Elfter Abschnitt.
Fortsetzung der dritten Kunstperiode Gluck's. Gluck in Paris (1775). Die Oper »Iphigénie en Aulide.«

Herr Bailly Du Rollet, von Gluck's Tonschöpfung entzückt, schrieb sogleich an Herrn D' Auvergne, Einen der Direktoren der grossen Oper in Paris, einen Brief, worin er ihm den Vorschlag machte, den berühmten Tonsetzer aufzufordern, dass er seine neue Oper der königlichen Akademie der Musik zur Aufführung überlasse. Dieses für Gluck's Ruhm höchst wichtige Schreiben ist folgendes:1

»Schreiben an Hrn. D.** Einen der Direktoren der Oper zu Paris.


Wien in Oesterreich, den 1. August 1772.‹

›Mein Herr!‹

Die Hochachtung, welche Ihren ausgezeichneten Talenten und Ihrem anerkannten vortrefflichen Charakter gebührt, hat mich bestimmt, Ihnen mitzutheilen, dass der, in ganz Europa rühmlichst bekannte Ritter von Gluck eine französische Oper gesetzt hat, deren Darstellung auf dem Pariser Opern theater er sehnlichst wünscht.

Nachdem dieser grosse Mann mehr als vierzig italische Opern, die auf allen Bühnen, wo diese Sprache Geltung findet, mit dem grössten Beifall gekrönt worden sind, zu Tage gefördert hat, ist er durch ein reifliches Studium der besten Werke der Alten und Neuen, und durch ein tiefes Nachdenken über seine Kunst zur Ueberzeugung gelangt, dass die Italiener in ihren[172] theatralischen Schöpfungen sich von dem wahren Wege der Kunst weit entfernt haben, und dass nur die französische Gattung die wahre dramatisch-musikalische sei, und – sollte diese bis jetzt noch nicht die höchste Stufe der Vollkommenheit erreicht haben, – es weniger den Talenten der wahrhaft achtbaren französischen Musiker zugeschrieben werden müsse, als den Verfassern ihrer Gedichte, die, mit den wahren Beziehungen der Tonkunst unbekannt, in ihren Erzeugnissen den Geist dem Gefühle, die Galanterie den Leidenschaften, die Anmuth und den Farbenschmelz der Erhabenheit des Styles und der Handlung vorgezogen haben. Als nun Gluck nach diesen Betrachtungen seine Gedanken einem Manne von Geist, Talent und Geschmack mitgetheilt hatte, war er so glücklich, von demselben zwei italische Dichtungen zu empfangen, die er auch in Musik setzte. Sie wurden auf den Theatern in Wien, Parma, Mailand, Neapel, u.s.w. von ihm zur Aufführung gebracht, ernteten überall einen fast unglaublichen Beifall und bewirkten in dieser Gattung, selbst in Italien, eine förmliche Umwälzung. Eine dieser, während des letzten Winters in Gluck's Anwesenheit zu Bologna gegebenen Opern2 lockte mehr als zwanzig tausend neugieriger Fremden dahin, und trug der Theater-Direktion gegen 80,000 Dukaten ein.

Durch eigene Erfahrung belehrt, glaubte Gluck zu bemerken, dass die italische Sprache wegen der häufigen Wiederholung ihrer Vokale zwar mehr als jede andere geeignet sei, sogenannte Passagen auszudrücken, aber bei weitem nicht die Klarheit und die Kraft des französischen Idioms in sich fasse, ja, dass der Vortheil, den wir der ersteren eingeräumt haben, auf die wahre Gattung der dramatischen Musik sogar zerstörend wirke, weil in ihr jede Passage höchst zweckwidrig sei, oder wenigstens den Ausdruck schwäche.

Nach diesen Bemerkungen musste Gluck die gewagten Behauptungen Einiger der berühmtesten Schriftsteller, welche die französische Sprache zu grossen musikalischen Schöpfungen[173] für untauglich erklärten, als unwahr und unwürdig zurückweisen. Und wer kann über diesen Gegenstand wohl ein richtigeres Urtheil fällen, als eben Gluck, der, im Besitze beider Sprachen, die französische – obschon ungewandt im Sprechen – dennoch gründlich versteht, weil er durch das emsigste Studium alle ihre Feinheiten und selbst ihre Prosodie kennen gelernt und, besonders über die letztere, die tiefsten Beobachtungen angestellt hat. Auch hat er seit langer Zeit seine Talente in beiden Sprachen und in verschiedenen Gattungen der Schreibart versucht, und, bei einer gelegenheitlich vorgenommenen, gemeinschaftlichen Zusammenstellung, wo beide gleich anwendbar waren, seine Erwartung bestätiget gefunden. Es waren dieses Versuche, welche seinen Genius zu einem weit richtigeren Urtheil leiteten, als das Ohr und der Geschmack, obwohl im Gebiete der Kunst diese Organe einer steten Uebung unterworfen sind. Dennoch wünschte er seine Meinung über die musikalischen Vortheile der französischen Sprache durch die That zu rechtfertigen; und dieses geschah recht bald, indem der Zufall ihm die französische Oper ›Iphigénie en Aulide,‹ worin er Alles, was er suchte, zu finden glaubte, in die Hände spielte.

Der Verfasser, oder eigentlich Herausgeber dieser Dichtung ist dem Dichter Racine mit ziemlicher Genauigkeit gefolgt: denn er wollte dessen Tragödie als Oper bearbeiten; um aber diesen Zweck zu erreichen, sah er sich in die Lage versetzt, die Handlung zusammenzuziehen und die Episode des Euriphile zu streichen. Im ersten Akte setzte er an des Vertrauten Stelle den Calchas; dadurch gewann die Vorstellung eine desto grössere Lebhaftigkeit und Einheit, und die Katastrophe wurde beschleunigt. Das Interesse litt durch diese Aenderung keineswegs, ja das Stück behielt denselben Zusammenhang, wie wir ihn in Racine's Trauerspiele kennen. Da nach Hinweglassung der gedachten Episode die Auflösung der Racine'schen Dichtung in der Oper nicht beibehalten werden konnte, so wurde die Handlung am Schlusse, der besseren Wirkung wegen, geändert, wozu sowohl die griechischen Tragiker, als Racine selbst in dem Vorworte zu seiner Tragödie, den Anstoss gegeben hatten.[174]

Die Oper zerfällt in drei Akte, eine Eintheilung, die mir als die günstigste für eine Gattung schien, deren Handlung einen raschen Gang erfordert. Man hat, ohne dem Stücke Gewalt zu thun, in jedem Akt ein, dem Inhalte angemessenes, glänzendes Divertissement in der Weise angebracht, dass die Handlung dadurch nur gehoben und vervollkommnet wurde; man hat auch dafür gesorgt, die Lage der Handlung und die Charaktere so einander entgegen zu setzen, dass sie eine pikante und nothwendige Abwechselung gewähren, welche die Aufmerksamkeit der Zuschauer ununterbrochen fesselt, und das Interesse der Handlung durch die ganze Zeit des Stückes lebendig erhält. Ohne seine Zuflucht zu Maschinen zu nehmen und grosse Kosten zu verursachen, hat man Mittel gefunden, dem Auge ein edles und prachtvolles Schauspiel zu bereiten. Ich glaube kaum, dass eine neue Oper jemals in die Scene gesetzt worden ist, die so wenig Geldmittel in Anspruch nimmt und doch ein überaus glänzendes Schauspiel gewährt.

Der Verfasser des Stückes, dessen Vorstellung, mit Einschluss der Divertissements, nicht über zwei und eine halbe Stunde dauern dürfte, hat es sich zur Pflicht gemacht, Racine's Gedanken, ja selbst dessen Verse beizubehalten, in so weit es die Oper, die sich vom Trauerspiele wesentlich unterscheidet, zulassen möchte. Die Verse schmiegen sich dem Inhalte so innig an, dass man zwischen der Schreibart Beider kaum einen Unterschied bemerkt. – Die Wahl der ›Iphigénie en Aulide‹ erscheint mir demnach so glücklich, dass ihr Bearbeiter auf eine gute Wirkung seines Unternehmens sicher rechnen kann, und dass er für den Verlust aller Eigenthümlichkeit durch die Gewissheit eines glänzenden Erfolges hinlänglich entschädigt werden wird.

Schon Gluck's Name würde mich entschuldigen, viel von der Musik dieser Oper zu sprechen, wenn das Vergnügen, das ich bei mehreren Wiederholungen empfand, mir zu schweigen erlaubte: denn dieser grosse Mann scheint in seiner Schöpfung alle Quellen der Kunst erschlossen zu haben. Ein einfacher, natürlicher Gesang, begleitet von einem wahren, ergreifenden[175] Ausdruck und einer bezaubernden Melodie; eine unerschöpfliche Abwechslung der Gedanken und Wendungen; die höchsten Wirkungen der Harmonie auf das Schreckliche, Erhabene und Sanfte gleichmässig angewendet; ein zwar feuriges, aber zugleich edles und ausdrucksvolles Recitativ, gepaart mit der vollkommensten französischen Deklamation; die grösste Abwechselung in den für den Tanz bestimmten Arien von einer ganz neuen Gattung, voll der angenehmsten Färbung; endlich die Chöre, Duetten, Terzetten, Quartetten, alle gleich rührend und ansprechend bei der gewissenhaftesten Beobachtung der Prosodie: kurz, Alles scheint in dieser Composition dem Geschmacke der Franzosen so ganz angemessen, und nichts darin enthalten zu seyn, was dem Ohre derselben sich als fremdartig aufdringen könnte! – Und dieses Alles ist das Werk des schöpferischen Talents eines Gluck; in ihm sehen wir überall den Dichter und Musiker zugleich; überall erblicken wir den Mann von Genie und Geschmack; nichts ist gewöhnlich, nichts vernachlässigt. –

Sie wissen, mein Herr, dass ich kein Enthusiast bin und dass ich bei allen Fehden über die neue Gattung der Musik eine entschiedene Unpartheilichkeit beobachtet habe; ich schmeichle mir daher, Sie werden das Lob, das ich hier der Musik der ›Iphigénie‹ zu spenden mich bemüht habe, nicht misstrauisch deuten. Ich fühle mich eben so sehr Ihrer Beipflichtung versichert, als ich gewiss bin, dass Niemand die Fortschritte der Kunst sehnlicher wünscht, als eben Sie. Haben Sie diess nicht durch Ihre eigenen Worte und durch den Beifall bewiesen, den Sie Männern gezollt haben, die sich in derselben Kunst auszeichneten? – Als Mann von Talent und als wackerer Staatsbürger werden Sie gewiss das Verdienst nicht verkennen, dass ein so berühmter Fremdling, wie der Ritter von Gluck, es der Mühe werth erachtet, sich mit unserer Sprache zu beschäftigen, und sie gegen die verläumderischen Beschuldigungen unserer eigenen Schriftsteller in Schutz zu nehmen. –

Gluck wünscht nur zu wissen, ob die Akademie der Musik so viel Vertrauen in sein Talent setzen könne, um sich[176] zur Aufführung seiner Oper zu bestimmen. Er ist bereit, die Reise nach Frankreich zu unternehmen; aber er muss die apodiktische Gewissheit haben, dass, und zu welcher Zeit seine Oper zur Darstellung gelangen werde. Wenn Sie für den Winter, die Fasten- oder Osterzeit noch nicht Alles besetzt haben, so könnten Sie nichts Besseres thun, als ihm Eine dieser Zeiten anzuweisen. Gluck hat für den Monat Mai eine dringende Einladung nach Neapel erhalten; er will jedoch allen, aus irgend einer Verbindlichkeit entspringenden Vortheilen entsagen, wenn ihm die Zusicherung ertheilt wird, dass die Pariser Akademie, der ich dieses Schreiben zu unterbreiten bitte, seine Oper anzunehmen geneigt ist. Von der gefälligen Mittheilung Ihres baldigen Entschlusses wird auch Gluck's Entschluss abhängen; ich aber werde mich geschmeichelt fühlen, wenn ich die Vortheile, welche für unsere Nation und deren Sprache, die auch Sie, mein Herr! durch Ihre Kunstbestrebungen verschönern helfen, daraus erwachsen würden, mit Ihnen theilen kann.

Ich verharre mit wahrer Hochachtung

Ihr« etc.


Anstatt jedoch dem Hrn. Bailly Du Rollet oder dem Ritter von Gluck auf dieses, vom 1. August 1772 aus Wien datirte Schreiben zu antworten, liess Herr D'Auvergne dasselbe in das Oktoberheft des »Mercure de France« einrücken. Da bei der Opern-Verwaltung der Seine-Stadt über den Plan einer musikalischen Reform zu viel gestritten wurde: so zog sich Gluck's Sache in die Länge, und diess war auch der Grund, warum noch keiner der Direktoren bis jetzt sich an ihn gewendet hatte, um die Partitur der neuen Oper für die Akademie der Musik zu gewinnen. Gluck brachte nach langem Harren sich endlich bei denselben dadurch in Erinnerung, dass er im Februar des folgenden Jahres 1773 dem Redacteur des genannten »Mercure« auch ein Schreiben übersandte, worin er das, ihm vom[177] Hrn. Bailly Du Rollet gespendete hohe Lob mit Herrn von Calzabigi einerseits, und mit jenem, der ihm Racine's »Iphigénie« als Oper eingerichtet hatte, anderseits bescheiden und redlich theilte.

Dieser, in derselben Monatschrift abgedruckte Brief ist folgender:3

»Mein Herr! Ich würde mit Recht Vorwürfe verdienen, und mir die bittersten selbst machen, wenn ich nach Lesung des Briefes an Einen der Direktoren der Akademie der Musik, den Sie uns im Oktoberhefte Ihres Journals mitgetheilt haben, und der von meiner Oper ›Iphigénie‹ handelt, mich nicht beeilte, dem Verfasser dieses Briefes für die mir so gütig zugetheilten Lobeserhebungen zu danken. Zugleich muss ich erklären, dass seine Freundschaft, und eine, ohne Zweifel zu günstige Meinung von mir ihn zu weit geführt hat, und dass ich selbst weit davon entfernt bin, zu glauben, ich habe dieses schmeichelhafte Lob wirklich verdient. Noch weit grösserem Tadel würde ich mich aussetzen, wenn ich die Erfindung der neuen Gattung der italischen Oper, deren Absicht der Erfolg schon längst gerechtfertiget hat, mir allein zuschreiben liesse. Herr von Calzabigi ist es, dem dieses vorzügliche Verdienst gebührt, und wenn meine Musik einigen Beifall erhalten hat, so glaube ich dankbar bekennen zu müssen, dass ich dieses Glück ihm verdanke: denn er ist es, der mich in den Stand setzte, die Quellen meiner Kunst strömen lassen zu können Dieser geistreiche Schriftsteller hat in seinen Dichtungen ›Orfeo, Alceste und Paride‹ einen den Italienern nur wenig bekannten Weg eingeschlagen. Diese Werke sind voll der glücklichsten Situationen, der furchtbarsten und erhabensten Züge, die dem Tonsetzer Gelegenheit in Fülle bieten, grosse Leidenschaften auszudrücken, und eine kraftvolle, ergreifende Musik in's Leben zu rufen. Denn wie gross auch das Talent des Komponisten seyn möge, er wird[178] immer nur eine mittelmässige Musik schaffen, wenn der Dichter in ihm nicht jene Begeisterung zu wecken vermag, ohne die alle Gebilde der Kunst nur matt und leblos erscheinen. Nachahmung der Natur ist das Ziel, das Beide vor Augen haben müssen, und nach welchem auch ich strebe. Einfach und natürlich strebt meine Musik, so viel es in meiner Macht steht, immer nur nach der höchsten Kraft des Ausdrucks und nach Verstärkung der Deklamation in der Poesie. Darum vermeide ich alle Triller, Passagen und Cadenzen, womit die Italiener so freigebig sind. Ihre Sprache, die sich dazu besonders eignet und noch verschiedene andere Vortheile besitzt, kann mich in dieser Hinsicht nicht beirren: denn in Deutschland geboren, und mit der französischen und italischen Sprache durch eifriges Studium ziemlich vertraut, glaube ich mir doch kein Urtheil über die feinen Schattirungen, die einer Sprache vor der andern den Vorzug gestatten, erlauben zu dürfen; ja ich bin der Meinung, dass jeder Fremde sich enthalten müsse, hier einen Ausspruch zu thun. Es sei mir aber erlaubt zu sagen, dass jene Sprache mir immer am besten zusagen wird in welcher der Dichter mir die meisten Mittel an die Hand gibt, die verschiedenen Leidenschaften auszudrücken; und diesen Vortheil glaube ich in der Oper ›Iphigénie‹ gefunden zu haben, deren Poesie mir ganz dazu geeignet schien, mich zu einer guten Musik zu begeistern.

