im Herbst des Jahres 1800 ist von dem Tedeum wiederholt die Rede: Griesinger schreibt darüber an Breitkopf & Härtel und sagt, daß es Haydn vor zwei oder drei Jahren für die Kaiserin gemacht habe; er erwähnt auch, daß es nur in Stimmen vorhanden sei. Unter den Rechnungen in Eisenstadt befand sich auch eine von Haydn unterfertigte Spezifikation über »Copiatur meines Te Deum 6 fl 24 empfangen 28. Oct. 1800«.
Jedenfalls haben wir es also mit einem Werke der spätesten Schaffensperiode Haydns zu tun, und es hat auch alle Vorzüge der anderen Haydnschen Werke dieser Zeit. Besetzung und Anlage entsprechen den letzten Messen; im Orchester sind Flöte, 2 Oboen, 2 Fagotte, 2 Hörner, drei Trompeten, Pauken, Streicher und Orgel vertreten 'keine Klarinetten!), dazu tritt vierstimmiger gemischter Chor. Das Werk hat bald nach seinem Erscheinen großen Beifall und starke Verbreitung gefunden; in Deutschland durch den unterlegten deutschen Text von C.A.H. Clodius »Sieh', die Völker auf den Knien«, aber auch im Auslande, namentlich in Frankreich. Hermann Kretzschmar, welcher in seinem »Führer durch den Konzertsaal« die Haydnschen Messen so sehr in Grund und Boden verdammt, kann sich nicht genug tun in Worten des Lobes über dieses »Tedeum«. Eines wie das andere ist übertrieben: Das Tedeum erhebt sich in bezug auf Satztechnik, Schönheit der melodischen Erfindung, Gefühlsinhalt über keine der gleichzeitigen Haydnschen Messen, von denen einige vielmehr höher zu werten sind. Was Kretzschmar und andere dazu verführt haben mag, dieses kirchliche Werk so hoch einzuschätzen, ist möglicherweise der Umstand, daß die festlich-glänzende Art der Haydnschen Kirchenkompositionen hier dem Text adäquater ist als in der Messe, wo doch viele Teile ganz von transzendentaler Mystik erfüllt sind, ein Gebiet, das dem weltfreudigen Haydn so ferne lag.[354]
Zwischen die Messen und die beiden weltlichen Oratorien Haydns wäre die Bearbeitung der »Sieben Worte« als Vokalkomposition zu stellen, die bereits im II. Bande (S. 214 und 341 ff.) erschöpfend behandelt ist; seither ist noch die ausgezeichnete Studie von Sandberger, »Zur Entstehungsgeschichte von Haydns ›Sieben Worten des Erlösers am Kreuze‹« (Musikbuch Peters 1903) erschienen, welche die Ausführungen Pohls in wertvoller Weise ergänzt.
Die Krönung des Haydnschen Schaffens, nicht bloß der Londoner und nach-Londoner Epoche, sondern seines Gesamtschaffens, sind wohl die »Schöpfung« und die »Jahreszeiten«.
Ohne Haydns Aufenthalt in England wären diese beiden Werke nicht entstanden, das ist sicher. Nicht aus dem äußerlichen Grunde, weil Haydn sich die Texte zu beiden Oratorien aus den Werken englischer Dichter holte; sondern weil er erst in London das Verhältnis zu der Kunstform des Oratoriums gewann. In Wien hatte vor den beiden Meisterwerken Haydns das deutsche Oratorium noch keinen Boden gewinnen können; die Werke Händels waren sehr wenig, jene Johann Seb. Bachs fast gar nicht bekannt. Dem italienischen Oratorium, das–der italienischen Oper verwandt–deren Schwächen noch deutlicher hervorkehrte, mangelte es an Charakteristik, an ethischer und künstlerischer Vertiefung, an Freiheit formaler Entwicklung, kurz an allem, zu dem sich ein wahrer Meister hingezogen fühlen konnte. Da hört Haydn in London die großen Werke Händels in liebevoll vorbereiteten, andachtsvoll aufgenommenen Aufführungen; kein Wunder, daß es ihn reizt, auch derart mit großem technischen Apparat, mit Solisten, Chor und Orchester zu arbeiten und Wirkung auf die große Masse zu erzielen. Den Text zur »Schöpfung« hat Haydn, wie überliefert wird, anläßlich seines zweiten Londoner Aufenthaltes von Salomon erhalten und nach Wien mitgebracht. Die Dichtung war in Anlehnung an den zweiten Teil von Miltons »Paradise lost« von Lindley, angeblich für Händel, verfaßt worden. Eine sehr hübsche, bisher unbekannte Anekdote will einen Fingerzeig geben, wann und wie in Haydn zum ersten Male der Gedanke an die Komposition der »Schöpfung« geweckt wurde. George Grove schrieb im Jahre 1878 einen Brief an C.F. Pohl, welcher folgendermaßen lautete: »I have just[355] seen old W. Purday, born 1799, whose father was a Music seller, and who has been connected with Music all his life. He has told me one or two stories which may be useful to you.« Die zweite dieser Geschichten lautet: »2. Barthelemon told Purdays father that Haydn while here said to him, ›I wish to write something which will male my name last in the world. What would you advise me to dor‹ Barthelemon took up a Bible which was lying near and said ›There is the book; begin at the beginnig‹, – and this was the first suggestion of the Creation.« Dieses Geschichtchen hat viel Wahrscheinlichkeit für sich. Haydns brennender Ehrgeiz, seinen Ruhm zu mehren und zu einem dauernden zu machen, zeigt sich auch noch später in vielen Äußerungen und Handlungen. Die Anregung, auf das Buch der Bücher zu greifen und sich hier den Stoff für jenes Werk zu suchen, das seinen Namen für ewige Zeiten groß machen sollte, mag daher mehr auf ihn gewirkt haben als Salomons und später van Swietens Drängen, doch auch ein großes Oratorium zu schreiben. Der Gedanke, die Schöpfungsgeschichte zum Stoff eines musikalischen Werkes zu wählen, war an und für sich kein ganz neuer. Schering26 erwähnt eine Kantate des Rheinsberger Kapellmeisters K. Possin, »Die Schöpfungsfeier« (1782), eine andere »Die Schöpfung« (1781) des Weimarer Kapellmeisters Benedict Krauß. Die Anregung zu diesen Werken dürfte von Klopstocks Ode »Morgengesang am Schöpfungsfeste« (1782) ausgegangen sein, ebenso wie nach Schering zu dem 1796 von Ludw. Aem. Kunzen in Kopenhagen aufgeführten »Halleluja der Schöpfung« eine Klopstocksche Ode »das große Halleluja« (1766) Anregung gegeben haben dürfte. Ob Haydn, ja auch nur van Swieten, etwas von diesen Vorläufern der »Schöpfung« kannte, ist sehr fraglich, um so mehr, als sie sich in der Anlage des Ganzen nicht im geringsten an die bestehenden Vorbilder hielten. Im Bau und der formalen Gliederung unterscheiden sich »Schöpfung« und »Jahreszeiten« sowohl