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Ihr wundert euch vielleicht – so beginnt ein japanisches Märchen –, warum die Qualle nackt umherschwimmt und weder ein Gehäuse noch eine Schale hat? Das war in alter Zeit nicht so; da hatte sie eine Schale gleich anderen Muscheltieren, aber sie verlor sie durch ihre eigene Schuld, und wie das zuging, das will ich euch erzählen.
Es war einmal eine Meerprinzessin, die wurde einst sehr krank, und niemand konnte ihr helfen, und so siechte sie lange in schwerer Pein dahin. Endlich aber fand sich ein erleuchteter Arzt am Hofe des Königs, ihres Vaters, und erklärte, daß sie nur durch den Genuß einer Affenleber Gesundheit und Frohsinn wiedererlangen könnte. Sofort traf man Anstalten, einen Affen herbeizuschaffen, um ihm die Leber aus dem Bauche zu nehmen. Die kluge Schildkröte erhielt den Auftrag, sich auf Reisen zu begeben und einen Affen lebend und gesund herbeizubringen. Also machte sie sich denn auf und davon; sie kam ans Land und wanderte ins Gebirge, wo viele Affen leben. Aber so leicht war das nun allerdings nicht, eines dieser Tiere zu bewegen, mitzugehen, und deshalb mußte sie die Zuflucht zur List nehmen. Eines Tages stellte sich die Schildkröte schlafend; sie lag da an einer schattigen Stelle und rührte kein Glied. Die neugierigen Affen kamen herbei und betrachteten sie von allen Seiten, und ein junges Affchen, das dreister als die andern war, ging an sie heran und befühlte das schöne, glänzende Schild, das sie auf dem Rücken trug. Da plötzlich fuhr sie empor, schnappte mit dem Maule nach dem Äffchen, und richtig! bekam sie seine Hand zu fassen und hielt sie mit dem Maule fest. Als die anderen Affen sahen, daß der Schildkröte nicht zu trauen war, liefen sie davon und ließen ihren jüngeren Gefährten im Stich. Die Schildkröte aber sprach zu ihrem Gefangenen: »Wenn du nicht willig tust, was ich dir sage, so töte ich dich. Jetzt steig auf meinen Rücken; du mußt mit mir gehen.« Zur Sicherheit hielt sie fortwährend die Hand des Affen fest. Was wollte das arme Tier also machen? Es fügte sich eben, so gut es ging, in sein Schicksal. Die Schildkröte trabte nun, so rasch sie konnte, von dannen, dem Strande zu, und als das Wasser erst ihre Füße bespülte, da ging es pfeilschnell hinab in das Meer, dem Palaste der Meerprinzessin[1] zu. Alles freute sich, als der Affe glücklich auf dem Rücken der Schildkröte anlangte, und nun ward er so freundlich aufgenommen und so gut verpflegt, daß er bald alle Sorge vergaß und sich in der Fremde heimisch fühlte. Mitunter freilich überkam ihn doch das Heimweh, und dann ging er traurig umher und suchte ein stilles Plätzchen, wo er ungestört weinen und seufzen konnte. Und als ihn eines Tages wiederum diese Traurigkeit befiel, da trat die mitleidige Qualle zu ihm heran und sagte teilnehmend: »Ja, du magst wohl weinen, du armes Tier, ich beklage dich von ganzem Herzen! Deine Tage sind gezählt; nicht lange mehr kannst du dich deines Lebens freuen, dann wirst du geschlachtet und verspeist werden!«
Der Affe erschrak fürchterlich; er sprang auf und fragte hastig die Qualle, was er denn verbrochen hätte, daß man ihm nach dem Leben trachte.
»Du has£ gar nichts verbrochen,« erwiderte die Qualle, »aber wie sollen wir deine Leber bekommen, ohne daß du geschlachtet wirst? Und deine Leber müssen wir haben, denn ohne die kann unsere Prinzessin nicht gesund werden. Also füge dich in dein Schicksal und mache keinen Lärm; es ist genug, daß ich dich von Herzen bedaure, mehr kannst du nicht verlangen.« Damit ging die Qualle fort, und der Affe war ganz starr vor Schrecken und Erstaunen. In seinen Eingeweiden wühlte es, und es war ihm, als würde seine Leber schon aus seinem Bauche geschnitten, so daß er sich unwillkürlich zusammenkrümmte.