Obgleich ich meine Werke niemals einem Theater angeboten habe; so kann es mir doch nicht unangenehm seyn, dass der Schreiber des Briefes, der an Einen der Direktoren der grossen Oper gerichtet ist, meine ›Iphigénie‹ vorgeschlagen hat. Ich gestehe es aufrichtig: ich würde diese Oper mit Vergnügen in Paris gearbeitet haben, weil ich, von ihrer Wirkung geleitet, und von der Hülfe und den Rathschlägen des berühmten Herrn Rousseau aus Genf unterstützt, bei meinem Forschen nach einer edeln, rührenden und natürlichen Melodie, und einer der Prosodie jeder Sprache und dem Charakter eines jeden Volkes angemessenen Deklamation, vielleicht das Mittel gefunden hätte, um den Lieblingsgedanken meiner Seele zu verwirklichen, das ist: eine allen Nationen zusagende Musik zu schaffen, und[179] dadurch den lächerlichen Unterschied der Nationalmusiken aufzuheben.

Das Studium der Werke dieses grossen Mannes über die Musik, und unter andern des Briefes, in welchem er den Monolog der ›Armida‹ von Lully zergliedert, zeugen von der Vortrefflichkeit seiner Kenntnisse und von der Sicherheit seines guten Geschmacks. Er hat mich mit Bewunderung erfüllt und in mir die Ueberzeugung erweckt, dass, wenn er sich der Ausübung dieser Kunst gewidmet hätte, er selbst das Höchste in derselben geleistet haben würde.

Mit wahrem Vergnügen benutze ich diese Gelegenheit, ihm hier öffentlich den Zoll meiner tiefen Verehrung darzubringen.

Ich bitte Sie, mein Herr! diesen Brief in das nächste Stück Ihres ›Mercure‹ gefälligst aufzunehmen.

Ich habe die Ehre zu seyn etc.

Im Februar 1773.

Gluck.«


Indessen unterhielt Hr. D'Auvergne mit dem Bailly Du Rollet in Gluck's Angelegenheit einen Briefwechsel, dem zufolge der Bailly Jenem den ersten Akt der» Iphigénie« zusandte; nach dessen Durchsicht Ersterer zurückschrieb: »Wenn der Ritter Gluck sich verbindlich machen wolle, der Pariser Akademie der Musik sechs solche Opern zu liefern, so sei er der Erste, der sich für die Aufführung interessire; ohne dieses aber nicht: denn eine solche Oper schlüge alle bisherigen französischen Opern nieder.«4[180]

Da die Direktoren der Pariser Oper zu keinem Entschlusse kommen konnten, unternahm Gluck andere Schritte zur Erreichung seines, einmal fest in's Auge gefassten Vorhabens, und wandte sich desshalb geradezu an die erlauchte Tochter der grossen Kaiserin Maria Theresia, die Dauphine Marie Antoinette, die einst seine Schülerin gewesen war. Gleichen Vorschub leistete ihm die erhabene Kaiserin selbst und ihr hoher Sohn, der römische König Joseph, in deren Kammerkonzerten die vorzüglichsten Stücke der neuen Oper schon längst und oft waren vorgetragen und beifällig aufgenommen worden.

Die Dauphine hob alle Schwierigkeiten, ertheilte den Direktoren der Akademie der Musik die nöthigen Befehle, und lud Gluck ein, mit seiner Partitur nach Paris zu kommen, wo er sich ihres ganzen Schutzes erfreuen würde.


Doch ehe wir zur Geschichte seines Aufenthalts und künstlerischen Wirkens in Frankreichs Hauptstadt schreiten, gestatte man uns, eine kurze Beleuchtung der Zustände des lyrisch-musikalischen Dramas in jenem Reiche voranzuschicken.

Bis gegen die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts kannten die Franzosen keine anderen musikalischen Schauspiele, als jene Ballete, in denen das Recitativ und der Dialog mit dem Tanze regellos abzuwechseln pflegten. Erst Baïf, der früher mit Ronsard mehrere dergleichen Stücke verfertigt, später aber zu Venedig eigentliche Opern gesehen hatte, und selbst Dichter und Tonsetzer war, nahm sich vor, diese neue Gattung Schauspiel in Frankreich einzuführen. In dieser Absicht verfasste er mehrere Dramen in Versen, setzte sie in Musik und liess sie zuerst in Conzerten hören, die er in seinem Hause gab, und denen auch die Könige Karl IX. und Heinrich III. beiwohnten. Baïf würde sein Vorhaben, in Paris eine Oper einzurichten, gewiss ausgeführt haben, wenn die damaligen Bürgerkriege ihn nicht daran verhindert hätten.

Im Jahre 1645 liess endlich der Cardinal Mazarin vor[181] dem jungen Könige Ludwig XIV. ein lyrisches Drama mit dem Titel: »La Finta Pazza« von Giulio Strozzi zur Aufführung bringen. Man kann sich jedoch von dem damaligen Geschmack einen Begriff machen, wenn man erfährt, dass der erste Akt dieses Singspiels mit einem Tanze von Affen und Bären, der zweite von Straussen, und der dritte von Papageien geschlossen wurde. Dieser erste Versuch, und nach ihm Zarlino's Oper »Orfeo« –, von italischen Sängern aufgeführt, die der Cardinal Mazarin kommen liess, brachte so wohl durch den Zauber der Musik, als durch die Pracht der Dekorationen und Kostumirung eine ausserordentliche Wirkung hervor.

Dieser glückliche Erfolg rief den Gedanken in's Leben, auch französische Opern zu verfassen. Die Schwierigkeit, Sänger und Orchester aufzufinden, schreckte den Abbé Pierre Perrin nicht ab, ein lyrisches Schäferspiel zu dichten und es von dem Organisten Cambert in Musik setzen zu lassen. Diese Neuigkeit bezauberte die Franzosen um so mehr, als sie dadurch zur Ueberzeugung gelangten, dass auch sie ein lyrisches Schauspiel haben könnten, was man schon früher, wie es später Rousseau gethan, wegen des Mangels an Harmonie in ihrer Sprache bestritten hatte. Erfreut über den glücklichen Erfolg ihres ersten Versuches schritten Perrin und Cambert zur Komposition der Oper »Ariadne.«

In derselben Zeit gab eine neue italische Gesellschaft die Oper »Ercole Amante,« die durch die Hochzeitsfeier des Königs, dann durch die Fortschritte, welche die Kunst mittlerweile gemacht hatte, und durch die Freigebigkeit des Cardinals zu einem der prächtigsten Schauspiele erhoben wurde. Vigaro ni da Modena, ein geschickter Architekt, hatte in den Tuilerien ein herrliches Theater erbaut; der König, die Königin und die Vornehmsten des Hofes tanzten auf demselben. Dessen ungeachtet aber hinterliess diese Oper, obschon besser aufgeführt, als Zarlino's »Orfeo« –, dennoch nicht denselben Eindruck; man hatte Geschmack an französischen Texten gefunden; der Nationalgeist wirkte ein, und Cambert's Musik wurde allgemein vorgezogen.[182]

Durch den Tod des Cardinals Mazarin verloren die Künste einen grossmüthigen Beschützer und die Fortschritte des lyrischen Dramas wurden um zehn Jahre aufgehalten. Perrin suchte und erhielt im Jahre 1669 ein Privilegium zur Errichtung einer Oper des Inhalts, dass er in Paris und in andern Städten des Königreichs durch zwölf auf einander folgende Jahre musikalische Akademien errichten, und allerhand theatralische Stücke aufführen lassen könne, so wie es in Italien, Deutschland und England üblich sei. Da ihm das zu einer solchen Einrichtung erforderliche Betriebskapital fehlte, gesellte er sich M. Cambert für die Musik, den Marquis de Sourdéac für die Maschinen, und M. Champeron als Sekretär für die nöthigen Gelder bei, ergänzte das Orchester durch Tonkünstler aus dem südlichen Frankreich, und übte diese neu zusammengesetzte Gesellschaft in dem Hôtel de Nevers, während das Ballhaus in der Strasse Mazarin zu einer Schaubühne umgestaltet wurde. Dort erschien »Pomona,« die erste französische Oper, welche öffentlich aufgeführt wurde, und trotz der vielen Mängel des Gedichtes ihrem Verfasser Perrin dreissigtausend Franken einbrachte.

Doch bald bemächtigte der Marquis de Sourdéac unter dem Vorwande von Vorschüssen, die er geleistet hatte, sich des Schauplatzes, und wählte Gilbert, statt Perrin zum Dichter eines andern Schäferspiels, das er durch Jean-Bapt. Lully, einen jungen Florentiner, der seinen musikalischen Genius bereits durch verschiedene Kunstschöpfungen, namentlich durch Tanzstücke zu Singspielen, geltend gemacht hatte, in Musik setzen liess. Diese erste Arbeit des berühmten Tonsetzers trug viel dazu bei, den Geschmack an der französischen Oper immer mehr zu entfallen. So fingen endlich die Unternehmungen dieser geistreichen Spiele dergestalt einträglich zu werden an, dass bald ein Unternehmer den andern durch allerlei Ränke von seinem Posten zu verdrängen suchte. Während nun diese unter einander in Streitigkeiten verwickelt waren, ergriff der, inzwischen königl. Oberkapellmeister gewordene Lully, von dem Einflusse der Madame Montespan unterstützt, die Gelegenheit, [183] Perrin dahin zu vermögen, dass dieser ihm sein Privilegium gegen den Erlag einer gewissen Summe Geldes abtrat. Er trennte sich nun von Gilbert, Sourdéac und den Uebrigen, wählte sich andere Gesellschafter, verliess ihr Theater, und baute sich ein anderes in der Strasse Vaugirard, wo im Jahre 1772 die Oper »Les Fêtes de l'Amour et de Bacchus« gegeben wurde. Das Gedicht war von Quinault, der bald darauf in den Opern »Cadmus« und »Alceste,« obgleich sie durch einige komische und geschmacklose Scenen entstellt waren, Spuren eines grossen Genius blicken liess. Lully arbeitete fast immer mit ihm und gab ihm für jedes Operngedicht viertausend Franken, mit der Bedingung, dass zwischen jeder neuen Oper der Zeitraum eines Jahres verfliessen müsse.

Nach Molière's, im Jahre 1673 erfolgten Tode verlieh der König Lully den Speisesaal im Palais Royal, wo die Oper über ein Jahrhundert geblieben ist.

Die Gunst des Hofes, welche Lully mit Gold und Ehren überhäufte; seine ersten Verbindungen mit den berühmtesten Dichtern seiner Zeit, namentlich mit Quinault; die Menge der, zwischen den Jahren 1673 und 1702 von ihm gesetzten Opern; die Herrschaft, die er sich über sein Orchester-Personale zu erwerben wusste; seine natürlich fliessenden Melodien, mit denen er alle Tonsetzer seiner Zeit überstrahlte; die echt theatralischen Vorzüge, die seine Musik charakterisiren und wodurch die italische Oper in den Schatten gestellt wurde; noch mehr aber die von ihm, durch verschiedene wichtige Verordnungen der Akademie der Musik erworbenen grossen Vortheile, so wie das Verdienst, dass er zuerst die Blase-Instrumente in das Opern-Orchester eingeführt, und 1681 die bis dahin durch verkleidete Männer ausgeführten Weiberrollen im Ballete durch Tänzerinnen zu besetzen angefangen hatte, erwarben ihm die ganze Aufmerksamkeit, Zuneigung und Bewunderung seiner Zeitgenossen, und verschafften ihm den glanzerfüllten Namen eines Vaters der französischen Musik, in dessen Besitz er durch ein halbes Jahrhundert verblieben ist. Seine Musik wurde zu einer wahren National-Musik und alle auf Lully[184] folgenden Tonsetzer, als da sind: Destouches, Campra, Monteclair, Lalande u.a., ahmten ihm als ihrem Muster nach; und so konnte es geschehen, dass seine Musik in den Jahrbüchern der Geschichte der französischen Kunst eine Epoche von der genannten Dauer bildete.

Indessen kam auch die Zeit, in welcher selbst die Lully'-sche Musik nicht ganz unangefochten blieb. Der bekannte Schriftsteller Abbé Raguenet gab im Jahre 1704 seine »Parallèle des Italiens et des François en ce qui regarde la Musique et les Opéras« heraus, ein Werk, das ein ausserordentliches Aufsehen erregte, und worin er mit einem ziemlich systematischen Geiste und mit mehr Unpartheilichkeit, als später der Genfer Philosoph, eine Vergleichung der beiden Musikgattungen in Absicht auf die Fähigkeit der französischen und italischen Sprache für den Gesang überhaupt, der musikalischen Bearbeitung, der dramatischen Poesie, der Beschaffenheit der Opernsänger, der Aktion bei der Oper, der verschiedenen Arten der Singstimmen, des Recitativs, der Arien, der Instrumentalbegleitung, der Chöre, Tänze, Maschinen und Dekorationen anstellte. Indem er in mancher Beziehung seinen Landsleuten Gerechtigkeit widerfahren liess, griff er doch in den übrigen Punkten ihren Traum von einer Bevorzugung und höheren Vollkommenheit den Italienern gegenüber ziemlich unsanft an, und hatte, besonders in Hinsicht der französischen Ausführung nicht ganz Unrecht.

Diese Schrift rief eine lebhafte Polemik hervor, an welcher bedeutende Schriftsteller Antheil nahmen, die jedoch der Lully'schen Musik wenig Eintrag machte, bis ein stärkerer Tonsetzer als Lully die Leistungen des letzteren zu verdunkeln anfing.