von den italienischen Oratorien als von den Oratorien Händels ganz wesentlich und bilden eigentlich eine Kategorie für sich, die ganz vereinzelt besteht und auch in der Folgezeit keine Anlehnung oder Weiterbildung[356] erfuhr. Wie weit die äußere Einteilung des Textes schon in dem Lindleyschen Original enthalten war, ist nicht zu konstatieren, da dieses nicht bekannt ist27. Die englische Originalfassung dürfte aber die Gliederung und die Textierung, die wir jetzt in der deutschen Umarbeitung vor uns sehen, kaum aufgewiesen haben. Der Einfluß der Händelschen Oratorien auf die Textbehandlung ist zu spüren, aber andrerseits sind in dem van Swietenschen Texte doch viele stilistische Züge enthalten, die auf das italienische Oratorium hinweisen. Schering macht mit Recht darauf aufmerksam, daß die drei Erzengel Raphael, Gabriel und Uriel, welche die Schöpfungstage, oft mit wörtlicher Zitierung der Bibelworte, schildern, aus dem »Testo« des früheren italienischen Oratoriums hervorgegangen sind, wozu ich aber andererseits die Parallele mit dem Evangelisten der deutschen Passionsmusiken hinzufügen möchte. Die strenge Auseinanderhaltung von Solo und Chor, die bei Händel vorherrschend ist, ist in der »Schöpfung« glücklicherweise durchbrochen; vielfach erscheinen Ensemblesätze, die frei ausgestaltet sind und im Text ihre formale Unterlage finden. Van Swieten, dem zum Dichter noch sehr viel fehlte, hat sich jedenfalls als ein geschickter Macher erwiesen, der Haydn den Text zurechtschnitt und zusammenkleisterte und dann es dem Tonmeister überließ, diese papierenen Tüten mit den köstlichsten Früchten zu füllen. So sehr es einerseits bedauert werden muß, daß Haydn unter der Fuchtel dieses selbstbewußten, von seiner poetischen Begabung ebenso wie von seiner gesellschaftlichen Wichtigkeit überzeugten Herrn stand, ist es vielleicht van Swieten zu danken, daß durch ihn, der immer auf grobsinnliche Wirkungen ausging, Haydn zu mancher Überschreitung der Grenzen des Reinkünstlerischen verleitet wurde, die uns heute recht anregend und liebenswert dünkt. Van Swieten begnügte sich bekanntlich nicht mit der Herstellung des Textes, sondern mengte sich auch in die musikalische Komposition, für welche er Haydn bis ins Detail gehende, von diesem wohl oder übel befolgte Vorschläge und Vorschriften machte, darunter manche, die dem Werke eher zum Vorteile gereichten. Die Vorschriften van Swietens über die Komposition der »Jahreszeiten« wurden von Friedländer (Jahrbuch[357] der Musikbibliothek Peters 1909) veröffentlicht; hierüber wird später zu sprechen sein. Bisher unbekannt blieb aber, daß solche musikalische Randbemerkungen van Swietens schon bei der »Schöpfung« gemacht wurden. Sie sind in einem handschriftlichen Exemplar des Textbuches, das sich in der Eisenstädter Bibliothek befindet, enthalten und von van Swieten eigenhändig dazugeschrieben. Dieses Textbuch umfaßt 15 Seiten in Quartformat; es enthält die Dichtung in der bekannten Disposition. Die Namen der drei Erzengel kommen nicht vor, bloß die Überschrift »Engel« und später »Adam« und »Eva«. Bei den Rezitativen und Arien ist die betreffende Stimmgattung: Sopran, Tenor, Baß von van Swieten angegeben. Bei den einzelnen Nummern des Werkes liest man nun nachfolgende Randbemerkungen:
»Erster Teil (Ouvertüre. Rezitativ mit Begl.Basso ›Im Anfang schuf Gott‹).
Die mahlerischen Züge der Ouverture könnten diesem Recitativ zur Begleitung dienen.
(Chor ›Und der Geist Gottes‹ – bis ›und es ward Licht‹ Rezitativ Tenor Aria Tenor ›Nun schwanden‹)
In dem Chore könnte die Finsternis nach und nach schwinden; doch so, daß von dem Dunkel genug übrig bliebe, um den augenblicklichen Übergang zum Licht recht stark empfinden zu machen. Es werde Licht etz. darf nur einmal gesagt werden.
(Chor: ›Verzweiflung, Wuth‹ Auftritt. Ein Engel Rezit. Basso Aria, etz.)
Es dürfte gut sein, wenn das Schlußritornell der Arie den Chor ankündigte und dieser dann sogleich einfiele, um die Empfindung der entfliehenden Höllengeister auszudrücken.
Zweiter Teil: (Rezit. Aria ›Auf starkem Fittige‹ – ›ihr reizender Gesang‹;
Der drei letzten Verse wegen können nur die freudig zwitschernden, nicht die langgezogenen Töne der Nachtigall nachgeahmt werden.
(Rezit. Basso dann in tempo ›Seid fruchtbar‹)
Hier scheint, daß die bloße Begleitung des nach einem geraden Rhythmus sich feierlich bewegenden Basses gute Wirkung machen würde.
[358] (Terzetto Soprano ›In holder Anmut‹)
Zu diesen Strophen dürfte wohl eine ganz einfache und syllabische Melodie sich am besten schicken, damit man die Worte deutlich vernehmen könne; doch mag die Begleitung den Lauf des Bachs, den Flug der Vögel und die schnelle Bewegung der Fische malen.
(Chor: ›Der Herr ist groß‹)
Dieser Chor soll nur dasjenige, was die drei Stimmen vorher sangen, verstärken und also nicht lang sein.
(Vor dem Ende des 2. Teiles: ›Vollendet ist das große Werk‹ – ›Alles lobe seinen Namen‹)
Auf ›Alles lobe etz.‹ eine Fuge, wenn man will.
Dritter Teil (Ein Engel Rezit. mit Begl. Tenor ›Aus Rosenwolken bricht‹)
Hier könnte eine etwas längere Einleitung, welche den süßen Klang und die reine Harmonie ausdrückt, dem Recit. zur Vorbereitung dienen und hernach daraus die Begleitung zu den sechs ersten Versen genommen werden. Auch scheint, daß hiebei mehr auf Harmonie als auf Melodie zu sehen wäre und diese wenigstens bloß schwebend oder gedehnt sein müßte.
(Lobgesang Adam und Eva mit abwechselndem Chor der Engel)
Da hier das erste, noch unerfahrene und unschuldige Menschenpaar sein inneres Gefühl ausdrückt, so folgt von selbst, daß der Gesang einfach und die Melodie syllabisch fortschreitend sein müsse; doch könnte sie für Adam einen festeren Gang als für Eva Statt haben und der Unterschied in der Empfindung, den das Geschlecht verursacht, vielleicht durch die Abwechslung des
(Chor der Engel. ›Gesegnet sei des Herrn Macht‹)
Der eingeschaltete Engelchor soll die Einförmigkeit der Strophen brechen und besonders gegen ihren melodischen Gesang abstechen, was wohl am besten durch Harmonie bewirkt werden dürfte.