Doch in seiner Herzensangst verlor er die Besinnung nicht, sondern er dachte darüber nach, wie er sich wohl retten könnte, und richtig! nach einigem Sinnen fand er guten Rat. Hatte ihn die Schildkröte schlau betört, so sollte sie erfahren, daß er auch nicht zu den Dummen gehörte. So stellte er sich ganz sorglos und sprang vergnügt umher; als es aber bald darauf anfing zu regnen, begann er laut zu heulen und zu schreien. Die Schildkröte, die zu seiner Hauptpflegerin bestellt war, kam herbei und fragte nach dem Grunde seiner Klagen, und da erzählte ihr der Affe mit den kummervollsten Gebärden, er habe seine Leber zum Trocknen auf einen Busch gehängt, und wenn es nun immerfort regne, so müsse sie verderben, und er könne sie nicht mehr brauchen. Und dabei wehklagte und winselte der Schalk, daß es einen Stein erbarmen mußte, und rief fort und fort, warum man ihn so eilig aus seiner Heimat entführt hätte, ohne daß er seine Leber hätte mitnehmen können.
Nun war guter Rat teuer! Verblüfft standen alle da, und sofort beschlossen sie, daß die Schildkröte den Affen wieder ans Land bringen solle, damit er seine Leber holen könne; zugleich ward sie bei strenger Strafe dafür verantwortlich gemacht, daß sie den Affen keinen Augenblick außer acht ließe, damit er heil und gesund mit der wertvollen Leber zurück käme.[2] Der Affe aber wußte durch allerlei Reden, mit denen er den Aufenthalt im Meerpalast rühmte, die Schildkröte sorglos und vertrauensvoll zu machen, so daß sie zuletzt gar nicht mehr auf ihn achtgab. Sie kamen ans Land, wanderten wohlgemut in die Berge, und als der Affe seine Familie erblickte, entwischte er der Schildkröte und erzählte allen die entsetzliche Geschichte, die ihm widerfahren war. Und da gab es ein Zetergeschrei über die Unbill, und die Affengesellschaft kam überein, sich gehörig an der Schildkröte, die den Affen entführt hatte, zu rächen. Sie liefen auf sie zu, legten sie mit vereinten Kräften auf den Rücken und rissen ihr unbarmherzig das Brustschild vom Leibe. Mit bitteren Vorwürfen und Scheltreden überhäuft, jagten sie nun die Schildkröte fort, die noch froh war, mit dem Leben davon zu kommen. Matt und verdrossen eilte sie zu dem Palaste der Prinzessin zurück, denn ihre Brust, die kein Schild mehr hatte, war bloß, und die Kälte, die sie empfand, machte sie elend und krank. Als sie angelangt war und alles erzählt hatte, was ihr widerfahren, da wurde großer Rat gehalten und vor allem ausgeforscht, woher wohl der Affe den Grund seiner Entführung erfahren habe. Und siehe da! – der Verdacht blieb auf niemand anders als auf der unglücklichen Qualle hängen, und zuletzt mußte sie eingestehen, daß sie die Übeltäterin sei und alles an den Affen ausgeplaudert habe. Da wurde die Prinzessin sehr böse und nahm zur Strafe der Qualle ihre Schale ab, aus der sie der Schildkröte ein neues Brustschild machen ließ. Und so ist es gekommen, daß die Qualle bis auf den heutigen Tag ihren weichen Körper ohne allen Schutz im Meere herumtragen muß. Wäre sie nicht vorwitzig gewesen und hätte sie nicht geplaudert, dann hätte sie ihre Schale wie alle anderen ihres Geschlechtes behalten.
Der Kluge überlistet den Dummen – der Grundgedanke dieses Märchens ist für Erfinder und Erzähler zu allen Zeiten von größtem Reiz gewesen.