Dieser Mann war Rameau; mit ihm erschloss sich eine neue Zeit für die französische Musik. Dieser geniale Künstler und Kunstschriftsteller, der sich bereits als gründlicher Theoretiker ein hohes Ansehen erworben hatte, war zu Dijon am 25. Oktober 1683 geboren. Die Liebe zur Tonkunst führte ihn sehr frühe nach Italien. Nach seiner Zurückkunft ward er Organist,[185] erst zu Clermont, dann zu Paris, und betrat ziemlich spät die dramatische Laufbahn, nachdem er bis zu seinem fünfzigsten Jahre lediglich über die Gesetze der Harmonie und die Kunst des reinen Satzes die tiefsten Forschungen angestellt und der Welt bekannt gegeben hatte. Zu den seltensten Erscheinungen muss man es noch zählen, dass Rameau's Tonschöpfungen bis an seinen, im achtzigsten Lebensjahre erfolgten Tod das ganze Feuer ihres Geistes bewahrt haben.

Erst im Jahre 1733 trat er mit seiner Oper »Hippolyte et Aricie« als dramatischer Tonsetzer auf, und erregte die musikalische Welt auf das heftigste. Lange wurde sein Erfolg von Lully's Anhängern bestritten; allein sie mussten endlich weichen, und der Tonsetzer des »Castor und Pollux« behielt den Sieg. Denn beide Opern zeichneten sich durch eine seltene harmonische Fülle, durch ausgearbeitetere Chöre und reichere Instrumentalbegleitung aus, und sicherten ihm auch von dieser Seite den wohlverdienten Lorbeer. Seine Tonschöpfungen erhoben ihn, wie einst Lully, zum ersten Tonsetzer seiner Zeit, eine Rangstufe, die er, wie wir schon erwähnten, ungeschmälert bis an sein Ende behauptete. Seine Zeitgenossen, Mondonville, Rebel, Fran coeur, Mauret und Berton sind beinahe vergessen und unter den Patriarchen der französischen Oper sind nur Lully und Rameau im rühmlichen Andenken geblieben.

Rousseau, der würdige Beurtheiler der hohen Verdienste dieses Mannes, lässt in einem meisterhaft geschriebenen Briefe seinen Vorzügen volle Gerechtigkeit widerfahren, zeigt aber zugleich, wie viele Wünsche derselbe, bei aller mechanischen und grammatischen Vollkommenheit seiner Werke, in Hinsicht ihrer ästhetischen Wirkung noch unbefriedigt gelassen, wie derselbe ferner, durch sein, von zu vieler Gelehrsamkeit verschleiertes Genie verleitet, die Harmonie zur Hauptsache gemacht, die Melodie dagegen vernachlässigt, einen rauhen Gesang, ein undeklamatorisches Recitativ eingeführt, und endlich selbst sein Orchester durch zu gehäufte und verwirrende Begleitungsmittel auf falsche Wege der Ausführung gebracht habe.[186]

Während jedoch Rameau, mit reichen Lorbeerkränzen geschmückt, dem theatralischen Treiben gemüthlich zusah, führte sein böser Stern und der gute Genius der französischen Musik im Jahre 1752 eine Gesellschaft italischer Intermezzo- oder Buffosänger aus Deutschland nach Paris, die, wenn auch nur des Reizes der Neuheit wegen, bald den Beifall des Volkes gewannen.

Signor Manelli, der vornehmste dieser Sänger, zugleich ein vortrefflicher Komiker, dann die Sängerin Tonelli, deren Schönheit, Jugend, bewunderungswürdige Leichtigkeit, Klarheit und Reinheit der Stimme allgemein bezauberten, waren die Perlen dieser Gesellschaft. Die neuen Ankömmlinge machten während der acht Monate ihres dortigen Aufenthaltes auf dem Operntheater den Versuch, ihre besten italischen Zwischenspiele, als da waren: »La Serva Padrona« von Pergolese; »Il Paratagio« von Jomelli; »I Viaggiatori« von Leo, und a.m. darzustellen; und siehe da, die für alles Neue leicht empfänglichen Pariser hatten sich schnell und entscheidend für diesen Künstlerverein erklärt und strömten schaarenweise zu den Vorstellungen desselben, unter denen besonders die »Serva Padrona« das grösste Aufsehen erregte. Die italische Musik nahm durch ihre einfachen, zierlichen und angenehmen Melodien alle Ohren und Herzen in dem Grade gefangen, dass die k. Akademie der Musik eine längere Zeit hindurch ganz verödet, und Rameau's schwerfällige Psalmodien zum Schweigen gebracht waren.

Bei diesem Umstande konnte die Selbstliebe der französischen, durch diesen unerwarteten Beifall von ihrem früheren hohen Standpunkte herabgerissenen Tonsetzer, noch mehr aber der gekränkte Stolz der ausübenden Musiker, deren Mängel in der Ausführung durch die Genauigkeit der Italiener enthüllt wurden, natürlich nicht unthätig bleiben. Der Krieg ward aufs neue entzündet; es bildeten sich schnell zwei Partheien, deren Eine die neue Musik mit übertriebenem Lobe bis zum Himmel erhob, die andere, nämlich Lully's und Rameau's Bewunderer, die einst Gegner waren, mit hartnäckiger Selbstsucht ihr[187] altes väterliches Erbe vertheidigte und »pro aris et focis« ihre Lanzen brach.

Diese Partheien erhielten den Namen der Buffonisten und Antibuffonisten; sie versammelten sich allabendlich im Opernsaale, wo die Einen standhaft schmähten, was die Andern vor Entzücken ausser sich brachte. Witzspiele, Quodlibets und Epigramme waren die Waffen, womit man sich bekämpfte. Jede von ihnen hatte Männer von Geist und Ansehen unter ihrer Fahne. Der Streit des Geschmacks ward immer hitziger und endlich so heftig, dass sie sich sogar öffentlich trennten, indem das Parterre sich in zwei Theile theilte. Das, die italische Musik verfechtende Heer nahm Platz unter der Loge und auf der Seile der Königin (au coin de la reine), der andere Theil, das ist der Lully'sche und Rameau'sche, unter der Loge und auf der Seite des Königs (au coin du roi): beide ehrten oder verunehrten wechselweise die italischen Sänger durch Beifallsklatschen oder durch Zischen.

Aber auch die Schriftsteller mischten sich in den Streit. Die Buffonisten hatten in ihrer Mitte Herrn v. Grimm, einen Deutschen, welcher Sekretär des Grafen von Friesen war, und durch sein Talent sowohl als Schriftsteller, als auch durch seine Verbindungen mit verschiedenen Gelehrten, namentlich mit Diderot, rühmlichst bekannt geworden ist. In einer kleinen sehr lebhaften und launigen, im Style der biblischen Prophezeihungen abgefassten Schrift griff er unter dem Namen: »Le petit Prophète de Bömischbroda«5 – die französische Musik an, und seine Kritik traf auch wirklich alle Theile dieser Musik: Theater, Deklamation, Beleuchtung, Orchester, Poesie, Sänger und Sängerinnen, Tänzer und Tänzerinnen u.s.w. Nur der Sänger Jeliotte, die Sängerin Madame Fol und die Tänzerin Dupré blieben verschont. Uebrigens machte er den Takt schlagenden Direktor durch die Vergleichung mit einem Holzhacker überaus lächerlich, verspottete die Sängerinnen wegen ihres sinnlosen Geschreies und ihrer dadurch angeschwollenen Adern und purpurn[188] gefärbten Gesichter, belachte die Sänger als meckernde und gurgelnde Böcke, schmähte auf Lully's Tonsatz, als eine monotone, unerträgliche Psalmodie, fand überall etwas Abgeschmacktes und Widersinniges in der theatralischen Darstellung, erklärte alle ihre, seit achtzig Jahren zur Oeffentlichkeit gelangten lyrischen Werke als ein Gewebe von Aberwitz, und forderte endlich im Namen des Gottes, der ihn einem angenehmen und aufgeklärten Volke gesandt habe, die Nation auf, jenen Abscheu erweckenden Uebelklang abzuschaffen, eine bessere Musik an die Stelle zu setzen und die göttliche Sendung des Dieners Manelli ohne Säumen anzuerkennen, widrigenfalls die Strafe nicht ausbleiben würde.

Gegen den erwähnten kleinen Propheten erhob sich der grosse Prophet Monet mit einer Warnung; allein diese witzlose und an Beweisgründen höchst dürftige Schrift ging spurlos vorüber. Die Buffonisten fuhren fort mit den französischen Schauspielern abwechselnd zu spielen, und noch immer gewann die italische Kunst bei der Vergleichung. Endlich fing die französische Musik an, sich durch die Oper »Titon et Aurore« – von Mondonville von Neuem zu erheben. Der Beifall, den diese nationale Schöpfung fand; die ungerechte Vergleichung, die man zwischen den ernsten Schönheiten dieses Werkes und den Unzukömmlichkeiten des Inhalts der italischen Buffo-Opern anstellte; die Kabalen der französischen Musiker, deren Beistand die Italiener im Orchester nicht entbehren konnten; endlich der Unbestand eines wankelmüthigen Publikums verschafften den französischen Tonsetzern einen kurzen Sieg. Ein Buffonist gab sich in einer Brochure: »Der Ausspruch des Amphitheaters im Streite zwischen beiden Logen-Winkeln« – die vergebliche Mühe, die zusammengeschmolzene Schaar der Bewunderer der Italiener wieder zu mehren; die vornehmsten Vorsteher des Theaters waren des vielen Streitens unter dem Publikum müde geworden, dankten die fremde Gesellschaft ab, und setzten die königliche Akademie wieder in den ausschliessenden, friedlichen Besitz ihres Kunsttempels, ihrer Psalmodie, ihres Geschreies ein.[189]

Aber dafür wurden ihr nun andere desto empfindlichere Wunden geschlagen, die mit dem Fortgange der Zeit dem Wesen und Unwesen der französischen Musik ein Ende machen und diese selbst einer Wiedergeburt entgegenführen mussten. Rousseau war es, der gegen sie auftrat, obschon man so eben seinen »Devin de Village« zu spielen begonnen hatte. Er griff die Kompositionen der Franzosen, noch mehr aber ihre fehlerhafte Ausführung mit allem Witze und der hinreissenden Beredsamkeit seiner Feder an. Zuerst tadelte er das Pariser Orchester in einer kleinen Schrift6 sehr bitter und enthüllte darin mit den treffendsten und gleichsam aus Voltaire'scher Ader sprudelnden Sarkasmen alle Kniffe, deren die ausübenden Musiker sich nach Möglichkeit bedient hatten, die Ausführungen der italischen Stücke recht geflissentlich zu verderben. Doch kaum hatten die Bouffons den Platz geräumt, so legte er die leichteren Waffen der Verspottung zur Seite, und ergriff die stärkeren Geschosse der Urtheilskraft und der Gründe. So entstand im Jahre 1753 sein berühmter Brief »Sur la Musique française.«

In dieser, ziemlich ausführlichen Abhandlung bekämpfte Rousseau mit gewohnter Ueberlegenheit seines Geistes durch alle ihm zu Gebote stehenden Sprachmittel die Musik seines Volkes, besonders die Musik Rameau's sowohl hinsichtlich ihrer Partitur, als der damals sehr verderbten Ausführung. Er machte darüber die scharfsinnigsten Bemerkungen, und zog stets die Parallele zwischen den Vorzügen der Italiener und den Fehlern der Franzosen, indem er in Alles einging, worin die Sänger beider Nationen grell von einander abwichen.

War in diesen, von Rousseau mit grosser Beredsamkeit vorgetragenen Meinungen so Manches auch nicht ganz gegründet, so brachen aus denselben doch auch wieder so viele Strahlen der Wahrheit hervor, dass ihre Wirkung auf die Freunde der französischen Musik nicht verloren ging. Alle Federn regten sich, und rüsteten zur Widerlegung: aber es waren nur Federn, nicht[190] Köpfe; diese suchten nur durch Persönlichkeiten ihren Mangel an Gründen zu ersetzen. Jene Männer, die durch die schlagende Wahrheit der Kritik des Genfer Philosophen sich gekränkt fühlten, besonders die französischen Tonsetzer und Sänger, schrieben Pasquille und Spottgedichte wider ihn, verlachten seine freiwillige Armuth, und parodirten ihn auf der Bühne in der Farce »Les Fées« mit aristophanischem Witz, als einen zweiten Socrates. Die Schauspielergesellschaft entzog ihm endlich sogar den freien Eintritt zu ihren Vorstellungen, den er sich durch seinen »Devin de Village,« anstatt des Ehrensoldes, mit Recht erworben hatte.

Was that nun der Mann? – Er zog sich in den Schooss ländlicher Ruhe zurück, weihte sein Leben noch ferner der Literatur, und rief Werke in das Leben, die ihm die Krone der Unsterblichkeit sicherten. Auch der Tonkunst blieb er ein treuer Diener, und liess sich weder durch Drohungen, noch durch die bereits erlittene ungerechte Schmach einschüchtern; ja er fuhr fort, die in dem erwähnten Briefe auseinandergesetzten Grundsätze und Wahrheiten auch in seinen spätem Schriften, in seinem Urtheile über Rameau's Schöpfungen in seinem »Dictionnaire de Musique« – u.s.w. zu behaupten. Später beurkundete er in einer scharfsinnigen Schrift über Gluck's »Alceste« und in der Untersuchung einer Stelle des »Orfeo« noch hinreichend, wie lieb und werth die Tonkunst ihm bis zum letzten Lebenshauche geblieben ist.

Indessen trug der, in seinen Schriften ausgesprochene scharfe Tadel dennoch seine Früchte. Das heilsame, in Rousseau's berühmtem Briefe enthaltene Gährungsmittel förderte die Fortschritte der französischen Musik, und rief eine nicht unbedeutende Menge geläuterter Kunsterzeugnisse aus der Feder eines Duni, Philidor, Monsigny, Desaides, Grétry, Gossec, Rodolph und Anderer hervor.7[191]

Wenn die Verblendung und der Unglaube den höchsten Grad erreicht haben, bedarf es stets eines Donnerkeils, um diese Unholden niederzuschmettern, oder des Schwerts eines Alexander, um den Gordischen Knoten zu zerhauen, den Niemand zu lösen vermag.

Endlich erschien Gluck, wie das Gestirn des Tages, und der Umschwung begann – wenn auch nicht in Caesar's Weise – wenn auch erst nach manchem Kampfe! –


So gelangen wir denn zu jener sogenannten Reform, die unser Tonheros zum Heile Frankreichs, später auch Deutschlands, ihrem Ziele entgegenführte: denn Italien hielt seinen Sinn fortan jeder besseren Einsicht verschlossen; nur in den spätem Werken eines Piccini und Sacchini finden sich so manche erfreuliche Spuren des edlen deutschen Vorbildes.


Der heisse Streit der Bouffons8 war jedoch nur ein Rangstreit der Meinungen; und Rousseau, der die politischen Umwälzungen sehr richtig vorher sah, hatte sich mit der Behauptung etwas übereilt, dass die Franzosen in der Tonkunst nie und nimmer eine Umwälzung erleben würden, weil, seiner Ansicht nach, eine gute Musik mit der musikwidrigen französischen Sprache durchaus unverträglich sei.