(Am Schluß: ›Des Herrn Ruhm, er bleibt in Ewigkeit, Amen‹)
Auf den letzten Vers und das Amen könnte eine Fuge als Wettgesang Statt haben.«[359]
Diese Vorschriften van Swietens sind hier noch nicht so imperativ, wie er sie dann bei den »Jahreszeiten« geäußert hat, auch noch nicht so minutiös ins Detail gehend, sondern bestehen nur aus einigen an ein paar Stellen und nur in Umrissen gegebenen Anregungen. Friedländer irrt, wenn er glaubt, daß Haydn sich von van Swieten alles und jedes gefallen ließ und »in seiner demütig-bescheidenen Natur ... sich weniger an persönlichen Eigenheiten der Hochgestellten stieß«. Dort, wo es darauf ankam, setzte Haydn auch seinen Kopf auf und bewies, wenn es nottat, auch »Männerstolz vor Fürstenthronen«. Aber abgesehen davon, daß seine ganze Art eine ruhigere, abgeklärte, Temperamentsausbrüchen weniger zugängliche war, dürfte Haydn vielleicht gefühlt haben, daß van Swieten nicht übel daran tat, ihm diese Vorschriften zu geben, und daß es gut war, sie zu befolgen. Haydns künstlerisches Schaffen war ein ganz naives, nur aus den Quellen der Musik als solcher schöpfendes, und alles darüber Hinausgehende lag ihm nicht28. Er sah wahrscheinlich ein, daß van Swieten sehr viel Verständnis für Charakteristik, für Verwertung der technischen Mittel und für deren Wirkung auf das Publikum habe, und deshalb folgte er getreulich seinen Vorschriften. Man darf nur nicht glauben, daß Haydn durch diese Vorschriften die Arbeit leicht gemacht wurde und er sie schon aus Bequemlichkeit befolgt habe. Er hat sich mit der Komposition der »Schöpfung« ebenso wie mit der der »Jahreszeiten« abgemüht und abgequält und war oft verzweifelt, weil er das Richtige nicht fand. Das beweisen nicht nur seine Äußerungen, sondern noch deutlicher die Skizzen zur »Schöpfung«, die in der Wiener Nationalbibliothek aufbewahrt werden. Gleich die Ouvertüre machte er zum Gegenstande intensivster Detailarbeit. Diese Einleitung, »die Vorstellung des Chaos«, mußte in ihrer die altgewohnten Bahnen verlassenden Form, in ihren überraschenden harmonischen Wendungen und der ganz neuen Art der Verwendung der Instrumente teils Bewunderung, teils Widerspruch erregen. Zelter nennt sie »das Herrlichste in diesem Werke, die Krone auf einem königlichen Haupte« und schreibt an Goethe darüber: »Durch ordentliche methodische[360] Kunstmittel wird ein Chaos hervorgebracht, welches die Empfindung bodenloser Unordnung zu einer Empfindung des Vergnügens macht.« Dagegen schreibt beispielsweise Monsigny in seinem »Cours complet d' Harmonie« über das Chaos in der »Schöpfung« (deutsch übersetzt): »Dieses Oratorium ist eines der schönsten Werke dieses großen Mannes. Doch scheint er an einigen Stellen vergessen zu haben, daß selbst das Chaos sich in der Musik nur nach den Gesetzen der Harmonie schildern läßt. Denn außer diesen Gesetzen gibt es kein Heil oder vielmehr keine Musik, sondern bloß ein mißtönendes Geräusch, das nicht schildert, sondern die Ohren zerreißt, das gesunde Gefühl und die Vernunft beleidigt. Ein so großer und erhabener Schilderer Haydn auch ist, es gibt doch Dinge, die er nicht erreichen kann, weil sie überhaupt der Musik unzugänglich sind. Solche Dinge ausdrücken zu wollen zeigt, daß man die Grenzen seiner Kunst nicht kennt und sich der Gefahr aussetzt, die Würde seines Talentes zu kompromittieren.« Wir denken heute freilich anders über dieses Stück. Nicht bloß, weil wir technisch dieses Stadium der musikalischen Entwicklung weit hinter uns gelassen haben, nicht bloß deshalb, weil wir harmonisch schon ganz anders zu denken und zu hören gewohnt sind, als man es damals war, sondern weil wir, selbst im Sinne jener Zeit, dieses Chaos »zwar wirr, doch nicht verwirrt« finden können. Aufmerksamer Betrachtung wird es auch nicht entgehen können, daß Haydn bei aller Freiheit doch eine Form gewahrt hat, gewissermaßen eine komprimierte Fassung der dreiteiligen Liedform. So wie hier ist auch im übrigen Verlaufe des Werkes die Form jeweils dem Inhalt untergeordnet und durch diesen bestimmt. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Arie Raphaels »Rollend in schäumenden Wellen«, deren Teile durch die im Text beschriebenen Arten des Gewässers: Bewegtes und ruhiges Meer, Strom und Bach bestimmt werden. Die meisten übrigen Arien sind gewöhnlich liedhaft in der Melodie und in der formalen Gestaltung, keineswegs (die bekannte Arie des Gabriel »Auf starkem Fittige schwinget sich« ausgenommen) konzertant oder bravourös, so wie es etwa die Händelschen Arien sind. Bemerkenswert aber ist die subjektivere Verwendung des Chors und das Zusammenwirken von Solostimmen und Chor, worin Haydn im italienischen Oratorium und auch bei Händel kein Vorbild hat. Man nehme nur etwa den gigantischen Höllensturz der in die ewige Verdammnis entsandten[361] Geister, der in dem Einsatz, »Verzweiflung, Wuth und Schrecken« liegt (wobei die Beruhigung durch die folgende Chorstelle »Und eine neue Welt« herbeigeführt wird). Oder das Duett »Von Deiner Güt'« mit seinen dazwischengeworfenen charakteristischen Chorsätzen29. Für diese eindrucksvolle Art der Chorbehandlung brauchte Haydn aber nicht etwa fremde Vorbilder zu suchen, sondern konnte sie in seinen eigenen Werken finden, nämlich in seinen Messen. Man vergleiche das erwähnte schöne Duett »Von Deiner Güt', o Herr!« und die dazwischen psalmodierenden Chorresponsen mit dem »et incarnatus est« aus der »Heiligmesse« oder dem »Qui tollis« aus der »Paukenmesse«.
Vergleichen wir heutzutage »Schöpfung« und »Jahreszeiten«, und zwar zunächst vom textlichen Standpunkte aus, so geben wir fast den »Jahreszeiten« den Vorzug. Haydn selbst soll die »Schöpfung« höhergestellt haben; in den »Jahreszeiten« sängen die Menschen, in der »Schöpfung« aber die Engel, soll er geäußert haben. Für unsere Zeit ist aber gerade die stärkere Betonung des Rein-Menschlichen in den »Jahreszeiten« ein Moment, das uns anzieht, während andererseits in der »Schöpfung« die vielen Lobpreisungen Gottes sich in ihrer Eindrucksfähigkeit abschwächen. Das kecke Hineingreifen ins volle Menschenleben, die leichte Vulgarität, die in manchen Szenen der »Jahreszeiten« zu spüren ist, gibt ihnen einen frischen Zug und regt den Hörer an, so daß er über einzelne Längen des Werkes hinüberkommt. Diese Lebendigkeit des Textes hat schon zu Haydns Lebzeiten dazu verleitet, die »Jahreszeiten« oder Teile davon szenisch im Kostüm und mit[362] Dekorationen aufzuführen. Eine Rechtfertigung einer solchen szenischen Aufführung, die im Dresdner Opernhause als Einlage in der Oper »Il giorno natalizio« im April 1802 stattfand30, enthält das Musikalische Taschenbuch für das Jahr 1803 von J. u.A. Werden; dort heißt es (S. 347): »Haydns Musik zu der Schöpfung und noch mehr zu den Jahreszeiten ist aber nicht lyrisch, sondern auch episch und dramatisch, ja sogar vollkommen theatralisch. Der Gesang ist melodisch und ebenso poetisch, die Instrumentalmusik deklamatorisch, mimisch und plastisch. Jener ist das eigentlich Poetische, diese formiert das Plastische, die Dekorationen und Maschinerien des Dramas. Die Dresdener Opernbühne hat also durch die Hinzufügung des eigentlich Theatralischen bei der Aufführung der ›Jahreszeiten‹ im Grunde einen Pleonasmus begangen31.«
Gleichwie bei der »Schöpfung« liegt dem Text der »Jahreszeiten« ein englisches Original zugrunde; des englischen Dichters James Thomson Lehrgedicht »The seasons« wurde von van Swieten, ungewiß ob aus eigenem Antrieb oder auf Anregung Haydns, in ähnlicher Weise und nach demselben Rezept wie bei der »Schöpfung« in ein Oratorium umgewandelt. Die Stufen des Werdens, Seins und Vergehens in der Natur und im Menschen haben Komponisten schon vielfach vor Haydn beschäftigt, Thomsons Lehrgedicht ist sogar schon vor Haydn Gegenstand der Vertonung gewesen; in Zürich erschien 1747 »Herrn Thomsons Lobgesang auf die vier Jahreszeiten, von Herrn Brockes übersetzt, und in Musik gebracht zu drei Stimmen und einem oder zween Chören[363] von H.T.O.«32. Eine Aufforderung an Haydn, sich einem verwandten Stoffe zuzuwenden, enthält die Musicalische Real-Zeitung vom 3. März 1788 anläßlich einer Rezension des Klavierauszuges der »Sieben Worte«; da heißt es: »Möchte sich doch Herr Haydn entschließen, uns mehr Tonstücke dieser Art zu geben! Die vier Stufen des menschlichen Alters, welches schöne Sujet wäre dies nicht!« Später wurden die vier Tageszeiten der Stoff, dessen sich die Komponisten in der Zukunft bemächtigt haben, da sie sich an die Jahreszeiten, nach Haydns Meisterwerk, nicht mehr heranwagten33.