Wollen wir dem Ursprung des Stoffes nachgehen, so werden wir in geschichtliche Fernen geführt, in die Zeit des großen indischen Fabelwerkes Pañcatantra und der buddhistischen Jātakas. Beiden gemeinsam ist eine Fabel vom Affen, der ein Krokodil betrügt und dadurch dem Tod entgeht.
Was das Pañcatantra anlangt, so ist es nach Hertels Untersuchungen etwa im 2. Jahrh. vor Chr. in Kaschmir entstanden. Aber die einzelnen Geschichten können natürlich viel älter sein.
»Über das Alter der Jātaka-Geschichten und das des Pañcatantra läßt sich,« wie Ernst Windisch mich belehrt, »schwer etwas ganz Bestimmtes sagen. Das Jātaka-Corpus bildet einen Teil des auf Ceylon erhaltenen Kanons. Es wird allerdings zu den jüngeren Teilen desselben[3] gehören, aber höchstwahrscheinlich schon vor Christi Geburt entstanden sein. Die Jātaka-Geschichten waren in den letzten Jahrhunderten vor Chr. und in den ersten nach Chr. sehr populär. Ziemlich viele sind auf den alten Skulpturen bildlich dargestellt, wie man jetzt bequem aus dem schönen Werke von Foucher, L'Art Gréco-Bouddhique, Tome I, ersehen kann. Rhys Davids hat in seinem Buch Buddhist India S. 189 bis 209 von der Geschichte der Jātakas gehandelt. Dort findet sich S. 209 ein Verzeichnis von Jātakas, die bildlich dargestellt sind. Aber es sind dies nur die vom Stūpa zu Bharhut, es gibt noch viel mehr. Rhys Davids neigt sich der Ansicht zu, daß selbst die späteren Jātaka-Geschichten bis ins 3. Jahrh. vor Chr. zurückgehen können.« Nach brieflichen Mitteilungen, die ich Hertels Güte verdanke, kommt bei den Jātakas zweierlei in Betracht. Erstens: alle diese Erzählungen, welche die Buddhisten dem gemeinsamen Erzählungsschatz der Inder entlehnt haben, werden von ihnen verwendet, um Moral zu lehren. Und daher sind die Pointen oft in ihr Gegenteil verkehrt, die Erzählungen enden oft witzlos, bisweilen geradezu widersinnig. Wohl bei allen Vergleichungen, die Hertel hat anstellen können, sind die Parallelerzählungen der Brahmanen und Jaina in diesem Punkte besser und ursprünglicher. Zweitens aber ist die Jātaka-Ausgabe noch lange kein kritisches Ideal. Die Erzählungen, wie sie jetzt vorliegen, können sehr leicht von denen, die ihr buddhistischer Verfasser niederschrieb, ebenso verschieden sein, wie die der späteren Pañcatantra- oder Vetālapañcavimsatikā-Fassungen von den Originalen in den ursprünglichen Texten.
Wenn in Japan das Krokodil durch die Schildkröte ersetzt ist, so hat dies schon im Altertum, wie sich zeigen wird, sein Vorbild. Dieser Übergang kann einen zwiefachen Grund haben. In der Pahlevī-Übersetzung des Pañcatantra ist er wohl eingetreten, weil es in Persien keine Krokodile gibt. Es kann aber bei anderen Texten auch eine falsche Übersetzung im Spiele sein. Der indische Gelehrte Hemacandra führt unter den Synonymen für »Krokodil« (sisumāra) ein Wort ambu-kūrma auf, welches wörtlich übersetzt »Wasserschildkröte« heißt. (Vgl. S. 14, Anm. 1.)
Die »willkürliche Ätiologie« (vgl. Bd. I, S. X), wie sie am Schlüsse des japanischen Märchens erscheint, begegnet uns bei dem Überblick über die verschiedenen literarischen und mündlichen Fassungen zwar nicht wieder, aber die ausführliche Darstellung der Verbreitung des Stoffes rechtfertigt sich schon durch die Tatsache, daß wir ihn auch in Afrika und bei Hans Sachs wiederfinden. So hat es doch gewiß etwas Überwältigendes, zu sehen, wie sich ferne Gegenden der Erde durch eine gemeinsame Überlieferung zusammenfinden.
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