Allein Gluck setzte grösseren Glauben in den »Devin de Village,« als in den geistreichen und beredsamen Brief, worin der berühmte Genfer, der Schöpfer jenes musikalischen Dramas, die Bouffons gegen die königliche Akademie der Musik in Schutz nahm; und dennoch hatten die tiefen Kenntnisse und die Richtigkeit des Geschmackes, die dem grossen Manne eigen waren, Gluck mit hoher Bewunderung erfüllt.[192]

Die Art, wie Rousseau von der Tonkunst sprach, und wie er sie behandelte, musste Gluck die Ueberzeugung verschaffen, dass jener die wunderbaren Wirkungen, die das Alterthum der Musik beilegt, gewiss selbst verwirklicht haben würde, wenn er der Tonkunst allein sein Leben und seine Kräfte gewidmet hätte.

Doch, was Rousseau unterliess, that Gluck, und obgleich diesem seine Absicht vollständig gelang, so war zur vollkommenen Anerkennung der Grösse seines Genius sowohl, als seines herrlichen und glänzenden Sieges in Europa dennoch ein Zeitraum von vierzig Jahren erforderlich. Eine freilich etwas lange Zeit, um endlich über das zur Entscheidung zu gelangen, was unsere Seele rührt und unsere Sinne bezaubert! –

Gluck selbst musste lange streben, bis man ihn einer solchen Prüfung werth hielt. Die Pariser Welt hatte es sich zwar oft wiederholt, dass ihre grosse Oper bereits zu einem langweiligen Schauspiele herabgesunken war; und dennoch strömte sie in zahllosen Massen dahin; Lully's Psalmodie und Rameau's Orchester verschafften ihnen noch immer ein, aus hundert angenehmen Empfindungen zusammengesetztes Vergnügen. Indessen hätte zu diesem Zweck nur eine Empfindung hingereicht, wenn die Musik dasjenige gewesen wäre, was sie hätte seyn sollen. Man besass ja schon einzelne Muster in Monsigny's, Philidor's und Grétry's Gesängen. Diese Maler der Natur und der Leidenschaften waren zwar noch keine Poussins des lyrischen Dramas: allein sie waren in jeder Beziehung schon mehr, als mittelmässige Darsteller. Der Abstand zwischen dem Drama und der Tragödie war doch leicht zu ermessen; und hatte man einmal die Gränzen beider ausgemittelt und festgesetzt, so konnte ein Genius sie leicht überspringen. Ich sage – ein Genius, weil der Sprung sonst wohl in einen misslichen Fall ausarten konnte.

Seit der Aufführung der Oper »Orfeo« in Wien und in Italien, noch mehr aber seit dem Jahre 1772 hörte man in der Seine-Stadt viel von dem deutschen Gluck reden. Man erzählte sich Wunderdinge von ihm; man versicherte, dass er[193] selbst die Ohren der Italiener bezaubere; dass er mit dem Lebhaften, Sanften und Schwermüthigen Töne verbinde, die sie vergötterten; dass er diesen Tönen eine Stärke zu verleihen wisse, die sie in Staunen versetze, ohne ihre Gehörswerkzeuge unangenehm zu berühren; dass er schon in vorhinein die Aufmerksamkeit fessle, und das Gemüth seiner Zuhörer bei der Ausführung eines Tonstückes, dessen Theile unter einander eben so innig verbunden sind, wie die Theile des ganzen Dramas, in steter Spannung erhalte; dass er die Singstimmen nicht mit eitlen Trillern, Läufern und Schlussformen verunziere, die wohl als Blumen des Gesanges, nicht aber als zum musikalischen Ausdruck unerlässlich gehörige Unterstützungsmittel betrachtet werden können; dass er ferner seine Tonphrasen zu jener Grösse und Kraft erhebe, die von den Phrasen der Dichtung bezeichnet werden; dass er endlich die, mit so vielen andern dramatischen Künsten verschwisterte mächtige Kunst des Sängers nicht mehr zum blossen Conzerte herabsinken lasse, das nur dazu bestimmt zu seyn scheint, uns für Augenblicke der Langeweile geselliger Kreise zu entziehen.

Alle diese, auf den meisten Theatern mit grossem Beifall aufgenommene Neuerungen schienen, der Form nach, blosse Nachahmungen der lyrischen Tragödie der Franzosen zu seyn; jedoch fand man an den Versen eines Quinault noch immer Geschmack, während die Musik eines Lully und Rameau keine Beschützer mehr fand.


Gluck begab sich demnach mit seiner neuen Oper schon im Spätsommer des Jahres 1773 nach dem, seit Jahren ersehnten Ziele seines Strebens, nach Paris. Seine Gemahlin und seine Adoptivtochter und Nichte Marianna und eine Menge von Empfehlungsbriefen begleiteten ihn; an der Spitze dieser Begleiter schwebte die Hoffnung glänzender Erfolge.

Nicht nur die huldvolle Aufnahme von Seiten der königl. Familie, sondern auch das freundliche Entgegenkommen der[194] vorzüglichsten, in der Seine-Stadt versammelten Kunstgenossen belebten seinen Muth, den er zu den nöthigsten Vorbereitungen, zur Besiegung aller, ihm in Aussicht gestellten herkulischen Arbeiten und zur Hinwegräumung jedes vorkommenden Hindernisses im höchsten Grade nöthig hatte: denn, es war ihm nicht genug, eine dramatische Musik geschaffen zu haben; er bedurfte dazu auch Schauspieler, Sänger und Instrumentisten, die seinen Zwecken vollkommen entsprachen.

Die Praxis bewies es auch, dass sein Unternehmen den Anstrengungen des mythischen Halbgottes fast gleich kam, denn seine Thätigkeit begann damit, dass er sich sämmtliche Personen der Oper vorstellen und Beweise ihrer Kunstfertigkeiten geben liess, um unter ihnen jene Talente kennen zu lernen und wählen zu können, die zur Darstellung der Charaktere seiner neuen Schöpfung ihm als die tauglichsten erscheinen würden.

Gluck erschrack über die barbarische Beschaffenheit des französischen Gesanges; er fand, sagt Castil-Blaze, ein Orchester, das in seinen Stimmen nichts sah, als ut und re, Viertel- und Achtelnoten; eine Schaar von Gliedermännern, die man den Chor nannte; Schauspieler, wovon die Einen eben so leblos waren als die Musik, die sie sangen; und die Andern sich bemühten, eine traurige, schwerfällige Psalmodie hören zu lassen, oder frostige Lieder mit Armen und Lungen zu erwärmen. Er sah sich ferner in die unangenehme Lage versetzt, mit den zahllosen Mängeln und üblen Gewohnheiten, die Rousseau einst mit schneidender Schärfe getadelt hatte, und von denen seine Sänger noch immer, wie von unreinen Geistern besessen waren, in einen wahrhaften Vernichtungskampf zu treten, und sie so zu bilden, dass sie zum Vortrage der, ihnen bestimmten Rollen die erforderliche Tüchtigkeit erhielten; kurz; er musste die ganze Singschule, nach den Grundsätzen des Systems, das er rücksichtlich des musikalischen Ausdruckes, der Einfachheit und Reinheit des Gesanges, der Lebhaftigkeit und Richtigkeit der Deklamation beim Vortrage seiner Recitative sich festgestellt hatte, mit seinen Sängern rastlos durcharbeiten. Eben diese Mühe harrte seiner später bei den Proben mit dem Orchester,[195] wo er hinreichende Gelegenheit fand, sein ganzes Ansehen, seine ganze männliche Thalkraft und alle seine Kenntnisse zu entwickeln.9 Hinsichtlich der Sänger war er genöthigt, die meisten Stücke der zur Aufführung vorbereiteten Oper in andere Tonarten zu übertragen und noch mancherlei von den Umständen gebotene Veränderungen vorzunehmen.

Doch – Prometheus hatte seine Fackel geschwungen und – die Statuen wurden belebt. Die Instrumente des Orchesters waren gefühlvolle Stimmen geworden, die sich stets mit der Handlung vereinten, um ihre Wirkung zu verstärken; Gluck hatte die Schauspieler belehrt, dass eine sprechende, ausdrucksvolle Musik nur gefühlt werden dürfe, um zu einer kräftigen, wahren Aktion hinzureissen. Die Chorsänger, nun in Bewegung gesetzt, waren erstaunt, sich als Schauspieler wiederzufinden, und die Tänzer waren es noch weit mehr, dass sie auf einer Bühne nichts mehr galten, wo sie gewohnt waren, fast allein zu herrschen.

Nach unzähligen, unermüdeten Einübungen und Proben, die die französischen Musiker nur mit grosser Mühe durchzuführen im Stande waren, aber dennoch auf das eifrigste betrieben und zum Schlusse brachten, wurde endlich die Aufführung der neuen Oper auf den 13. Februar 1774 festgesetzt.

Da trat ein neues Hinderniss dazwischen. Als nämlich der langersehnte Tag erschienen war, wurde gemeldet, dass der erste Sänger plötzlich erkrankt sei, und dessen Rolle an diesem Abende von einem andern vorgetragen werden müsse. Dahinter lauschte die nie ruhende Kabale, welche Gluck's Oper zum Falle bringen wollte. Der Tonsetzer witterte den Verrath, und verlangte den Verschub der Aufführung. Man versicherte ihn, diess sei unmöglich, das Stück bereits angekündigt, dem Hofe gemeldet, und die plötzliche Verschiebung einer erwarteten[196] Vorstellung ohne Beispiel; das Stück müsse, so gut es seyn könne, zur Darstellung gebracht werden. Gluck erklärte dagegen in bestimmtester Weise, er würde seine Oper weit eher den Flammen übergeben, als eine verstümmelte Vorstellung gestatten, und blieb unerschütterlich bei seinem Entschlusse. Man unterrichtete den Hof, und – die Vorstellung wurde wirklich verschoben.10

Noch nie hatte das Pariser Publikum eine grössere Ungeduld nach einem neuen Stücke an den Tag gelegt, als nach diesem Werke. Die Verehrer der Musik waren schon jetzt getheilt, und die unzeitige Hitze der Partheien schien den kleinen musikalischen Krieg gegen die italischen Bouffons wieder erneuern zu wollen.

Endlich war der 19. April, dieser grosse, für den deutschen Tonheros entscheidende Tag angebrochen, an dem auf der Pariser grossen Bühne, einer Sonne gleich, die »Iphigénie en Aulide« emporsteigen sollte.11

Man lebte in der gespanntesten Erwartung der Dinge, die da kommen sollten; seit mehr als vierzehn Tagen12 dachte und träumte man von nichts, als von der neuen Musik. Sie war der Brennpunkt aller Streitigkeiten und Unterredungen in den Pariser Kreisen; sie war die Seele der Mahlzeiten; ja es schien sogar lächerlich, für etwas Anderes eine Theilnahme zu äussern. Auf politische Fragen antwortete man mit harmonischen Sätzen, auf moralische Betrachtungen mit Ritornellen zu Arietten; und wollte man eine gleiche Stelle aus Racine's oder Voltaire's Werken anführen, so erwiderte man mit der Beschreibung der[197] Wirkung, die das Orchester bei dem schönen Recitative Agamemnon's in den Gemüthern hervor gebracht hatte.

Bei der ersten Vorstellung wurden viele Stücke mit rauschendem Beifalle begrüsst, der Rest jedoch kalt aufgenommen: sei es, dass das Schöne und Erhabene in der Oper die Pariser Anfangs nur schwach berührte, da Gewohnheit und Nachdenken sie noch nicht unterscheiden gelehrt hatte; sei es, dass so wohl die zu lose Entwicklung der Handlung, als das Schlussballet, dem der Charakter des Hüpfenden fehlte, das Schauspiel etwas erkältete. Doch schon bei der zweiten Darstellung erfreute die Oper sich eines günstigeren Erfolges. Man verlangte fast eine halbe Stunde lang nach dem Tonsetzer, der aber nicht erschien.

Gluck's wahrhaft erhabene Musik, von der man in allen, dem »Orfeo« vorangehenden Opern nur einzelne Lichtblicke findet, fesselte gar bald nicht nur alle Kenner, sondern auch die Mehrzahl im Publikum: denn sie fanden nun in derselben, was man damals nur im Schauspiele suchte, dramatische Wahrheit und hohe Beachtung des theatralischen Zweckes.

Diese allgemeine Gährung, die nach und nach eben so heftig wurde, als die verschiedenen, über die neue Oper gefällten Urtheile, und die Wuth der, in diesem Kampfe begriffenen Personen täglich steigerte, schien wenigstens zu beweisen, dass Gluck sich wirklich von dem breit getretenen Pfade weit entfernt und den Freunden der Kunst einen ganz neuen gebahnt und eröffnet habe; ein Unternehmen, das nur durch den zauberischen Einfluss eines im Aufgange begriffenen, hell aufleuchtenden, und alle anderen verdunkelnden Gestirnes versucht und erreicht werden konnte.

Ein solches Werk nun konnte keine mittelmässige Schöpfung seyn! – Wer diesen Ausspruch anzuerkennen die Einsicht hatte, durfte wohl auch den grossen Schönheiten der Gluck'schen Oper die verdiente Würdigung nicht versagen; es wurde ja selbst die Meinung jener minder geübten Kunstfreunde, die das Werk mit einer Art von Ueberraschung hörten, zum Schweigen gebracht und genöthigt, den Werth desselben anzuerkennen: denn man hatte ja zum ersten Male eine Tragödie[198] in Musik gesehen, die, mit ununterbrochener Aufmerksamkeit und stets wachsendem Interesse angehört, allenthalben, selbst in den Coulissen, Thränen entlockte, und den Saal von Ausrufen der Bewunderung ertönen machte.