Schnerichs Bemerkung34, daß van Swieten das Milieu des Gedichtes ins Niederösterreichische übertragen habe, ist sehr treffend Land und Leute, ihre Freuden und Leiden, ihr Verhältnis zur umgebenden Natur sind so geschildert, wie sie sich dem Dichter und dem Tonsetzer in dem Gebiet um Wien herum zeigten. Mit Ausnahme des Winters, wo sich der Text auch zu dichterischer Höhe erhebt und an die letzten Dinge des Menschendaseins rührt, ist das Verhältnis zwischen Mensch und Natur stark äußerlich aufgefaßt, und das Werk erschöpft sich in rein schildernder Darstellung. Swieten, der, wie schon erwähnt, auch auf die musikalische Gestaltung des Werkes Einfluß nahm und detaillierte Vorschriften für die Vertonung der einzelnen Teile gab, verlangte die Wiedergabe dieser Naturschilderungen auf tonmalerischem Wege, sehr zum Verdrusse Haydns, der nur widerwärtig und mit vielen offenen und heimlichen Protesten sich den Weisungen van Swietens fügte. Die Erörterung über Zulässigkeit oder Unzulässigkeit von Tonmalereien wird bekanntlich während der ganzen historischen Entwicklung der Musik geführt, und es gab Zeiten, wo – um sich trivial auszudrücken – die Tonmalerei modern und solche, wo sie verpönt war. Zu Haydns und der Klassiker Zeiten galt tonmalerische Betätigung als Schwerverbrechen wider den heiligen Geist der Musik, und wenn ein Tonmeister so gelegentlich eine kleine Stelle mit Nachahmung von Naturlauten einschmuggelte, so hatte er ein Gefühl, wie wenn er der hohen Obrigkeit ein[364] Schnippchen geschlagen hätte. Daher auch Beethovens gewissermaßen entschuldigende Überschrift zur Pastoral-Sinfonie »mehr Ausdruck der Empfindung als Mahlerey«, und ebendaher auch Haydns Bemühungen, die Schuld an den Tonmalereien in den »Jahreszeiten« vollständig auf van Swieten abzuwälzen. Schon während der Arbeit jammerte Haydn, daß er den Fleiß in Musik setzen müsse, daß er das Treiben der Jagd, die ausgelassenen Rufe der Winzer u.a. musikalisch darstellen müsse. Sich dem Diktat Swietens zu widersetzen wagte er nicht; durch eine Indiskretion kam aber Haydns wahre Meinung über diese von ihm gezwungenermaßen geschaffenen Spielereien aus Tageslicht. Bei der Korrektur des von A.E. Müller für Breitkopf & Härtel angefertigten Klavierauszuges mißfiel ihm die Stelle, in welcher er auf Wunsch Swietens nach französischem (Gretry?) Vorbild das Froschgequak nachzuahmen versuchte, derart, daß er sie – wenigstens im Klavierauszug – änderte und auf die betreffende Korrekturbeilage noch schrieb: »NB.! diese ganze Stelle als eine Imitazion eines Frosches ist nicht aus meiner Feder geflossen; es wurde mir aufgedrungen, diesen französischen Quark niederzuschreiben; mit dem ganzen Orchester verschwindet dieser elende Gedanke gar bald, aber als Clavierauszug kann derselbe nicht bestehen35.«
Durch eine Indiskretion Müllers erhielt A.G. Spazier, der Herausgeber der »Zeitung für die elegante Welt«, in welcher kurz vorher eine nicht eben günstige Kritik der »Schöpfung« aus der Feder Kunzens erschienen war, Kenntnis von dieser schriftlichen Äußerung Haydns. Spazier beeilte sich, sie abzudrucken und bei dieser Gelegenheit die Komposition der »Jahreszeiten« im Gegensatz zum Text möglichst herauszustreichen. Die Folge davon war die bekannte, allerdings nur kurze Zeit währende Verstimmung zwischen van Swieten und Haydn. Der Artikel in der »Zeitung für die elegante Welt« vom 31. Dezember 1801 lautete folgendermaßen:
»Den Vorzug der ersten und zugleich gelungenen öffentl. Aufführung des neuen großen Produktes des Haydn'schen Genies, der Jahreszeiten, hat Leipzig. Nachdem diese Musik theilweise in dem Konzerte auf der Thomasschule[365] gegeben worden war, – welches Kon zert unter sehr edler Begünstigung des verdienten Herrn Prokonsuls Einert, eines großen Kunstfreundes, von Herrn Mus. Direktor Müller erst unlängst verrichtet worden ist, – führte dieser sie am 20. d.M. im Zusammenhange, mit kurzen Unterbrechungen, auf dem hiesigen Theater mit großem Beifall auf; und am 2. Weihnachtsfeiertage wurde diese Musik zur Freude des Publikums ebendaselbst wiederholt.
Eine Theaterdekorazion kann dem Effekte einer Musik eigentlich nicht sehr günstig sein; allein dennoch machten die Jahreszeiten – von den beiden vereinigten Orchestern des Konzertes und des Theaters, so wie von der Dem. Weinmann aus Halle und den wackern musikalischen Thomasschülern mit vieler Anstrengung und Präzision ausgeführt – eine sehr große Wirkung. Zur Würdigung eines solchen Werkes gehört zwar etwas mehr, als man billiger Weise vom größeren Theil eines Publikums erwarten kann: doch aber mußte selbst für den allgemeinern Sinn sich die Ahnung ergeben, daß hier außerordentliche Dinge vorgiengen und daß ein Werk zur Sprache gebracht sei, das dem Ohre und der Phantasie viel zu sagen haben müsse.
Und so ist es in der That. Die Jahreszeiten stehen, als musikalisches Kunstwerk, das mehr aus einem Ganzen ist, selbst in Ansehung der ungleich größeren Mannigfaltigkeit und Frischheit (einige gedehnte Stellen, z.B. der Anfang des Herbstes, ausgenommen, wo der Komponist offenbar nicht wußte, was er aus dem elenden trockenen Texte machen sollte) bei weitem über die Schöpfung, von welcher, was der Welt bei ihrem Staunen unglaublich vorkommen wird Haydn selber nur wenig[?] hält, wie man aus handschriftlichen Äuße rungen von ihm weiß. Mag immerhin der Verstand und mit ihm sein unzertrennlicher und bei vielen Lebensgenüssen beschwerlicher Gefährte, der reine Geschmack, noch so vieles gegen einzelne Stellen einzuwenden haben. Mag er oft die Behandlung des Textes, besonders in den Rezitativen, verdammen und überhaupt gegen das ganze Unternehmen aufstehen, zu schildern, was eigentlich nicht geschildert werden sollte: Demungeachtet hat und behält das Werk unübertreffliche Schönheiten, herrlich und groß gearbeitete Partien und Tongemälde, ächten Kunstfleiß, besonders in den Chören, der sich zugleich oft in einer ganz neuen originellen Begleitung zeigt etc., wodurch es sich zu allen Zeiten auszeichnen wird.
