CLV.

[285] In indischen Büchern findet sich die folgende Geschichte [Rand: Dschami. 897.] aufbewahrt:

Ein Dieb stahl sich in die Werkstatt eines Arbeiters von Goldstoff, wo er sich versteckt hielt, um[285] bey einbrechender Nacht seinen Anschlag auszuführen. Der Meister, der mit einem angefangenen Stoffe fertig werden wollte, arbeitete die ganze Nacht hindurch, und wiederholte von Zeit zu Zeit eine Art von Stoßgebetlein: Mein Herr und Gott! bewahre mich vor Zungenfall. Der Dieb, der sich nicht hervorzubrechen getraute, harrte die ganze Nacht geduldig aus, und während der Meister sein Morgengebet verrichtete, bey dem das: Herr, mein Gott! bewahre mich vor Zungenfall, nicht vergessen ward, gieng der Dieb seiner Wege.

Der Meister begab sich mit dem vollendeten Goldstoff nach Hof, der Dieb ihm nach. Jener breitete seine Arbeit vor dem König aus, und, nachdem er dieselbe lang angepriesen hatte, beschloß er endlich seine Lobrede damit, daß er sagte: Solch ein Stoff findet sich nicht wieder. Deine Majestät wird wohl thun, denselben im Schatze aufbewahren zu lassen, damit er einst bey deinem Leichenbegängniß zum Bahrtuche diene. Der König, aufgebracht über Worte von so unglücklicher Vorbedeutung, befahl, den Stoff zu verbrennen, und den Meister hinzurichten. Der anwesende Dieb konnte sich des Lachens nicht enthalten. Der König wollte die Ursache wissen, und der Dieb bat im Voraus um Verzeyhung, die ihm zugesagt ward. Dann erzählte er, wie der Stoffwirker die ganze Nacht gebetet habe, Gott wöge ihn vor Zungenfall[286] bewahren, und sich dessen doch nicht habe erwehren können. Der König verzieh beyden.

Quelle:
Hammer-Purgstall, Joseph Freiherr von: Rosenöl. Stuttgart/Tübingen: Cotta, 1813, S. 285-287.
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