Demoiselle Arnould13 (Sopran) sang die Rolle der Iphigénie, wie sie in der Comédie française schwerlich je gesungen worden wäre. Sie sang ihren Part nicht allein mit aller Anmuth ihrer Kunst, sondern auch mit der höchsten Richtigkeit, was bei ihr nicht immer der Fall war. Es schien, dass Gluck schon in vorhinein den Charakter ihres Spieles und den Umfang ihrer Stimme genau ermessen und sich sämmtliche Saiten ihres Gesanges genau zu eigen gemacht habe. Der Sänger Larrivée14 (Bass) trug seine Rolle mit nicht minderem Ausdrucke vor; nur hatte er ihren Geist Anfangs weniger scharf aufgefasst, als sie es erforderte. Sein Vortrag war mehr heftig als warm, mehr anmassend als würdevoll, und diese Eigenschaft entsprach keineswegs der Strenge und dem edlen Stolz' eines Agamemnon. Bei den ersten Proben war Gluck mit Allem, was ihn betraf, wohl zufrieden; nur eine Stelle schien ihm nicht im Geiste der Rolle gegeben zu seyn, was er dem Sänger freundlich bemerkte. Dieser antwortete aber: »Lassen Sie mich nur erst in das Kostume gekleidet seyn, und Sie sollen mich nicht erkennen.« – Der Meister erwartete ruhig die Generalprobe, die auf jener Bühne immer mit Kostüms und Dekorationen, gleich einer ersten Vorstellung, abgehalten wurde. Gluck, der in einer, der Bühne[199] nahen Loge sass, um die Wirkung seiner Musik als Zuhörer beurtheilen zu können, bemerkte, dass die kritische Stelle nicht besser, als bei den früheren Proben gegeben ward, und rief Larrivée zu: »Mein Freund! ich erkenne Sie!« – – Legros15 schrie mit der schönsten Stimme von der Welt so, dass dem Zuhörer der Kopf schmerzte. In dieser Art des Vortrages konnte man den Achilles kaum wieder erkennen. Es gab nichts Linkischeres und Plumperes als seine Gestalt, und nur sein Spiel konnte diese Eigenschaften einiger Massen verdecken. Mlle Duplan (Sopran) würde eine gute Clytemnestra gewesen seyn, hätte ihre Stimme mehr Richtigkeit und Biegsamkeit besessen. Dieser Umstand liess daher die Freunde der Kunst in der überaus schönen Rolle gar Manches vermissen, was zu ihrer Vollkommenheit unerlässlich schien. Wenigstens thaten diese, den genannten Sängern anklebenden Mängel, die zu beseitigen unserem Gluck, trotz aller angewandten Mühe, nicht gelingen wollte, der Wirkung des Ganzen einen nicht unbedeutenden Eintrag.16

Laharpe, damals Redakteur der »Gazette littéraire de l'Europe«17 gibt noch im Aprilhefte des Jahres 1774 den Erfolg dieser Oper den Parisern in folgender Weise bekannt:

»Wir sind zwar nicht im Stande, das Urtheil des gebildeten Publikums über diese tragische Oper bestimmen zu können, getrauen uns aber zu glauben, dass der Erfolg die Hoffnungen, die man von dem Genius und dem Talente des Ritters von Gluck hegen darf, hinlänglich bestätigen werde. Die Zuhörer können gegen die zahllosen neuen, erhabenen, kraftvollen und[200] doch einfachen Schönheiten, die aus einer so ausdrucksvollen, wirksamen und echt dramatischen Musik hervorleuchten, unmöglich kalt geblieben seyn: aber es gibt noch viele andere Dinge, die ein französisches Ohr nicht so schnell fassen kann, nämlich die Verbindungen der Harmonie und das Verhältniss des Gesanges zum Orchester. Wir behalten uns vor, über die besondere Auszeichnung der Schauspieler und der Instrumentisten, so wie über ihre verschiedenartigen Aufgaben, ferner über das Mangelhafte der Aufführung, wodurch dem Interesse mächtiger Eintrag geschehen und der rasche Gang der Handlung gelähmt worden ist, ein anderes Mal ausführlicher zu berichten.

Indessen können wir nicht umhin, den geneigten Lesern ein Schreiben mitzutheilen, das den Styl und den Ton eines Mannes von hohem Verstande beurkundet – eines Mannes, der für alle schönen Künste mit reinem Feuer glüht, und jene feine Bildung, jene tiefen Kenntnisse, jene wahre Empfänglichkeit besitzt, ohne die ein Kunsterzeugniss nicht richtig beurtheilt werden kann: denn nur ein solcher Mann vermag auf den Geschmack veredelnd einzuwirken, die Wärme der Einbildungskraft zu beleben, seinen Gedanken die bezeichnendsten Worte zu verleihen, und den für das Schöne empfänglichen Seelen die empfangenen Eindrücke unverkümmert mitzutheilen.«

Der Verfasser des hier erwähnten, eine würdigende Auseinandersetzung der in der Gluck'schen »Iphigénie en Aulide« enthaltenen einzelnen Schönheiten liefernden Schreibens ist der Abbé Arnaud, der es an Madame D'Augny, Gemahlin des General-Pächters gleichen Namens gerichtet hat. Der Inhalt ist folgender:18

»Mein Antheil an dem Beifalle, womit das Werk des Ritters von Gluck aufgenommen worden ist, entspringt keiner andern Quelle, als meinem Geschmack an den schönen Künsten, oder[201] vielmehr meiner herrschenden Neigung für dieselben. Die Musik unserer Opern schien mir stets mehr unruhig als lebhaft, und die der italischen Oper mehr reich als schön. Wohl fand ich, der Wahrheit zur Steuer, in den letzteren Recitative und Arien, von grosser Kraft und Wirkung: allein diese Schönheiten offenbaren sich nur selten, und wenn dieses geschieht, sind sie stets mit handwerksmässigen Stellen ohne Zweck, ohne Charakter und Wahrscheinlichkeit gepaart. Ich sehnte mich stets nach einem grossen musikalischen Gesammtkunstwerke, das einen und denselben Plan, dieselben Stufengänge und Entwickelungen, dieselbe Steigerung des Interesses bekundete, die zu einer wohlgeordneten und gut geschaffenen Tragödie erforderlich sind. Dieses Alles glaube ich in Gluck'sIphigénie‹ wieder gefunden zu haben.

Hören Sie die Ouverture! Nicht durch rasche Uebergänge, sondern durch die nämlichen Formen verbindet der Künstler den Anfang mit dem Gegenstande. Hören Sie, wie mit Einem Mal alle Instrumente sich auf einen einzelnen Ton stürzen; wie sie sich im Einklange vereinigen und bis zur Oktave desselben Tons erheben! – Aber schnell theilen sie sich, und jedes eilt wieder an seinen Platz, um die Seele auf eine grosse Begebenheit vorzubereiten. Während die höheren Instrumente sich mit einer Geschmeidigkeit bewegen, welche die Empfindung des Rhythmus zu schwächen droht, schleudert der Tonsetzer, um diese Empfindung festzuhalten, in die übrigen Instrumente den Anapèste,19 der unter allen Tonfüssen sich am meisten zu Kriegsgesängen eignet. Um aber dem Ohr einen Ruhepunkt zu gewähren und die sanften und rührenden Stellen des Schauspiels anzudeuten, lässt er dem Schoosse dieser kriegerischen und leidenschaftlichen Formen einen Gesang entquellen, der, ohne matt zu werden, die liebenswürdigste und reizendste Wendung nimmt. Dieser Gesang wird mit richtigem Gefühl und mit grosser Gewandtheit bis zu jenen edlen und rührenden Klagen[202] geführt, die den erhabenen und tragischen Charakter der Handlung bezeichnen.

Hätte ich mit jungen Künstlern zu rechten, so würde ich von der Reinheit der Zeichnung in allen Theilen des Kunstwerks, von den Gegensätzen derselben und von der Art und Weise zu ihnen sprechen, wie die, das Ohr beherrschenden Gedanken sich entwickeln und zu Dialogen gestalten; auch würde ich sie die Macht der, vom Genius geübten Kunst sehr lebhaft empfinden lassen. –

Der edle Anfang des ersten Aktes hat Sie mächtig gerührt: allein Sie gedenken nicht der feierlichen Wünsche des Calchas, die das Orchester, das von nun an den Charakter einer erzürnten und unerbittlichen Gottheit annimmt, stets zurückzustossen sucht. Bemerken Sie die Harmonie, wie sie bei den, in einem Tone gesungenen Worten: ›Que de cris! que de pleurs!‹ – seufzet; horchen Sie der Harmonie dieser ganzen bewundernswürdigen Stelle, und Sie werden fühlen, bis zu welcher Höhe des Ausdrucks und des Lebens ein wahres Talent die tonlichen Verhältnisse steigern könne. Bei Agamemnon's Gebet muss man die Wahrheit bewundern, mit der die Musik die Einzelnheiten ausmalt! Hören Sie die Bässe beim Beginn des Gebetes; ihr Gang steigt immer aufwärts, und dieses Fortschreiten gibt uns einen wahren Begriff von den Bewegungen einer sich erhebenden Seele. Möchten Sie doch dieses nicht etwa als die Bemerkungen eines Enthusiasten betrachten, der sich fest vornahm, Alles zu bewundern! – Kehren Sie nur, mit Beibehaltung aller harmonischen Tonbeziehungen, das Verfahren um, und Sie werden mit der Nachahmung auch die Wahrheit verschwinden sehen. Als das Erhabenste jedoch und zugleich als das Eigenthum einer tiefen, vom Genius erweckten und in Bewegung gesetzten Empfindlichkeit kann man die Art betrachten, wie der Tonsetzer den, aus dem tiefsten Herzen Agamemnon's emporsteigenden Schrei der Natur ankündigt und ausdrückt; diese seufzenden Stimmen der Hoboen, die tiefe Antwort der Bässe, das chromatische Fortschreiten des Gesanges und der Instrumente, die jenen immer von fern begleiten; dieses harmonische Zwischengemurmel,[203] welches, indem es den Raum zwischen den klagenden und einsylbigen Tonlauten der Bässe und Hoboen ausfüllt, alle Theile des Orchesters, ohne der Wirkung des Dialoges Eintrag zu thun, innig verbindet und vereinigt! – Diess sind die Schönheiten, von denen schon Eine hinreichen würde, tausend Fehler zu verhüllen! – Gewiss haben Sie diese empfunden, als Sie mir schrieben! – Dieser Gesang Agamemnon's hat auf mich einen Eindruck gemacht, der bis jetzt mir unbekannt war. Dreimal habe ich eine Bewegung nach vorwärts gethan, ohne zu wissen warum; vielleicht war es ein unwillkührlicher Drang, dein unglücklichen Vater zu Hilfe zu kommen! –

Aber warum sagen Sie nichts von dem Auftreten der Iphigenia? – Wie wirksam ist doch dieser Augenblick, wie sanft der Chor! wie jugendlich – wie frisch – wie jungfräulich – wie verschieden von der vorhergehenden Musik, besonders von der Lage Agamemnon's, der am Rande des Schauplatzes traurige Klagen wimmert, während Alles um die Tochter her frohlockt! –

Der Zuschnitt und die Formen dieses Duetts – ich lasse es zu – sind ganz italisch: allein der Tonsetzer hat diese Formen gehörig zu biegen und den Worten anzupassen gewusst, ohne der Sprache die mindeste Gewalt anzuthun. Diese Art zu entlehnen, mit Geschmack angewendet, macht auf das Ohr denselben Eindruck, den eine glückliche und neue Metapher auf den Geist macht, gleichwie das Antlitz eines schönen Mädchens durch einen fremden und ungewöhnlichen Kopfputz noch reizender wird. Der dialogische Theil dieses Tonstückes verbirgt noch eine andere Absicht, deren Feinheit Ihnen schwerlich entschlüpft seyn wird. Achilles beklagt sich über den Verdacht derIphigenia; diese antwortet ihm in zärtlichster und rührendster Weise; gleichwohl wiederholt Achilles seine Klagen und Vorwürfe: aber Iphigenia lässt ihm keine Zeit, sie zu vollenden; aufgeregt und ungeduldig unterbricht sie ihn inmitten des Verses und nimmt selbst das Wort: denn sie fühlt sich gedrängt, ihren Liebhaber zu besänftigen; sie will eine Sprache nicht mehr hören, die ihr Herz zerreisst; keine Blumen sind so weich, so zart, als das[204] Herz eines jungen empfindenden Mädchens, das zum ersten Mal den Eindrücken der Liebe gehorcht. Tibull, Racine und Fénélon hätten unsern Tonsetzer um eine Bewegung beneidet, die seine Musik hier ausdrückt: denn Gluck hat jenem Theile des Duetts, wo die Stimmen sich vereinigen, die reizendste, den Worten angemessenste Lebhaftigkeit verliehen. Sobald er jedoch zur Anrufung Hymens gelangt, ändert er die Bewegung, und ernste, feierliche Anklänge schneiden den bisherigen fröhlichen und leichten Gesang ab. Diese Anklänge, die übrigens, da sie nicht lange dauern, weder die Einheit der Zeichnung, noch die, in dieser Stelle herrschende Melodie aus unserer Empfindung verdrängen, haben ihm ohne Zweifel nöthig geschienen, um uns theils an die Würde des Stoffes und der Gattung zu erinnern, die er behandelt, theils um die Würde des Charakters und die Lage der handelnden Personen beizubehalten. Nun kommt er zum Duett zurück, und lässt Sie Töne vernehmen, die er gleichsam aus dem Ganzen der Harmonie heraushebt, um eine Oktave höher stellt und mit glänzenden Trillern schmückt, die dem Ohre das sind, was dem Auge das Schimmern des Lichtes ist. Diese Töne schweben auf den Wogen des Orchesters und rufen von Neuem alle Formen des früheren Gesangs hervor.

Die Passecaille ist Eines der schönsten Stücke der Instrumentalmusik im Divertissement. Der Tonmeister hat meines Erachtens den edlen und erhabenen Styl mit dem richtigsten Gefühle durch zwei muntere Tänze gemässigt, die Rameau gern als die seinigen erkannt haben würde. Das Stück, das Sie tyrolisch (?) nannten, ist für Sclaven gesetzt, denen man die Freiheit wieder gegeben hat. Zwar nicht edel gehalten, ist es doch anziehend und wirklich originell; auch die Mannigfaltigkeit der Modulationen, die der Verfasser in sehr kurzem Zeitraume durchläuft, ist rührend. Man ist froh, sich aus dieser Art von harmonischem Labyrinthe wieder zurecht zu finden, nachdem man mehr als einmal in Unruhe war, sich auf immer darin zu verirren. Sie haben gewiss auch die Bemerkung gemacht, dass die Formen des Chores im ersten Akte, der Sie in Staunen versetzte, das wirre und stürmische Gewühl des aufrührerischen[205] Volkes möglichst getreu darstellen. Sollte man den Grund dazu nicht in dem Umstande finden, dass wir bisher gewohnt waren, in unsern Chören eine bis zur Uebertreibung verzierte Musik zu hören? – Denn in unsern meisten Opern sind die Personen des Chors fast immer müssig; ihr Amt ist nur das Amt der Orgelpfeifen, die uns irgend ein schönes Stück zu Gehör bringen. Aber Gluck's Chöre sind mit der Handlung verwebt und treten selbst als handelnde Personen auf; wenn sie jedoch zu sehr figuriren wollen, so verwirren sie den Sinn und verdunkeln die Worte, anstatt sie zu verschönern, oder ihnen einen höheren Ausdruck zu verleihen. Darum hat unser Tonsetzer diese Chöre nicht immer sylbenmässig fortschreiten lassen, sondern auch die Harmonie so viel als möglich zusammengedrängt, damit die Worte sich desto reiner und deutlicher gestalten, und jeder Schein von Kunst und Unwahrscheinlichkeit verschwinde. Bemerken Sie noch den Chor: ›Chantons, célébrons notre reine!‹ – Er ist der einzige, der weder Bewegung noch Handlung hat, aber auch der einzige, dessen einzelne Theile der Künstler in hervorstechender Weise verziert hat.

Ich weiss, dass Leute von Geist behaupten: es gebe in dieser Oper keinen Gesang, weil man in derselben kein einziges Cantabile findet; ja, ich höre sagen, dass diese Behauptung Wurzel gefasst habe: denn man trifft überall viel gute Leute, die stets bereit sind, ihre Gefühle den Meinungen Anderer zu opfern, mögen diese auch von Vorurtheilen befangen seyn. Kommen wir den Schwachen zu Hilfe!

