[255] 1. Aus Frankreich.
Es waren einmal zwei Frauen, die gingen mit ihren Kindern spazieren. »Ach,« sagte da die eine, »ich habe es satt, mein Kind immer auf dem Rücken zu tragen.« »Wahrhaftig, ich auch,« sägte die andere, »die Kinder müßten laufen können, wenn sie auf die Welt kommen.«
»So höre,« sagte die erste, »wir müssen eine Bittschrift an den lieben Gott richten.«
»Ja, das wollen wir,« meinte die andere, »aber wir können ja nicht schreiben. Wir wollen zum Schulmeister gehen.«
Das taten sie denn auch, und als sie dort ankamen, begrüßten sie den Schulmeister, und dieser fragte sie, was sie denn wünschten. Sie baten ihn, eine Bittschrift aufzusetzen, was er zu tun versprach; doch müßten sie dafür bezahlen. Auch wolle er es nicht gern im Hause tun, da die Kinder es hören könnten, und[255] es sei nicht gut, wenn sie dergleichen Dinge erführen. So gingen sie denn in den Garten, und unter einem Baum wurde an den lieben Gott geschrieben, daß er die Kinder doch gehen lassen möchte, wenn sie zur Welt kämen.
Als nun alles fertig war, wollte niemand der Bote sein. Oben auf dem Baum aber saß ein Bussard. »Nun gut,« rief er herunter, »gebt sie mir, ich will sie schon hinbringen.« Die Frauen waren damit wohl zufrieden und gaben ihm das Papier, womit er sogleich davonflog. Er klopfte bei Petrus an der Tür an und gab ihm die Schrift, damit dieser sie dem lieben Gott bringen solle. Doch Petrus sagte: »Der liebe Gott ist nicht zu Hause, du mußt bis morgen warten.« Das wollte der Bussard denn auch, und am nächsten Tag gab Petrus dem lieben Gott die Bittschrift und brachte gleich die Antwort wieder. Als der Bussard damit zurückkam, gab er sie den Frauen, und alle lasen, daß der liebe Gott ihre Bitte erfüllen wollte, unter der Bedingung, daß sie nicht mehr mit ihren Männern schliefen. »Gut,« sagte die eine, »so soll alles beim alten bleiben.« »Ich meine auch,« sagte die andere, »ich will doch lieber meine Kinder tragen.«
Danach wollte der Bussard für seine Botendienste bezahlt werden. Aber die Frauen sagten zu ihm: »Geh weg! Weil du keine gute Nachricht gebracht hast, wirst du nichts bekommen.« »Wohlan,« rief der Bussard, »ihr werdet ja eure Hühner und Gänse losbinden, wann ihr wollt, aber seid versichert, daß ich mich bezahlt mache.« Und darum rauben die Bussarde die Küchlein.
2. Sage der Athabascan.
Der amerikanische Vielfraß pflegte mit Männern auf die Jagd zu gehen und ihnen in der dritten Nacht die Schuhe zu stehlen. Einst ließ aber ein Mann die Schuhe nicht nach der Landessitte vor dem Feuer hängen, sondern zog sie wieder an, so daß der Vielfraß versehentlich seine eigenen Schuhe ins Feuer warf. (Vgl. ob. S. 66.) Darauf kommt der unvermittelte Schluß: »Ich will nicht mehr für mich selbst jagen, sondern ich will davon leben, die Vorratsorte der Menschen zu berauben.« Und darum ist der Vielfraß solch ein Dieb.
3. Sage der Arapaho-Indianer.
Nih'ānçan tötet Vögel, indem er sie mit geschlossenen Augen vor sich tanzen läßt. (Vgl. oben S. 61.) Er brät sie und schläft. Der Präriewolf stiehlt die gebratenen Vögel. Seitdem leben die Präriewölfe vom Stehlen.
4. Sage vom unteren Fräser River.
Der Pelikan gab einst ein großes Schenkfest. Er ließ ein junges Mädchen mit langen Haaren, die Maus, für sich auf zusammengebundenen Booten tanzen. Er band Felldecken an Stangen und warf dieselben, als seine Gäste kamen, ins Wasser. Da sprangen dieselben ins Wasser, um sie aufzufangen. Als sie ins Haus kamen, verteilte die Maus das Essen und tanzte für den Pelikan. Die Leute schlugen Takt und sangen, während sie tanzte. Dann verteilten sie wieder viele Decken. Am folgenden Tage reisten die Leute wieder in ihre Heimat zurück. Die Maus hatte allen so gefallen, daß viele sie haben wollten. Der Nerz, welcher ein armer Mann war, legte sich Häuptlingskleider an und band sein Haar mit Bergziegenwolle zurück, damit sie ihn für einen Häuptling aus einem fernen Lande halten sollte, und wollte sie heiraten. Sie er kannte ihn aber und wies ihn zurück. Dann kam der[256] Donnervogel und warb um sie. Sie folgte ihm, und er nahm sie in seine Heimat zurück. Die erste Frau des Donnervogels war aber eifersüchtig auf die Maus und wünschte sich ihrer zu entledigen. Eines Tages, als der Donnervogel mit seiner ersten Frau ausgegangen war, öffnete die Maus die Kisten, in denen der Donnervogel seine Vorräte an Bergziegenfett aufbewahrte, und aß davon. Als er das ausfindig machte, ward er zornig und warf die Maus auf die Erde hinunter. Daher stiehlt sie noch heute immer Lebensmittel.