Mit jenem eklen kritischen Sinne muß man sich nicht einlassen, der wie ein Kameralist überall nach dem Warum? und wozu? frägt, und die Spiele der Phantasie wie eine Festung abmessen will. Noch weniger ist dem Kunstpedanten ein Ohr zu leihen, der bis zum eigenen Übelwerden sich die Grenzen der Musik verengt – einer Kunst, die am mehrsten ins Reich der Geister spielt – und der, statt eines englischen Gartens von Tönen lieber regelrechte Kasernen von Tongebäuden mag. Diese haben bei freien genialen Schöpfungen gar keine Stimme. – Unterdessen kann man auch diesen Herren mancherlei antworten.
Erstlich hat der Komponist offenbar weniger Theil an den Spielereien, als der Verfertiger des Textes, der das Zeug dazu hergab, in welches jener den musikalischen Einschlag webte. Die ganze Anlage ist verfehlt; Bauern singen das Erhabenste und das Platteste, erheben sich zu lyrischer Höhe und sinken in tiefe Gemeinheit u.s.w. – Fürs andere, so hat Haydn dank bessern Instinkt sich so vortrefflich aus der Sache gezogen, als man mit der bestimmtesten Überlegung hätte thun können (das wie? gehört in ein musikalisches Blatt). Drittens so hat die Musik hier in den Jahreszeiten gleichsam[366] die letzte Probe von dem abgelegt, was sie im Reiche des Bildlichen durch Benutzung der Ideen-Verknüpfung vermag. Und endlich so muß Niemand so vornehm sein, um nicht im Leben ein wenig den Jahrmarkt mitzunehmen. Der Herbst, mit seiner Jagd und Weinlese, hat hier am mehresten Lustspiel: aber ich will den Griesgram von Kenner sehen, der nicht mit dem jauchzenden Orchester sich freut und den das schöne frische Leben nicht erheitert!
Für alle die aber, welche dem ehrwürdigen Greise mit immer jugendlicher Phantasie mit ihrem Lehrbuch beschwerlich werden wollen, stehe hier ein Selbstgeständniß dieses großen Künstlers, das er kürzlich von sich stellte und das ihm eben so sehr zur Ehre gereicht, als es die gestrengen Herren, die das Urtheilen leichter finden als das Bessermachen36, in die Grenzen der Bescheidenheit zurückgewiesen werden kann etc. ›Diese ganze Stelle – schreibt er – als eine Imitazion eines Frosches ist nicht aus meiner Feder geflossen, es wurde mir aufgedrungen, diesen französischen Q–rk niederzuschreiben. Mit dem ganzen Orchester verschwindet dieser elende Gedanke gar bald, aber als Klavierauszug kann derselbe nicht bestehen. – Mögen die Rezensenten – sagt er anderwärts – nicht so strenge verfahren; ich bin ein alter Mann und kann das alles nicht noch einmal durchsehen.‹ Ruhm und Ehre dem würdigen Haydn!«
Den Standpunkt unserer Zeit in der Beurteilung der »Jahreszeiten« legt am besten Hans Schnoor in Adlers »Handbuch der Musikgeschichte« (S. 857) fest, wenn er sagt:
»Haydns ›Jahreszeiten‹ sind, als das genommen, was sie darstellen – eine unoratorische, kantatenhaft lose Szenenfolge – das in unzähligen genialen Momenten schillernde Abbild des Wesens seines Schöpfers geworden, das man zwar unter dem sprichwörtlichen Begriff des tiefsinnigen Haydnschen Humors von jeher beglaubigt hat, das dann aber doch noch unendlich viele andere Seiten enthält, vor allem immer wieder den hohen sittlichen Ernst des Meisters. So aufgefaßt, und nicht mit falschen oratorischen Maßstäben gemessen, gehören die funkelnden Facetten seiner Genrebildchen, das Jagdscherzo, die Szene des Wanderers oder die schon ganz von romantischem Licht umflossene Schilderung des Sonnenaufgangs oder des Winternebels und unzählige herrliche Züge aus der ländlichen Kleinwelt der ›Jahreszeiten‹ zum Schönsten, womit uns dieser große Diesseitsgeist unter den Musikern beschenkt hat.«
In ihrem architektonischen wie musikalischen Aufbau zeigen die »Jahreszeiten« große Ähnlichkeit mit der »Schöpfung«. Hier wie dort sind die Solostimmen dem Sopran, Tenor und Baß[367] zugeteilt, entbehren also der Altstimme. (In der »Schöpfung« tritt im Schlußchor ganz unvorbereitet zu den drei bisherigen Solostimmen noch ein Alt oder Mezzosopran hinzu, so daß das vollständige Soloquartett beisammen ist.) Auch in den »Jahreszeiten« ist die Instrumentaleinleitung mit einem Programm überschrieben und leitet sofort in das erste Rezitativ über. Die anschließende Kette von Rezitativen, Sologesängen und Chorsätzen ist aber in den »Jahreszeiten« freier, aufgelöster als in dem älteren Schwesterwerk. Es wurde schon erwähnt, daß van Swietens Vorschriften zur Komposition der »Jahreszeiten« viel detaillierter waren als die für die »Schöpfung«, und Haydn hat sich diesen Vorschriften – oft mit Vernachlässigung des für ein Oratorium damals geltenden und als angemessen erscheinenden Stiles unterworfen37. Das zeigt sich in den reicher ausgeführten Rezitativen, in der öfteren Auflösung der Ensemblesätze in Solo- und Chorstellen, in der Verwendung kleinerer Kunstformen (Cavatine, Lied), in dem schon besprochenen vielfachen Vorkommen tonmalerischer Stellen, und in dem Eindringen volksliedhafter und dem Singspiele entnommener Elemente. So läßt Haydn in der Arie des Simon »Schon eilet froh der Ackersmann« das zur verbreitetsten Volksweise gewordene Andante aus der »Paukenschlag-Sinfonie« erklingen (entgegen dem Verlangen van Swietens, der hier eine Melodie aus einer populären Favoritoper wünschte) und fügt im letzten Teil ein Spinnlied (nach Worten eines Gedichtes von Bürger) und das – erst »Märchen«, dann »Romanze« betitelte – Liedchen »Ein Mädchen, das auf Ehre hielt« ein. Das letztere hatte schon Johann Felix Weiße (aus dem Französischen der Mme. Favart übersetzt und im Textbuch zu Johann Adam Hillers Singspiel »Die Liebe auf dem Lande« [aufgeführt 1768] enthalten) verwendet. Der Gegensatz zwischen diesen anmutig-heiteren Miniatüren und den ernsten Stellen des »Winters«, die an das Vergängliche des Menschenschicksals gemahnen, ist um so eindrucksvoller und hat etwas Shakespearesches in seiner Art.