Man muss in jeder Arie die wesentlichen, den Gesang bildenden Noten von den verzierten und den Passagen unterscheiden; in dem Cantabile rückt der Tonsetzer die ersteren in bedeutenden Entfernungen auseinander, um dem Sänger die Freiheit zu ertheilen, sowohl seine Stimme, als seine Fertigkeit im Gesange glänzen zu lassen; diesem zufolge ist das Cantabile nichts als eine ausgedehnte und fliessende Melodie. Um sich hiervon zu überzeugen, richte man seine Augen auf eine Partitur, und man wird finden, dass überall, wo die wesentlichen Noten näher zusammengerückt sind und den Gesang kräftiger[206] und voller machen, die Bässe sich in jedem Augenblicke verändern, anstatt, dass sie im Cantabile drei bis vier Takte lang auf einer Note liegen bleiben. Stücke der letzteren Gattung können ihr vollständiges Glück nur in Italien machen, wo man die Oper besucht, nicht um einer echt dramatischen Handlung beizuwohnen, sondern um ein Conzert zu hören; das heisst, sich an zwei oder drei Arien zu ergötzen, ohne sich weder um das Vorhergehende noch um das Nachfolgende weiter zu bekümmern. In Frankreich hingegen, wo der Zuschauer ein fortgesetztes Interesse verlangt, muss dieses unaufhörlich unterhalten werden. Sie können sich leicht denken, bis zu welchem Grade die Handlung durch ausschweifende und gesuchte Verzierungen gestört und erkältet wird. Was diesen Punkt betrifft, könnte man, meines Erachtens, noch eine weit bessere und einfachere Behauptung aufstellen. Man erinnert sich noch an die Cantabile's des Herrn Gluck zu Rom, Neapel, Mailand, Venedig und Wien. Die Talente der berühmtesten Sängerin, die Italien jemals besass, der Dem. Gabrieli, haben sich niemals vortheilhafter entfaltet, als in Stücken dieser Gattung und in den Tonsätzen unsers grossen Meisters, obschon dieser kein einziges in seine ›Iphigénie‹ aufgenommen hat. Ohne Zweifel hatte er hierzu seine Ursachen, und er blieb auch dabei stehen, dass eben diese Ursachen weit besser, als jene Einwürfe wären, womit wir, die wir weder eine Oper geschaffen haben, noch Tonsetzer und Musiker sind, ihm entgegen treten. Allein nach einigen glücklichen Versuchen hat man allgemeine Grundsätze festgestellt, verbreitet und mit Beifall öffentlich bekannt gemacht. Es würde uns nun zu viel kosten, sie aufzuopfern, und es scheint daher weit rühmlicher und für unsere Eigenliebe schmeichelhafter, diese Grundsätze zu rechtfertigen und zu vertheidigen. O über die eitlen Anforderungen und Bemühungen! Ihr Leute von Geist! Häuft nur eure Bemerkungen, baut Theorien, entwerft Gesetze; ein Mann von Genie wird kommen, wie ein brausender Strom, eure Dämme überschwemmen, mit sich fortreissen und alle Gesetze und Gesetzgeber auf immer zerstreuen.

Als ich nach der vorletzten Probe das Opernhaus verliess,[207] hörte ich einen sogenannten, um seine Meinung über die Oper befragten Kunstliebhaber ganz kaltsinnig antworten: die Musik zu den Balleten scheine ihm sehr unbedeutend zu seyn. Hierbei fiel mir ein, dass ein ähnlicher Kenner der Malerkunst, der nachdem er ein grosses Gemälde von Annibale Carracci lange genug betrachtet hatte, weder von der Schönheit der Erfindung, noch von der Grösse der Anordnung, weder von der Richtigkeit der Zeichnung, noch von der Wahrheit des Ausdruckes, noch von der schönen Vertheilung des Schattens und des Lichtes redete, sondern ganz ernsthaft sich dahin aussprach, dass sich an dem einen Ende der Drapirung einige Falten befänden, die ihm nicht gelungen zu seyn schienen! –

Wenn man an die Stelle der Tänze, deren Charakter jenem des Dramas fremdartig gegenübersteht, und wozu Gluck die Musik nur aus Gefälligkeit componirte, edle religiöse und kriegerische Tänze setzt, wie Noverre sie zu der dichterischen und malerischen Musik desselben Tonsetzers erfunden hat, so wird unser lyrisches Theater das von Athen nicht mehr zu beneiden haben.

Was Sie, Madame, vom Recitative sagen, ist voll Feinheit und Tiefe, und bekundet eine grosse Kenntniss der Sprache und der Musik: allein, wenn man, wie Sie es zu wünschen scheinen, das Tragen der Stimme, die Läufer, Trugschlüsse, Triller u.s.w. in dasselbe einführen wollte, stünde da nicht zu befürchten, dass das wahre Wesen des Recitativs zerstört, und aus demselben wieder der eigentliche Gesang hervorgehen würde? Ja die Deklamation würde von Neuem einen trägen Charakter annehmen und zu jenen Fehlern zurückkehren, die zu verbannen man seit langer Zeit emsig bemüht gewesen ist. – Es gibt in der Musik des Ritters von Gluck drei Gattungen von Recitativen: das erste kommt der Rede gleich, das zweite ist biegsamer und nähert sich mehr dem Gesänge; und endlich das pathetische Recitativ, das man glattweg das begleitete oder obligate nennt. Erlauben Sie mir im Vorbeigehen die Frage zu stellen, ob Sie nicht darüber staunen, dass das reichhaltigste unserer Kunstwörterbücher nicht zugleich auch[208] ohne Seele und Leben ist? – Wenn Sie zugeben, dass Gluck's Recitativ in dem Munde der Dem. Arnould nichts Anziehendes für Sie habe, so werden Sie doch die Beleidigung, die einige Schauspieler Ihrem Ohre zufügen, gewiss nicht auf die Rechnung des Tonsetzers schreiben! In der That überlässt Gluck, um die Einförmigkeit der weiblichen Versausgänge, die immer entweder mit einer matten und einfältigen Haltung der Stimme, oder mit einem, alle Wahrscheinlichkeit zerstörenden Triller verbunden sind, zu vermeiden, nach dem Beispiele der Italiener dem Basse die Obliegenheit, die ganze Phrase zu schliessen; er legt daher auf die vorletzte und letzte Sylbe nicht verschiedene Noten, sondern einen und denselben Ton, und zwar so, dass, indem er den Nachdruck auf den vorletzten wirft, der letzte nur einen schwachen Nachklang gibt, wie es der Charakter der Sprache fordert. Sie werden mir endlich auch zugeben, dass er das Sylbenmass stets heilig beobachtet. Stösst man je zuweilen auf Harmoniengänge, an die unser Ohr noch nicht gewöhnt ist, so muss man sich desshalb an unsere Musiker halten, die, seit dem berühmten Lully, sich beständig in denselben Gränzen bewegt und es für Eine der heiligsten Pflichten gehalten haben, die einmal angeschlagene Modulation möglichst auszudehnen. Dazu gehört aber, besonders bei dem Recitative, wo man der Hilfsquellen eines festen und bestimmten Taktmasses entbehrt, eben so grosse Schnelligkeit in den Veränderungen der Modulation, der Akkorde und der Läufer, als wir sie in den Bewegungen der Seele unsers Tonsetzers wahrnehmen. Und eben darin liegt der wahre Triumph des zierlichen Gesanges, und das einzige Mittel, die musikalische Deklamation zu beleben.

Hier wäre der Ort, Ihnen, Madame, noch ein Wort über die pathetischen Recitative des Agamemnon und der Clytemnestra zusagen, wie nicht minder über das bewunderungswürdige Trio des zweiten Aktes, über das Quartett am Schlusse des Stückes, über den Abschied der Iphigénie, den Zorn des Achilles, die Bewegungen des Orchesters, das Gluck in eine Menge leidenschaftlich handelnder und beredter Personen verwandelte, und endlich über das hohe Verdienst des Ganzen, das unser[209] Publikum, bisher gewohnt, nur einzelne Schönheiten in unsern Opern zu finden, noch gar nicht empfunden hat! Um Ihnen jedoch über alle diese Gegenstände genügend berichten zu können, müsste ich die Partitur vor Augen haben. Ich erlaube mir nur noch zu bemerken, dass es kein Wunder ist, wenn unsere Musiker so lange zögerten, sich mit dem obligaten Recitativ zu bereichern. Die Ursache davon liegt, wenn ich nicht irre, in dem Unterschiede zwischen der Versifikation der Italiener und jener der Franzosen. Wenn der Erstere seine Verse vorträgt, lässt er zwischen den Worten beträchtliche Zwischenräume, deren er sich bedient, die Lage der Personen bald anzukünden, bald zu erläutern, und zu entwickeln; dieses Alles gehört zu den Verrichtungen des obligaten Recitativs. In der französischen Versart dagegen, wo ein Zusammenstoss von Worten, die sich durch Vokale berühren, nicht gestattet ist, fliesst oft ein Wort in das andere, und Beide bilden gleichsam ein Ganzes; der Tonsetzer hat sich daher lange auf eine bloss einfache Begleitung der Worte beschränken müssen. Diese Ansicht würde noch mancher Erläuterung bedürfen, was jedoch um der Bequemlichkeit willen, besser für eine mündliche Besprechung, als für diesen ohnehin schon zu langen Brief verspart werden soll. Ueberdiess verlässt mich mein Kopf, die Ideen ersterben, und nur Ihre Gegenwart wird im Stande seyn, sie wieder zu beleben.

Ich habe die Ehre zu seyn, etc.«


Der Stoff zu dieser Oper enthält folgende ergreifende Handlung. Das Heer der Griechen ist bereit, nach Troja hinüber zu schiffen, um die, durch den Raub der Helena dem Vaterlande widerfahrene Schmach zu rächen. Es wird jedoch von einer langwierigen Windstille zurückgehalten, weil Agamemnon im Haine derDiana eine Hirschkuh getödtet und sich dadurch den Zorn der Göttin zugezogen hatte.

Calchas, der Oberpriester, muss das Orakel befragen. Das Schreckenswort lautet: die Göttin könne nur durch das Blut[210] einer reinen Jungfrau und zwar der Tochter des Königs der Könige selbst, der Iphigenia, versöhnt werden. Heldenruhm, Kriegerehre und Vaterlandsliebe kämpfen in des Königs Herzen, als Clytemnestra mit der jungen, in allen Reizen der Schönheit prangenden Tochter das Lager betritt, um sie mit dem Helden Achilles zu vermählen.

Das ungeduldige Heer verlangt das Opfer; alle Gegenvorstellungen sind fruchtlos. Die Unschuld ergibt sich, um der Herrlichkeit ihres Vaterlandes willen, fromm und muthig ihrem Schicksale und nimmt den rührendsten Abschied von der trostlosen Mutter und von ihrem Geliebten, der, vor Wuth entbrannt, sie zu retten trachtet.

Schon soll sie, am Altare knieend, den Todesstoss empfangen, als die Göttin dem Priester das Zeichen zur Versöhnung gibt, und Achilles seine Braut von der Stätte des Todes führt und nach Scythien bringt.20

Dem griechischen Dichter zufolge wird Iphigenia von der Göttin selbst in einer Wolke nach Tauris entführt, wo sie als Priesterin dienen muss.

Das Drama gehört zu den schönsten des Euripides; er hat die vier Charaktere, besonders jenen derIphigenia als grosser Meister vortrefflich gezeichnet; die Franzosen haben jedoch der Erhabenheit der Letzteren grossen Abbruch gethan und sind dadurch an Natur und Darstellung weit hinter dem Griechen zurückgeblieben. Doch was die Franzosen fehlten, suchte der Genius des grossen Tonsetzers zu verbessern.

Schon die Ouverture: Andante in C min. Elfter Abschnitt Takt, für Streichquartett, Oboi, Flauti, Corni, Fagotti, Trompetten und Pauken gesetzt, gehört zu den Mustern ihrer Gattung; sie gleicht dem gewaltigen Polyphem, der sich voll Zorn zum Kampfe rüstet. Der neue, reizende Eingang, der die Gefühle Agamemnon's ankündigt, dann die Einheit im Ausdrucke des wilden Charakters eines tobenden Volks, dazwischen die rührenden, zärtlichen und[211] tragischen Anklänge, verleihen ihr einen Vorzug vor jeder andern: denn Alles ist in ihr bedeutungsvoll.

Der Satz, wo die Instrumente sich in den Einklang stürzen,21 und dann in Oktaven furchtbar aufsteigen, stellt das empörte Volk, das den Zügel verläugnet, vortrefflich dar.

Forkel'n, der nichts als Noten vor Augen sah, war der Geist der Schöpfung wunderbarer Weise gar nicht erschienen: darum schrieb er folgendes, sich selbst zur Schande gereichendes Urtheil nieder: »Diese Ouverture,22 die allen Kompositoren als Muster einer wahren Ouverture vorgestellt wird, kann auf keine Weise eine Ouverture seyn, weil sie von dem wahren, charakteristischen Gepräge derselben nicht das geringste hat; wir müssen sie also mit in die Gattung der Symphonien aufnehmen, können, aber nicht umhin, zugleich anzumerken, dass sie selbst in dieser Klasse keinen hohen Rang verdient.« (!!!) u.s.w. Forkel sagt aber nicht, warum diese Ouverture keine Ouverture sei. – Ferner spricht er: »Die abgestossenen acht Achttheile gegen die folgende, sforzando gehaltene Dreiviertelnote, u.s.w. haben so wenig metrischen Verhalt und plumpen so ungeschickt auf einander, dass man glauben muss, der Herr Ritter habe uns ein Beispiel eines musikalischen Satzes geben wollen, durch den man Jedermann stutzig machen könne. Auch haben wir die Probe damit gemacht, und befunden, dass er seine vollkommene Wirkung thut, und richtig Jedermann zum Erstaunen bringt. Diese Wirkung äussert sich gewöhnlich zuerst durch die mit einem verwunderungsvollen Tone ausgesprochene Frage:. Was? ist das möglich?« – Und so geht es durch die ganze Kritik dieses Tonsatzes fort.

Diesen Bemerkungen Forkel's braucht man nur noch hinzuzufügen: Können Griechen so barbarisch seyn, eine reizende, junge Königstochter abschlachten zu wollen? – sich zu empören[212] gegen ihren Heerführer, den Vater, und gegen den grössten Helden, den Verlobten derselben, weil ihnen zur Abfahrt der Wind ausbleibt? –

Unserer Meinung nach kündigt diese Symphonie mit hoher tragischer Majestät zuerst in der Wehmuth der Dissonanzen, dann in der grössten Fülle, und Stärke breiter Tonmassen den Inhalt des Ganzen an. Sie ist viel ausgebildeter und leidenschaftlicher als jene zur »Alceste.« Der Anfang ist traurig in C min. (19 Takte lang); ihm folgen C maj. in wilder Stärke und grösster Masse 30 Takte nach einander; dann G maj., G min., A min., mit den kläglichen Anklängen der Hoboe dazwischen, bis durch die Tiefen der Harmonie neuerdings mächtig die grosse C Tonart herrscht; und so fort G maj., C min., wie Anfangs, und endlich noch einmal C maj.23

Der Uebergang in der 1. Scene zu den Worten, welche Agamemnon an die Göttin Diana richtet: »Diane impitoyable! envain vous l'ordonnez« – lautet gerade, wie der Anfang der Ouverture, jedoch in G min.; er hält die grosse Masse vortrefflich zusammen. Agamemnon wendet sich dann an den Sonnengott: »Brillant auteur de la lumière« – Moderato in G maj. Elfter Abschnitt Takt mit Streichquartett und Fagotti; er beschwört ihn, den treuen Arcas auf dem Wege nach Mycenae zu leiten. Dieses Arioso geht dann in ein Recitativ über. Agamemnon will durch die Absendung seines Vertrauten die Ankunft der Mutter und Tochter verhindern, weil Achilles eine andere Verbindung schliessen wolle, und dass sie desshalb umkehren sollen. Die Musik ist voll wahren Ausdrucks und edler tragischer Haltung.

