2. Kapitel.

Körperzeichnung und Färbung.

[54] Dem Erklärungsbedürfnis, das unter der Tierwelt Umschau hält, bieten die zahlreichen Unterschiede der Körperzeichnung und Färbung ein weites Feld, sich zu betätigen. Je eigentümlicher das Aussehen, desto größer der Reiz einer poetischen Deutung. Namentlich erregen die dunkeln Flecke und Streifen, die grauen, schwarzen und roten Farben die Einbildungskraft und erwecken bisweilen ganz absonderliche Vorstellungen von deren Trägern, unter denen sich namentlich die feuerholenden Tiere auszeichnen. Die Frage des Ursprungs jener Unterschiede wird jedesmal in der gleichen Weise beantwortet, daß ein höchst einfacher Vorgang, wie das Bemalen, Besudeln, Versengen, die bis heute sichtbare Veränderung erzeugt hat, wobei dem Feuer die doppelte Fähigkeit des Rötens und des Schwärzens beigelegt wird. Solange das Denken der Völker auf der Kindheitsstufe steht, erscheint ihm diese Art des Zusammenhanges von Ursache und Wirkung völlig einleuchtend. Bemerkenswert ist, daß Sagen von Bemalen, die zwar wohl überall nachweisbar sind, in wirklicher Häufigkeit doch nur bei Völkern vorkommen, die sich selbst bemalen. Man sieht daraus, daß das Übertragen eigener Lebensgewohnheit und Erfahrung in die Welt der Sagen einen großen Einfluß auf deren Gestaltung ausgeübt hat.

Quelle:
Dähnhardt, Oskar: Natursagen. Eine Samlung naturdeutender Sagen, Märchen, Fabeln und Legenden, 4 Bände, Leipzig/Berlin, 1907-1912, S. 54-55.
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