Die zeitgenössischen Urteile über die beiden Werke, die wir als die Höhepunkte von Haydns Schaffen ansehen, waren geteilt:[368] der überwiegende Teil war begeisterten, entzückten Inhalts. Es waren aber manche absprechende darunter. Zu den gegnerischen Kritikern gehörte auch Schiller, der an Körner schrieb: »Am Neujahrsabend [1801] wurde die Schöpfung von Haydn aufgeführt, an der ich aber wenig Freude hatte, weil sie ein charakterloser Mischmasch ist.« Gegen dieses harte Urteil Schillers wendet sich David Friedrich Strauß38 und schreibt einige schöne Sätze über die »Schöpfung«, die hier wiederzugeben wohl am Platze ist: »Wenn man so groß ist wie Schiller, hat man ein Recht, einseitig zu sein; er schreibt dies in demselben Briefe, der auch die schöne Stelle über Glucks Iphigenie enthält. Als Schiller im Winter 1800/01 in Weimar die Iphigenie auf Tauris hatte aufführen hören, schrieb er an Körner: ›Noch nie hat eine Musik mich so rein und schön bewegt als diese; es ist eine Welt der Harmonie, die gerade zur Seele dringt und sie in süßer hoher Wehmuth auflöst.‹ Und die eine Stelle erklärt uns die andere. Er wußte nur den einen von beiden zu schätzen; wir wollen uns beider freuen und des herrlichen Rigoristen Schiller dazu. Was er mit seinem abfälligen Urtheil meinte, sind ohne Zweifel die musicalischen Naturgemälde in dem Haydn'schen Oratorium. Doch dürfen wir wohl vermuthen, daß er die großartigen unter diesen, das Werden des Lichts, den stolzen Gang der Sonne wie den stillen Wandel des Mondes, das Branden des Meeres und schweifenden Lauf des Stromes noch mit Beifall angehört haben mag. Wie aber nachher bald das Taubenpaar girrte, bald die Nachtigall flötete, hier der Löwe brüllte, dort der gelenkige Tiger emporschoß, hier der Hirsch sein gewaltiges Geweih erhob, dort das Gewürm am Boden kroch – diese kleinen Arche-Noah-Bilderchen, woran wir anderen Kinder so große Freude haben, waren für Schillers Ernst zu viel. Sie waren es auch für Beethoven, von dem wir wissen, daß er sich über dieselben gerne lustig machte. Beiden fehlte einfach der Humor dazu. Darum aber das ganze Werk als Mischmasch bezeichnen, würde sich Schiller doch wohl bedacht haben, wenn er es mehr als nur einmal gehört hätte. Die bunte Fülle des Einzelnen darin ist durch die Einheit der Grundstimmung, die auch den Charakter der Musik bedingt,[369] fromme Natur- und Lebensfreude, die sich einerseits abwärts der Mannigfaltigkeit der Geschöpfe andrerseits aufwärts dem Schöpfer zuwendet; wie denn auch äußerlich die in Recitativ und Arie sich ausbreitenden Einzelbilder in den Rahmen der Chöre, die jene allgemeine Stimmung aussprechen, gefaßt sind.
Wenn wir Haydn's Schöpfung mit den Händel'schen Oratorien vergleichen, so ist der Unterschied sowohl des Stoffs als der Behandlung nicht bloß für die Eigenthümlichkeit der beiden Meister, sondern auch dafür bezeichnend, wie sehr inzwischen die Zeiten sich geändert hatten. Dort (neben verschiedenen hauptsächlich alterthümlichen Geschichtsstoffen) der Messias, d.h. die Erlösung, hier die Schöpfung; dort die sogenannte zweite Person der Gottheit, hier die erste. Noch Graun hat den Tod Jesu zum Stoff eines Oratoriums gewählt; Haydn selbst, auf Bestellung eines spanischen Canonicus die sieben Worte am Kreuze componiert; seine Schöpfung bestellte der Genius der Zeit und sein eigener bei ihm. Kreuz und Opfertod mit ihren Qualen und Ängsten sind vergessen: mit geklärtem Auge wendet sich der Mensch der Welt und Natur zu, aus der er zuletzt sich selbst, das erste Menschenpaar, frisch und unverdorben, zur Humanität, nicht zur Buße bestimmt, hervortreten sieht. Und wenn, gleich sehr in Gemäßheit seines Talents wie seines Gegenstandes, Haydn den großen Vorgänger an Tiefe und Erhabenheit nicht erreicht, so bezaubert er uns umso mehr durch Fülle und Anmuth, deren es auch an Kraft und Schwung keineswegs gebricht.«
Eine für den Komponisten sehr günstige, für den Textverfasser weniger schmeichelhafte Besprechung der »Jahreszeiten« brachte Bertuchs »Journal des Luxus und der Moden« vom August 1803:
»Wien, den 10. Junius 1801. Von Haydns Jahreszeiten wurden in dem Palaste des Fürsten von Schwarzenberg 2 Proben gehalten, wobei jedem honetten Manne der Zutritt gestattet war, worauf dann eine Privatproduction ebendaselbst folgte. Bald nachher wurden sie auf Verlangen des Kayserlichen Hofes bey einer Kammermusik und endlich nach vorhergegangener Generalprobe öffentlich im Redoutensaal gegeben, um den Eintrittspreis von zwey Gulden. Der Beifall, welchen sie erhielten, war, wie vorher zu sehen, sehr groß und ungetheilt. So groß und ungetheilt dieser Beifall nun aber war, würde er sich nicht noch viel höher geschwungen haben, wenn der Stoff, welchen Haydns Kunst behandelt, musicalisch gewählter gewesen wäre? Es ist wohl kaum zu zweifeln, daß dieses Sujet für die Behandlung des Mahlers am tauglichsten ist, dann erst für den Dichter und am letzten für den Tonsetzer. Daß die gegenwärtige Musik aber des sen ungeachtet vortrefflich ist,[370] widerlegt meine Behauptung nicht, indem Poesie und Musik gewissermaßen auch hier jedes ein für sich bestehendes Ganzes ausmachen; und eine allgemeine Instruction für die Zuhörer: Die aufzuführende Musik würde die vier Jahreszeiten darstellen, müßte, ohne übrigen Text, gewiß eben die Wirkung hervorgebracht haben, welche sie nun, mit den Worten bringt, hervorbringt. Die Tonkunst soll überhaupt nur Leidenschaften, Empfindungen und hörbare Gegenstände darstellen wollen. Man wird mir dagegen einwenden, ihr Wirkungskreis würde durch diese Anweisung zu sehr beschränkt. – Keineswegs! Ich behaupte sogar das anscheinende Paradoxon, daß ich ihren Wirkungskreis durch diese Verengerung erweitere, denn wer die Auswüchse eines Baumes beschneidet, stärkt den Baum selbst. Beschäftigt sich die Musik mit Darstellung der Leidenschaften und Empfindungen, so hat sie in vielen Fällen hierin mehr Macht des Ausdrucks als der Dichter selbst. Freuden und Leiden, welche dieser oft unaussprechlich nennt, kann der Tonsetzer ganz mit allen ihren Entzücken und Dahinsterben ausdrücken. Was nun die Gegenstände des Gesichtes belangt, (welche die Musik so oft darzustellen unternimmt, und es doch nie thun sollte) so muß ich gestehen, daß ich, des Widerstrebenden dieser sichtbaren Gegenstände ungeachtet, doch schon Ouverturen, Sinfonien und selbst Gesänge gehört habe, welche, oft ausschließend, oft vermischt, dergleichen Gegenstände schilderten und mich dennoch entzückten, ja selbst Haydn beschäftigt sich größtentheils mit solchen musikalischen Gemälden; woher dieser Widerspruch? – Eine kleine Distinction wird ihn vollkommen heben. Auch Gegenstände des Gesichtes darf der Tonkünstler schildern; aber wie? Er soll sie schildern, aber nicht wie sie an sich sind, absolute Erscheinungen der physischen Natur, sondern nur im Eindrucke, den sie auf uns machen. Er muß sie in der Empfindung, welche sie in unserm Gemüthe hervorbringen, wie in einem Spiegel verschönt darstellen. Und nur