Die 2. Scene: »C'est trop faire de résistance; il faut des Dieux irrités nous réveler les volontés, o Calchas, rompez le silence!« – Allegro in G maj. Elfter Abschnitt Takt, mit Streichquartett, Oboi, Flauti undCorni – ist das Meisterstück des I. Aktes. Ein Chor von Griechen kommt mit dem Oberpriester Calchas; sie drängen[213] ihn, den Willen der Götter, der ihnen noch unbekannt ist, zu offenbaren. Melodie, Harmonie und Rhythmus drücken den Ungestüm des jungen und raschen Helden in hoher Vortrefflichkeit aus; es ist dem Tonstück eine reizende Behendigkeit aufgeprägt; die Worte werden in passendster Weise wiederholt und zweckmässig in den Stimmen vertheilt: »Pourquoi me faire violence?« – Calchas muss das Orakel enthüllen, verschweigt jedoch noch den Namen des Opfers. »D'une sainte terreur tous mes sens sont saisis« – Andante in G min. C Takt, dannModerato in Es min. C Takt. Die Musik geht in das Gebiet des Hochtragischen über und erreicht an manchen Stellen den Schwung des Erhabenen. Die Begleitung der Violinen und Hörner verstärkt mächtig den Ausdruck dieses Recitativs und der Schluss, wo Agamemnon die Worte des Calchas: »O divinité redoutable!« – unterbricht, ist wahrhaft erschütternd.24

Der folgende Chor: »Nommez nous la victime et prompts à l'immoler sur les autels des Dieux, tout son sang va couler« – Presto in C min. Elfter Abschnitt Takt – wird feuriger, und die Stelle: »O Diane, sois nous propice!« – schliesst denselben mit eifriger Inbrunst. Die verminderte Septime bestimmt den Accent der Leidenschaft. Calchas verspricht den Griechen, sie noch am nämlichen Tage zu befriedigen, und das Volk zerstreut sich.

In der 3. Scene bleibt der Priester bei Agamemnon zurück und stellt ihm die Wuth der Griechen und den Zorn der Götter vor: »Ach, rede mir nicht von diesen Göttern, die ich hasse« – antwortet der Fürst. Auf dieses Wort nennt der fanatische Priester seinen Herrn verwegen; er gibt ihm die Rache des Himmels zu bedenken, deren Wirkungen man durch schleunigen Gehorsam zuvorkommen müsse. Die, dem kurzen, begleiteten Recitative zwischen Calchas undAgamemnon folgende Arie des Letzteren: »Peuvent-ils ordonner qu'un père présente à l'autel« etc.Andante in C min. Elfter Abschnitt Takt, mit Streichquartett, Oboi und Flauti – ist ein heftiger Erguss des gepressten Vaterherzens und[214] ein gediegenes Muster schöner Deklamation und tiefen Verständnisses des Dichters, rein in Melodie und Harmonie. Die Worte: »Est si tendre – à cet ordre inhumain« – sind meisterhaft bezeichnet, so wie die Klage und der Schmerz des Vaters über den drohenden Verlust der geliebten Tochter in der Stelle: »J'entends rétentir dans mon sein le cri plaintif de la nature« – durch die wehmüthigen, abwechselnden Töne der Oboe und des Fagotts unbeschreiblich rührend ausgedrückt sind. Es ist wahre leidenschaftliche Beredsamkeit, die zur Versinnlichung und Rührung das Ihrige beiträgt.25 Ein Recitativ macht den Schluss.

In der 4. Scene: »Clitemnestre et sa fille, o Dieux!« – Chor, Presto in C maj. Elfter Abschnitt Takt, mit Streichquartett, – eilt das Volk gleichsam im Fluge herbei und jubelt über die Ankunft der Mutter und der Tochter zu Agamemnon's Entsetzen. Der darauf folgende Chor: »Que d'attraits, que de majesté!« – Andante grazioso in C maj. 3/4 Takt, mit Streichquartett, Oboi, Clarinetti, Flauti und Corni – steht mit dem früheren in einem freudigen Gegensatze und gewährt das rührendste und ergreifendste Schauspiel;26 denn in der

5. Scene, und inmitten des Chores kommen unter Gesang und Tanz, so wie bei Euripides, auf einem antiken Wagen, Clitemnestre und Iphigénie, umringt von unzähligem Volke, das begierig ist, die Gemahlin und die Tochter des Königs der Könige zu schauen. Die Erstere, nun mit ihrer Tochter vom Wagen herabgestiegen, unter dem Zurufen der Griechen und der Einwohner von Aulis, sucht nachAgamemnon, den sie nirgends erblickt, ob er ihren Gruss empfangen wolle. Die jungen Griechinnen umgeben während dessen Iphigénie und setzen das Fest fort; aber die junge Fürstin fragt bei Allem, was sie sieht, nur nach Achilles. »Die Wünsche, mit welchen das Volk mich ehrt« – sagt sie: »Peuvent-ils flatter mes souhaits? Achille à mes yeux inquiets ne s'offre point.« –[215]

Bei der Musik zu den Balleten in den französischen Opern, welche die Aufmerksamkeit auf das Ganze gewöhnlich zerstreuen, und in denen, der französischen Sitte gemäss, die Formen streng beobachtet werden müssen, hat Gluck's hoher tragischer Genius sich glücklich durchgeholfen, und es finden sich schöne Melodien voll Rhythmus in diesen seinen Tänzen, namentlich in der meisterlich ausgearbeiteten Passecaille des Ballets im II. Akte. Er entlehnte Manches dazu seinen älteren Werken. Es sind heitere, blaue Flecken zwischen Gewitterwolken, sagt Heinse.

Bei einem Ruhepunkte des Ballets hört man zuerst die Stimme der Iphigénie in Tönen voll Grazie zur natürlichen Empfindung: »Les voeux, dont ce peuple m'honore« – Andante in D maj. 3/4 Takt, mit Streichquartett. Hohe Wahrheit und tiefer Ausdruck der Leidenschaft waltet in diesem Gesange, rein und jungfräulich spricht sich darin ihre Freude aus, vermischt mit der Sehnsucht nach dem Geliebten. –

In der 6. Scene kehrt die Mutter höchst aufgeregt zurück, zerstreut das Volk, und bringt in einem begleiteten Recitative: »Allez, il faut sauver notre gloire« – die verhasste Nachricht, dass Achilles eine Andere liebe. Sie muntert ihre Tochter zur Standhaftigkeit auf und sucht sie, nach einem kurzen Recitative, in einer Arie voll Heftigkeit zum Zorne anzufeuern: »Armez vous d'un noble courage!« – Allegro inF maj. Elfter Abschnitt Takt, mit Streichquartett und Corni. Diese Arie ist ein Muster origineller, rhythmischer Kunst und Malerei der Wuth gereizter Leidenschaft und des Stolzes. Clitemnestre fordert ihre Tochter zur Abreise auf und lässt sie dann allein.

Nun folgt die 7. Scene, eine Scene voll schöner Weiblichkeit und wahren Ausdrucks des Schmerzes über getäuschte Liebe: »L'ai-je bien entendu?« – vom Streichquartett begleitet.

Die 8. und 9. Scene: Achilles erscheint und verwundert sich über ihre Ankunft: »En croirai-je mes yeux, ô ciel, vous en Aulide!« – mit Streichquartett. Sie empfängt ihn kalt; den zärtlichen Thränen der beleidigten Geliebten folgt Unwille: »Un autre objet a sçu te plaire, Parjure, tu m'oses trahir!« – Er erstaunt und widerlegt Iphigeniens edle Vorwürfe. Die Nachricht[216] der Mutter klärt sich als falsch auf; die Königstochter entschuldigt sich voll Zärtlichkeit über seine leidenschaftlichen Entgegnungen, und der seelenvolle Accent ihres schönen Charakters herrscht in ihren Melodien. Sie versöhnen sich und Beider Liebe lodert neu in hellen Flammen auf: »Ne doutez jamais de ma flamme!« – Andante in D maj. C Takt, mit Streichquartett. Dieser interessante Auftritt enthält eine Arie und ein Duett von grösster Schönheit und glücklichster Abwechslung. Wie zart ist in dem Duette der Ausdruck der jungfräulichen, schüchternen Liebe Iphigeniens zu Achilles ausgedrückt! –

Der II. Akt, (1. Scene) beginnt mit dem natürlichen und melodischen Gesänge eines Frauenchors; ihm folgt eine herrliche Arie, in der die junge Fürstin die Unruhe und Bewegung ihrer, zwischen Furcht und Hoffnung schwankenden Seele malt, »Par la crainte et par l'espérance« – Moderato in F maj. Elfter Abschnitt Takt, mit Streichquartett.

In der 2. Scene kommt die Mutter dazu, bestärkt ihre Tochter in der Hoffnung, welche die Frauen ihres Gefolges ihr gemacht haben, und verkündigt, dass die Vermählung sogleich gefeiert werden soll.

3. Scene. Eben so erfreut erscheint Achilles mitPatroclus; er befiehlt den Thessaliern und Lesbischen Sklaven, seinem Gefolge, ihre Königin zu besingen. Alles ist voll Freude und Jubel, der sich in Chören und Tänzen ausspricht. Eben hier ist die meisterhaftePassecaille angebracht. Der zweite Feierchor ist eben so natürlich als der erste. Ein Quartett mit Chor beschliesst diese Scene: »Jamais à tes autels le plus saint de sermens« – Maestoso in F maj. C Takt.

Gluck hat auch in dieser Oper seine Hauptkraft stets in das Wesentliche gelegt und dieses dann in höchster Vortrefflichkeit dargestellt.

Die Katastrophe beginnt in der 4. Scene. Recitativ und Quartett: »O désespoir, ô crime futil!« – inEs maj. 2/2 Takt; dann wieder Recitativ und endlich das grosse Trio: »C'est mon père, Seigneur!« – in C maj. Elfter Abschnitt Takt, mit Streichquartett, Oboi, Corni undFagotti. Arcas kommt nämlich und hält den Achilles[217] auf, der die Fürstin zum Tempel zu führen im Begriffe, steht; er unterrichtet ihn, dass ihr Vater sie nur erwartet, um sie zu opfern, und dass die Vermählung nur ein Vorwand war. Dieser Theaterstreich, derselbe wie in Racine's Tragödie, bringt eine hohe Wirkung hervor, die sich in Staunen und Entsetzen äussert. Die Thessalier schwören, dass sie in der Vertheidigung ihrer Herrin sterben wollen. Clytemnestra fällt dem Achilles zu Füssen und singt mit grösster Kraft die Arie: »Par un père cruel à la mort condamnée.« – Der Ingrimm, die Drohungen des Achilles, die Bitten der Iphigénie, welche ihren Vater zu vertheidigen sucht, bilden ein, des grossen Tonsetzers würdiges Gemälde. Er ist hier ganz Maler in seiner Kunst! Achilles verspricht der Prinzessin, dass er sich massigen und ihren Vater schonen werde. In diesem Trio voll Leidenschaft strömen die Gefühle gegen das Ende, wo Worte nichts mehr sagen und helfen, in blossen gehaltenen Tönen dahin.

Achilles verlässt Beide mit den Worten: »Devoué à ma rage un inhumain sans foi, ô ciel« – und fordert in der darauf folgenden 5. Scene den Patroclus auf, ihm zu folgen. Dieser erwidert: »Et que voulez vous faire? voulez vous, n'écoutant qu'un aveugle transport, aussi cruel que les Dieux et son père, voulez vous lui donner la mort?« – Diese Frage versetzt jenen in Bestürzung; er ruft aus: »Quoi? moi?« – und fährt nach kurzer Ueberlegung mit den Worten der Arie fort: »Cours et dis-lui qu'elle n'a rien à craindre.« – Melodie und Harmonie sind entzückend und schildern den Charakter des Helden in seiner ganzen Liebenswürdigkeit. Die kleine Arie, Allegro in G maj. Elfter Abschnitt Takt, von einem, zehn Takte langen Adagio unterbrochen, gehört, nebst Iphigénie's Abschiedsgesang, zu den schönsten Sätzen der Oper. Sie hat, wegen ihrer Kürze, nur den Fehler eines schnell vorübergehenden Reizes; konnte aber auch, ihrer Natur nach, nichts anderes seyn.

6. Scene. Achilles stösst auf Agamemnon; sie gerathen (Recitativ) heftig an einander; sie reizen und bedrohen sich, und werden noch heftiger im Duette: »De votre audace teméraire j'arrêterai le cours« –Presto in F maj. Elfter Abschnitt Takt, mit Streichquartett, [218] Oboi und Corni. Nichts gleicht diesem Tonstück an leidenschaftlicher Wirkung! Alles ist naturgemäss; Agamemnon nimmt weder Drohung noch Vorschriften an, und Achilles herrscht ihm beim Abgehen in einem Recitative zu, dass man ihm eher das Herz zerstücken müsse, bevor er seine Geliebte geopfert sehe.

Die 7. Scene ist das wichtigste Stück des ganzen II. Aktes. Es malt den Vater und Heerführer im rührendsten Bilde. Ueber Achilles in Zorn entbrannt, will nun Agamemnon die Opferung der Tochter beschleunigen, und ruft die Krieger herbei: aber er fasst sich wieder; die Natur spricht; er fühlt ganz die Furchtbarkeit der That, die er begehen will; er hört das Geschrei und Zischen der Eumeniden: »O Dieux que vais-je faire? C'est ta fille!« – Doch bei der stürmischen Abwechslung seiner Gefühle erwachen Stolz und Zorn auf's Neue: »Faut-il sacrifier l'intérêt de la Grèce, faut-il d'Achille endurer le mépris?« – Der Kampf wird stärker: doch die Natur siegt. Bei der lebhaften Vorstellung der grausamen Handlung regen die Gewissensbisse sich in ihrer ganzen Schrecklichkeit; er schickt seinen Getreuen ab, damit er Mutter und Tochter sogleich heimlich aus dem Lager entferne. Das begleitete Recitativ und die darauf folgende Arie: »O toi, l'objet le plus aimable« – bilden, sammt ihrem, der Situation höchst angemessenen Rhythmus, ein vollendetes Meisterstück, das als der Kern und das Herz der Oper angesehen werden kann.

Dieser Abschnitt gereicht den Gaben des Dichters zur Ehre; aber wir haben kein Wort, um eine Vorstellung von den Wirkungen zu geben, die für die Musik Gluck's massgebend wäre. Die Furien selber sind es, die man hört; es ist der Schauder des, mit dem Blute der Iphigénie beströmten Altars, den dieser Maler so darstellt, dass selbst die, dem Schrecken und dem Mitleiden nur wenig zugänglichen Seelen zermalmt werden. Agamemnon's Ingrimm ist verschwunden; er ertheilt Befehle zur Abreise der Tochter; da verbreitet sich die süsseste Ruhe über sein Herz. Eine gefühlvolle, zärtliche Harmonie folgt auf das Zischen der Eumeniden und lässt auch in den Seelen der Zuschauer[219] am Ende dieses erstaunenswerthen Aktes eine angenehme Ruhe zurück.