in diesem Falle kann er sich mit einem Dichter vereinigen; sonst mag er lieber chaotische Sinfonien schreiben. – Haydn ist wegen des übel gewählten Stoffes zu entschuldigen, indem die Wahl nicht von ihm abgehangen hatte, denn wie wenig musikalisch der Stoff an sich sei, ist einleuchtend. Er bietet weder Leidenschaften noch Empfindungen, ja selbst zu wenig Gegenstände des Gehörs; die herrschenden Gegenstände des Gesichtes hierinn sind aber vom Dichter nicht in ihren in dem Menschen erregenden Empfindungen, sondern bloß nach ihrer physischen Erscheinung in der Natur ausgedrückt. Übrigens sind auch die gewählten Silbenmaße weder rein noch musikalisch. Ganz irrig ist auch des Dichters Vorschrift bei manchen Ouverturen; so verlangt er, zum Beispiel, vor dem Winter im Eingange von der Musik Nebel und Dämpfe ausgedrückt. Unbestimmt traurig, schwerfällig und schauerlich mag sie wohl sein; aber nicht um Nebel und Dämpfe auszudrücken. Doch dieses nicht allein; der Verfasser des Textes hat andere Vergehen zu verantworten: Die im Herbst angebrachte Jagd ist zu gemein und geht zu sehr ins Detail, so wie die Weinlese zu gedehnt, und der allegorisch geschilderte Fleiß für die musikalische Darstellung zu abstract ist. Der Schlußchor (und wenige einzelne Stellen hier und da ausgenommen z.B. ein Spinnlied im Winter) ist das einzige, was Empfindung darbietet. So unmusikalisch das Sujet aber nun ist, so wäre doch noch zum Theile ein Weg übrig gewesen, es für Musik tauglicher zu machen. Der Dichter hätte sich vorzüglich an Thomsons vortreffliche Episoden (denn das Ganze ist nach Thomson gearbeitet) halten sollen und sie gewissermaßen zur Grundlage machen müssen, wodurch dann gewiß wechselnder Reichthum von Empfindungen hineingekommen[371] wäre. Allein der Verfasser läßt uns nicht einmal ahnen, daß Thomson in sein Gedicht Episoden eingewebt habe, sondern stellt das Ganze vielmehr rein physisch dar. Wahrscheinlich rührt es auch daher, daß die Musik bei aller ihrer charakteristischen Vortrefflichkeit jener der Schöpfung doch nicht gänzlich gleich kommt. Das Orchester war sehr stark und vortrefflich besetzt, und die drei Stimmen wurden von Herrn und Dlle Saal und von Herrn Rattmeyer meisterhaft gesungen.«
Ganz absprechend war dagegen eine Kritik im Musikalischen Taschenbuch auf das Jahr 1805 von F. Th. Mann:
»Am 12. Dez. [1802] in Leipzig wurde das jährliche Benefizconzert f. arme und kranke Mitglieder des Orchesters gegeben. In diesem wurden die Jahreszeiten von Haydn aufgeführt. Daß dieses Stück, seinem Texte gemäß nur eine gemeine und dem großen Künstler unwürdige Nachahmung der Natur in Einzelheiten sey, und eben darum kein Ganzes bilde, im Gegentheil sehr ermüdend werden und keineswegs den reinen und Einen Kunsteffect hervorbringen müsse, ist das Urtheil des gebildeten Kunstrichters über dieses Werk. Die Sänger sangen auch so kunstlos als möglich und bestrebten sich besonders in den Chören ihren gemeinen Jubel herauszuheben. Die schönern und edleren Chöre stehen isoliert in dem Werke und gehören nicht zu jener Darstellung der Jahreszeiten.«
Nur diese wenigen Beispiele, wie sich die Zeitgenossen den zwei Meisterwerken Haydns gegenüber verhielten. Wir wissen heutzutage, welchen Schatz wir an diesen beiden Lieblingsgeschöpfen der Haydnschen Muse besitzen, und wie wir froh genießend ohne kritische Bedenklichkeiten uns an ihnen erquicken können.[372]
Schlußbetrachtung.
Zum Schlusse dieser Betrachtung soll noch – in einem Satze – ausgesprochen werden, welche musikgeschichtliche Stellung Haydn zuzuweisen ist, was um so leichter fällt, als bei wenigen Meistern ihre historische Sendung und deren Erfüllung so klar vor Augen steht wie bei Haydn:
Er ist der Begründer der Wiener klassischen Schule, jener Kunstepoche, die wir als bisher noch nicht erreichten, geschweige denn überbotenen Höhepunkt des Musikschaffens und der Musikübung der Neuzeit ansehen und die durch das Dreigestirn Haydn, Mozart, Beethoven repräsentiert wird. Sind auch die Wurzeln dieser Epoche – stilistisch wie technisch – weitverzweigte, auf alte Entwicklungsperioden und Künstler zurückreichende, so ist doch erst in unserem Meister die Vereinigung aller jener Stilelemente erfolgt, die ihn mit Recht zum Vater der Instrumentalmusik unserer Zeit und daneben auch zum Begründer oder Befestiger mancher Vokalform machen. In seiner Kunst treffen sich Nord und Süd, vereinigt sich das Volkstümliche mit dem Artistisch-Kultivierten, kombinieren sich der melodisch-harmonische und der kontrapunktisch-motivische Stil. Daß sich in ihm die heterogensten Elemente zu einem einheitlichen Ganzen kristallisierten, darin liegt Haydns unvergängliche historische Bedeutung. Aber nicht bloß darin, in dem Formenschöpferischen, liegt sein Ewigkeitswert; auch das Inhaltliche seiner Werke sichert ihm Unsterblichkeit. Goethe schreibt irgendwo über Haydn: »Es hat mir seit 50 Jahren das eigene Ausüben und Anhören seiner Werke eine wiederholte Total-Empfindung mitgetheilet, indem ich dabey die unwillkührliche Neigung empfand, etwas zu tun, das mir als gut und gottgefällig erscheinen möchte. Das Gefühl war unabhängig von Reflexion und ohne Leidenschaft. Man wirst ihm vor, seine Musik ermangle der Leidenschaft – das Leidenschaftliche in der Musik, wie in allen Künsten, ist leichter als man denkt, schon deßwegen weil es leichter empfunden wird;[373] es ist nicht ursprünglich, die Gelegenheit bringt es hervor, und nach dem Begriffe der Alten verdeckt es die reine Natur und entstellt das Schöne.« Goethe hat nicht unrecht, wenn er sagt, daß Haydns Musik die Leidenschaftlichkeit, oder sagen wir lieber das Pathos, fehlt. Dafür ist aber ein anderes Lebenselement ihr Grundzug; Die Freude: nicht Schalkhaftigkeit, nicht Humor, wie immer gesagt wird, sondern Freude. Die eigene Freude am Schaffen, am Geben, die Freude der anderen im Genießen. Und wer so in Freude gelebt und geschaffen, so stets Freude um sich verbreitet hat, darf den wahrhaft Begnadeten der Menschheit zugezählt werden.
1 Die Gesamtausgabe, in welcher bald alle Sinfonien Haydns erschienen sein werden, enthebt mich aller bibliographischen und textkritischen Ausführungen über diese Werke.
2 Der bekannte Mechaniker Mälzel hatte eine Art Spieluhr verfertigt, welche das Andante der Militärsinfonie spielte, ein Beweis für die Volkstümlichkeit dieses Stücks. Vgl. Berl. Mus. Ztg. 1805, Nr. 40.
3 Da dieses Trio mit zwei anderen der Mrs. Schroeter gewidmet war, ist anzunehmen, daß das Adagio ein besonderes Lieblingsstück seiner Herzensfreundin war.
4 Um der großen Nachfrage nach Haydnschen Streichquartetten zu genügen, veranstaltete Pleyel in Paris eine Ausgabe von 36 Streichquartetten »après les Sonates«, wobei er Trios, Violinsonaten, Klaviersonaten für Streichquartett setzte, einzelne Sätze vertauschte, auch sonst ziemlich willkürlich mit den Stücken umging.
5 Allg. Wiener Mus. Ztg. 1842, Nr. 126, S. 510, und 1843, Nr. 29, S. 521, ferner die Broschüre Jos. Haydn und Nicolo Zingarelli, Wien 1847.
6 Fr. Kuhač, »Josip Haydni Hrvatske Narodu popievke«, Agram 1880; vgl. auch W.H. Hadow, »A. Croatian Composer«, London 1897.
7 Daß es sich beim »Gott erhalte« um eine Originalkomposition Haydns handelt, die er erst nach mannigfachen Überlegungen und Entwürfen fixierte, beweisen die Skizzen und Entwürfe im Wiener Musikvereinsarchiv, ferner in der Berliner und Wiener Staatsbibliothek, in welch letzterer sogar eine vollständig ausgearbeitete, etwas verschiedene Fassung des Liedes vorhanden ist.
8 Musikalisches Wochenblatt 1909, S. 123 f.
9 Er ist natürlich als langer Vorschlag gedacht.
10 Original und Erstdruck in der Wiener Nationalbibliothek.
11 Auswahl von Maurer-Gesängen, gesammelt und herausgegeben von F.M. Böheim, Berlin 1798.
12 Text unterlegt von Röding, erschienen bei Günther & Böhme, Hamburg.
13 Vgl. hierüber die sehr interessanten Artikel im Wiener Neuen Fremdenblatt vom 12., 15. und 18. April, ferner vom 21. und 22. Mai 1868.
14 Die Worte von »Pastorale« (My mother bids me bind my hair) waren ursprünglich von Mrs. Hunter zu dem Andante einer Sonate von Pleyel gesetzt worden; Haydn änderte die Reihenfolge der Strophen und machte die ursprünglich erste »Tis sad to think« zur zweiten.
15 Rosenbaum erzählt allerdings am 16. Oktober 1799, Haydn habe in Eisenstadt 7 neue deutsche Lieder vorgesungen, die sehr schön waren, aber es kann sich hierbei um ältere gehandelt haben.
16 Im Jahre 1808 wandte sich die Philharmonische Gesellschaft in Laibach an Haydn wegen Kanons. Dr. Anton Schmid schreibt: »Den Vater Haydn hab' ich wegen seiner sehr entfernten Wohnung lange schon nicht gesehen; er ist schwächlich und schreibt fast gar nichts mehr, ich werde ihn aber doch nächstens besuchen und wegen der Canons einen Versuch machen.« Ob diese Aktion schon existierende Kanons betrifft, oder ob man sich neue erbitten wollte, ist nicht zu erkennen (vgl. Keesbacher, Die Philharmonische Gesellsch. in Laibach).
17 There are two other publications of Scottish Airs to which Haydn lent his assistence, one of them a Collection in imitation of this work, but limited to a small number of the Airs; the other, a larger Collection, but without any introductory and concluding Symphonies to each Air. These Symphonies form a most interesting feature of this work and are distinguished by all those exquisite combinations and inimitable touches that render the compositions of Haydn more and more enchanting the oftener they are heard.
18 Vgl. oben S. 226 ff.
19 Zu diesen beiden Stücken, autograph in der Berliner Staatsbibliothek, ist eine französische Gesangsszene aus einem unbekannten Werk, fraglich ob von Haydn, hinzugeschrieben.
20 »Führer durch den Konzertsaal« II, S. 195.
21 8. September ist Mariä Geburt, der darauffolgende Sonntag Mariä Namensfeier; an einem dieser beiden Festtage kam stets die neue Messe Haydns zur Aufführung.
22 »Zur C-dur-Messe von Beethoven« Grenzbote Wien 1868, II, S. 246.
23 Vgl. Alfred Orel, »Die Katholische Kirchenmusik seit 1750« in Adlers »Handbuch der Musikgeschichte«.
24 Zur Geschichte der späteren Messen Haydns, Zeitschr. d.J. M.G. XV, 12, S. 330.
25 Die Taktbezeichnung im Sanctus im Autograph ist und nicht , wie in der gedruckten Partitur steht.
26 Gesch. d. Oratoriums, S. 383.
27 van Swieten äußerte sich über seinen Anteil am Text der »Schöpfung« in der Allg. Mus. Zeitung Bd. I, S. 252 ff.
28 Haydn verlangte selbst von den Textverfassern, die ihm nach den »Jahreszeiten« noch einen Oratoriumtext liefern wollten, daß sie ihm Fingerzeige betreffs der musikalischen Komposition geben sollten. Vgl. oben S. 199.
29 Ich möchte bei dieser Gelegenheit auf eine Stelle aufmerksam machen, die, trotzdem sie sich wiederholt, meiner Meinung nach nur auf einen Druckfehler zurückzuführen sein kann, und die in ihrer in allen Ausgaben enthaltenen Gestalt gewiß nicht im Sinne Haydns sein kann. In Nr. 13, Chor mit Soli (»Die Himmel erzählen«) im zweiten Abschnitt ›Più allegro‹ wo der Chor abermals einsetzt, im Takt 54 und 55 (»und seiner Hände Werk«) muß es im Sopran unbedingt heißen
welche melodische Führung eine Abschwächung, nicht Steigerung bedeuten würde.
Auf die Fortführung nach oben deutet nicht bloß der Ductus der Melodie, sondern auch die Orchesterbegleitung; dasselbe gilt, wenn die Stelle zum zweiten Male wiederkehrt (Takt 75 u. 76).
30 Diese Aufführung war aber nicht identisch mit einer anderen des Jahres 1802, über die in der Allgem. Musik. Zeitung ein Bericht aus Dresden vom 16. April vorliegt, worin mitgeteilt wird, daß am 5. April d.J. in Ermanglung geeigneter deutscher Sänger die »Jahreszeiten« von einem gewissen Sig. Cinti, churfürstlichen Kammersänger und Organisten, ins Italienische übersetzt, von italienischen Sängern imHotel de Pologne aufgeführt wurden. Ein Kastrat (!!) Sig. Sassarolli sang die Sopranpartie, ein Sig. Penelli die Tenorpartie, und ein Sig. Perotti den Simon. Man denke, die Hanne in den Jahreszeiten von einem Kastraten gesungen!
31 Daß solche szenische Aufführungen von Oratorien nicht selten waren, wird durch eine Stelle aus Dittersdorfs Selbstbiographie belegt, wo er (S. 146) über sein szenisch aufgeführtes Oratorium Isacco sagt: »Die Acteurs spielten alle vortrefflich und trugen sehr gut vor. Die Dekoration stellte, nach Vorschrift des Dichters, einen Hain mit dem Wohnhaus des Abraham vor. Selbst das Kostüm war nach antiken Zeichnungen vortrefflich betrachtet.«
32 Angekündigt im Verzeichnis mus. Bücher etc. von J.G.J. Breitkopf 1760.
33 Siehe Schering, »Geschichte des Oratoriums«, S. 389.
34 »Joseph Haydn«, Biogr., S. 124.
35 Händel hat in »Israel in Ägypten« gleichfalls die Frösche zum Gegenstand einer musikalischen Schilderung gemacht. Während Händel das »Hüpfen« nachzuahmen versucht, bemüht sich Haydn (unter fördernder Mitwirkung des Fagotts), die quarrende Monotonie eines Frosch-Konzertes zum Ausdruck zu bringen. Vgl. auch W. Tappert, »Musikalische Studien«, Berlin 1868, S. 246.
36 Daß der Künstler [gemeint ist Kunzen], der neulich (Num. 150) über die Schöpfung ein strenges Urtheil fällte, und der selbst geniale Werke hervorbringt, von dieser Gesellschaft ausgeschlossen bleiben müsse, versteht sich von selbst.
37 Vgl. den schon erwähnten Artikel von Max Friedländer: van Swieten und das Textbuch zu Haydns »Jahreszeiten«, im Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 1909.
38 D. Fr. Strauß, »Der alte und der neue Glaube.« 3. Aufl. Leipzig 1872, S. 349.
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