III. Akt. 1. und 2. Scene. Man widersetzt sich der Flucht der Prinzessin; sie erscheint umringt von einem barbarischen Volke, das ihren Tod verlangt: »Non, non, nous ne souffrirons qu'on enlève.« – Kurzer Chor, Presto in G maj. Elfter Abschnitt Takt, mit Streichquartett und Corni. Nun folgen die schönen Scenen der jungen Heldin; sie bittet Arcas, sie nicht länger vergebens zu vertheidigen; sie bittet auch, dass man ihre Mutter entferne, und willigt in das Opfer, das die Götter fordern. Der Chor wird wiederholt.

3. Scene. Achilles kommt, ihr seinen Beistand anzubieten; er will sie durch das tobende und wüthende Volk führen; sie weist ihn aber mit Edelmuth und Zärtlichkeit zurück, weil ihr Schicksal entschieden sei; die zärtlichste Leidenschaft habe ihm ihr Leben geweiht, und es sei ihr aus diesem Grunde theuer: allein: »Il faut de man destin subir la loi suprême.« – Es ist die erste Arie, Andante in B maj. Elfter Abschnitt Takt, mit Streichquartett und Corni, voll harmonischen, tragischen Seelenklanges, und gleichsam die Einleitung zu einer andern, einem kurzen Recitative folgenden, worin sie mit höchst rührender, wehmüthiger und melodischer Zärtlichkeit von ihm Abschied nimmt: »Adieu! conservez dans votre âme le souvenir de notre ardeur!« – Moderato in Es maj. 3/4 Takt, mit Streichquartett und Fagotti.

Es ist diese Musik aus den lebendigsten Quellen der Natur geschöpft, ewig schön und entzückend. Die Töne sind aus dem Innersten der Situation hervorgezaubert, sagt Heinse, und die Worte darin glänzen wie Perlen, in denen der Adel des Charakters und das bittere Gefühl der Trennung vereinigt sind.

Von der lyrischen Erhabenheit der Iphigenia des griechischen Dichters wird nur Folgendes in der Recitation beibehalten: »Partez, Seigneur, la gloire vous appelle; elle offre à vos régards la carrière immortelle où vous devez courrir; ma mort seule peut vous l'ouvrir. – Avez-vous crû qu'Iphigénie put oublier sa gloire et son devoir? ils lui sont plus chers que la vie!« –

[220] Gluck hat dieses ganz flüchtig behandelt, weil es nicht wohl zur höheren Kultur der französischen Iphigénie passte, bei welcher, sowie bei der Mutter und dem jungen Helden, man nur zu deutlich merkt, dass sie an die Gottheit der Diana nicht glauben.

Durch das unschuldige, so tief eindringende: »N'oubliez pas qu'Iphigénie, digne d'un moins funeste sort, pour vous seul chérissoit la vie« – in dem zweiten Theile der obigen Arie: »Il faut de mon destin« etc. – wird Achilles zur Wuth getrieben, die hier meisterhaft bezeichnet ist. Er will zum Tempel eilen, und dem Streiche zuvorkommen, der ihr droht, und verlässt sie mit den Worten: »Calchas d'un trait mortel percé sera ma première victime.« – Es ist dieses eine heroische Arie, Allegro in D maj. Elfter Abschnitt Takt, mit Streichquartett, Oboi, Flauti, Corni, Trompetten und Pauken. Die Melodie zu derselben hat den Flug und das Feuer des Blitzes, und die Harmonie sämmtlicher Instrumente offenbart die fürchterlichste Grausamkeit und Stärke der Schlacht zu Mord und Verderben.27

Von der 4. bis 8. Scene wird das Schauspiel immer ergreifender. Zitternd sieht Iphigénie den Helden ihren Augen entschwinden, und bittet die Götter, den Mord und das Verbrechen abzuwenden. Der Chor der Griechen will seinen Göttern das Opfer bewahren, und sie mit Gesängen zu dem am Gestade des Meeres errichteten Altare begleiten. Clytemnestra, voll des Jammers, hört es, und sagt zu ihnen, sie sollen kommen, um sie in ihren Armen zu opfern. »Lebe fürOrest, meinen Bruder!« sagt Iphigénie zu ihrer Mutter, die von den Qualen, die sie leidet, überwältigt, in die Arme ihrer Frauen sinkt. Iphigénie benützt den Augenblick ihrer Ohnmacht, um sich zu entfernen.Clytemnestra, zu sich gekommen, will ihrer Tochter folgen; man widersetzt sich ihrem Abgang; neues Geschrei, neues Wüthen – sie hört die Gesänge aus der Ferne; ihre Angst verdoppelt sich, und sie überwältigt alle Hindernisse.[221]

Die Gesänge nähern sich; der Auftritt ist am Meeresufer vorgegangen, wo man einen Altar sieht, denIphigénie umfasst. Calchas, das Messer in der Hand, bittet die Göttin, die Schiffe der Griechen nicht länger aufzuhalten, um den Preis des Blutes, das er vergiessen wird. Agamemnon bleibt unsichtbar, der ohne Zweifel dieses schreckliche Schauspiel nicht ertragen kann. Der Dichter hat darin dem Maler nachgeahmt, der, weil er den Schmerz des Vaters nicht zu malen vermochte, dessen Angesicht verschleierte.

Achilles, gefolgt von seinen Thessaliern, kommt voll Wuth herbei, reisst das Opfer vom Altare und legt es in die Arme der Clytemnestra. Das Volk erhebt sich, man hört einen Donnerschlag, und – der Altar verschwindet. Calchas erklärt, dass der Wille der Götter befriedigt sei. Das Meer rauscht auf, die Winde verkündigen die Abfahrt, und der Chor besingt die Milde und Güte der Götter.

In diesem, mit Gesängen untermischten Divertissement wird das ungehoffte Glück des Agamemnon, der Clytemnestra, der Iphigenia und des Achilles ausgedrückt. Das Ganze wird von einem wilden Kriegsgesang, in der heroischen Stärke von lauter Oktaven beendet; Hörner und Trompetten schmettern in Racheschnaubenden Anapästen den Schluss.28 Es ist ein bezauberndes Quartett; aber man hatte gewünscht, dass Eines der griechischen Spiele die Seele des Balletes gewesen wäre, das den verständigen Zuschauern viel zu französisch erschien. Die Herabkunft der Göttin konnte vielleicht eben so sehr der Entwicklung[222] selber, als des Brandes wegen gedichtet werden, wodurch der Holzstoss in Flammen gesetzt und der Altar umgestürzt wird. Die That des Achilles, der das Opfer hinwegreisst, ist nicht geeignet, um eine heidnische Gottheit, die darin stets eifersüchtig und empfindlich ist, zu versöhnen. Es wäre eine Verbesserung ganz am Orte, indem man zeigte, wie Achilles droht und bereit ist, die Ehrfurcht vor dem Altare zu verletzen, worin er aber durch die plötzliche Herabkunft der Diana aufgehalten wird, welche selbst der Iphigenia die Gnade verkündigt. Man hat hier keinen Missbrauch der Mythologie zu fürchten, Diana handelt in der Tragödie stets aus dem Hintergründe; es wäre erlaubt, sie in dem Augenblicke erscheinen zu lassen, in dem sie vergibt.

Gluck unterscheidet sich in diesem Werke vor Allem durch die innere Form desselben, die einen ganz eigenthümlichen Reiz besitzt, der in dem bestimmten Fortschreiten der, vom feierlichen Schritte der Priester und Könige bis zur Eile des Blitzes, alle Grade durchlaufenden Maasse der Bewegung gegründet ist.

Auch die Charaktere der handelnden Personen sind vortrefflich gehalten. Im herrlichen Gegensatze mit der jungfräulichen Iphigenia steht ihre Mutter, die leidenschaftliche, stolze Clytemnestra. Erhaben und ehrwürdig erscheint uns durchaus Agamemnon, undAchilles erglüht im steten Heldenfeuer.

Der Tondichter hat die Natur in allen ihren Richtungen belauscht, und sein Genius war es, der ihr nachzuahmen verstand.

1

S. »Mémoires pour servir à l'histoire de la Révolution operée dans la Musique par M. le Chevalier Gluck.« A Naples et à Paris, 1781. 8. p 1–7. und: deutsch von J.G. Siegmeyer, mit dem Titel: Ueber Gluck und seine Werke. Briefe von ihm und andern berühmten Männern seiner Zeit etc. Aus dem Französischen. Berlin, 1823. gr. 8. S. 1–7.

2

Es war »Orfeo.«

3

S. die obigen Mémoires pour servir etc. etc. pag. 8–10, und in Siegmeyer's Uebersetzung derselben S. 6–8.

Auch Forkel hat diesen Brief, mit spottvollen Anmerkungen versehen, in seinen musikalischen Almanach auf das Jahr 1789 aufgenommen.

4

S. Studien für Tonkünstler. Herausgegeben von E.A. Kunzen und J.F. Reichardt. Berlin 1793. 4. S. 67. Letzterer hat diese Notiz aus D'Auvergne's und Du Rollet's Munde.

5

Böhmischbrod ist ein, vier Meilen südwestlich von Prag entferntes Städtchen, woselbst sich immer gute Musiker befanden.

6

»Lettre d'un Symphoniste de l'Acad. R. de Musique à ses Camérades de l'Orchestre.«

7

S. Castil-Blaze. De l'Opéra en France. T.I. – Auger, St., Physiologie du Théâtre. Vol. III. – und Cramer, C.Fr. Kurze, Uebersicht der Geschichte der französischen Musik. Berlin 1786. 8. –

8

S. Garat; D.J., Mémoires hist. sur le 18. siècle et sur M. Suard. II. Edit. Paris 1821 8. T. II. p. 230 u.s.w.

9

Gluck hatte wohl Recht zu versichern, dass, wenn er für die Komposition einer Oper 20 Livres verlangen würde, er für die Mühe, sie aufführen zu lassen, verhältnissmässig deren 20,000 haben müsse. (Diesen Ausspruch Gluck's hat uns der Vater der blinden Klavier-Virtuosin Fräulein von Paradies aufbewahrt.)

10

S. Reichardt's Studien für Tonkünstler. II. Halbjahr. S. 72.

11

Der Titel der zu Paris gestochenen Oper lautet: »Iphigénie en Aulide, Tragédie Opéra en trois Actes; dédié au Roy par M. le Chevalier Gluck. Représenté pour la première fois par l'Académie royale de Musique le mardi 19. Avril 1774. Gravé par le Sr. Huguet. Prix 24 Fr. à Paris, chez le Marchand md. de musique, rue Fromenteau. Et à l'opéra A.P.D.R.« – In Folio, 298 Seiten mit der Silhouette des Tonsetzers. –

12

S. Grimm et Diderot. Correspondance. II. Edition. Tome VIII. p. 320.

13

Delle Sophie Arnould, geboren zu Paris im Jahre 1744, war nicht nur als eine ausgezeichnete Sängerin, sondern auch als eine Person berühmt, welche die Gabe des Witzes im hohen Grade besass. Sie starb im Jahre 1803.

14

Larrivée, Henri, geboren zu Lyon im Jahre 1733, war in der Gluck'schen »Iphigénie en Aulide« als Agamemnon berühmt. Als Sänger und Schauspieler durch 32 Jahre thätig, schied er im Jahre 1832 aus dem Leben mit dem Ruhme eines grossen Künstlers.

15

Legros, Joseph, dieser hohe Tenor, oder Contre-Altist in der Pariser grossen Oper, wurde im Jahre 1739 zu Monampteuil geboren und war Jeliotte's Nachfolger. Im Jahre 1777 befasste er sich mit der Unternehmung des Concert spirituel und suchte nichts zu sparen, um die grössten Künstler Europas dafür zu gewinnen. Auch Mozart arbeitete für ihn während seines Aufenthaltes in Paris.

16

In späteren Darstellungen wurden die gerügten Fehler bedeutend verbessert.

17

Dieses, von M. Suard und Abbé Arnaud geleitete Journal erschien vom Mai 1764 bis März 1784 in 120 Bänden, und war der rühmlichste Vertreter der Gluck'schen Muse.

18

Gazette littéraire de l'Europe. Année 1774; ferner: Arnaud Oeuvres. Vol. II., – und Mémoires pour servir à l'histoire de la Révolution opérée dans la Musique par M. le Chev. Gluck. p. 29 etc.

19

Ein Sylbenfuss in der Prosodie, der aus zwei kurzen und einer langen Sylbe besteht (v v –).

20

S. Heinse's »Hildegarde v. Hohenthal.« Berlin 1814. 8. II. Thl. S. 362.

21

Diese Phrase, deren der Abbé Arnaud sich ganz richtig in seinem Schreiben an Mad. D'Augny bedient, ist von Laharpe und nach ihm von dem Deutschen Forkel später in der gehässigsten Weise bekrittelt und belacht worden.

22

S. Forkel's Musikalisch-kritische Bibliothek. I. Bd. S. 131 etc.

23

Mozart hat, von diesem Tonstücke bezaubert, einen Schluss dazu gemacht, ganz in Gluck's Geiste, wahrhaft erhaben, und zum Triumph über alle Symphonien in Conzerten, wo sie seitdem häufig zur Aufführung gebracht wird.

24

Forkel findet dieses Stück viel zu unbedeutend, als dass er auch nur eine Spur von Schönheit darin entdeckte.

25

Forkel nennt alle diese Schönheiten, welche der Abbé Arnaud als solche bezeichnet, lauter Phantasmata, die nur in einer besonderen Gemüthsverfassung demselben angedichtet werden.

26

Forkel lässt einmal dieser Stelle Gerechtigkeit widerfahren.

27

Diese Arie entzückte Alles, besonders den kriegerischen Theil des Publikums, und – entschieden war Gluck's Sieg! –

28

Dem weisen Forkel gefällt es, diesen Gesang als plump und schwerfällig zu bezeichnen; übrigens lobt er doch Manches, aber sein Lob hat meistens einen nachhinkenden Tadel im Gefolge. »Unter den Arien,« meint er zuletzt, »finden sich einige, die wir in Absicht auf Bewegung und Ausdruck gerne für schön anerkennen möchten, wenn nicht immer so viel Gemeines und Niedriges im Style dazwischen käme, und die gute Wirkung jener Vorzüge verhinderte!« – Die einzige Abschiedsarie der Iphigénie: »Adieu, conservez« – hält er für ein vollkommenes Meisterstück, und der Passecaille, so wie den übrigen Tanzstücken zollt er vollen Beifall, findet jedoch für das Gelingen dieser Nummern wieder seinen Grund in den, allen Tanzstücken vorgezeichneten eigenthümlichen Rhythmen.

Quelle:
Schmid, Anton: Christoph Willibald Ritter von Gluck. Dessen Leben und tonkünstlerisches Wirken. Leipzig: Friedrich Fleischer, 1854., S. 171-223.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

Der grüne Kakadu. Groteske in einem Akt

In Paris ergötzt sich am 14. Juli 1789 ein adeliges Publikum an einer primitiven Schaupielinszenierung, die ihm suggeriert, »unter dem gefährlichsten Gesindel von Paris zu sitzen«. Als der reale Aufruhr der Revolution die Straßen von Paris erfasst, verschwimmen die Grenzen zwischen Spiel und Wirklichkeit. Für Schnitzler ungewöhnlich montiert der Autor im »grünen Kakadu« die Ebenen von Illusion und Wiklichkeit vor einer historischen Kulisse.

38 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon