CLVI.

[287] Ein griechischer Kaiser hatte eine Tochter, die [Rand: Dschami. 670.] eben so schön als geistreich war. Die Prinzen des Orients und Occidents hatten sich um ihre Hand beworben ohne Erfolg, denn sie wollte unverehlicht bleiben, und, um sich die lästigen Werber vom Halse zu schaffen, hatte sie es zum Gesetz gemacht, daß jeder derselben die ihm vorgelegten Fragen beantworten, oder den Kopf verlieren sollte. Die Fragen waren so spitzfindig, daß keiner sie aufzulösen vermochte, und die Köpfe der Königssöhne, auf den Mauern des Pallastes aufgesteckt, sollten Andere abschrecken, sich in ihre Fußstapfen zu wagen.

Endlich kam ein junger Mensch aus Irak, der am Hofe des Kaisers Dienste nahm. Neider stellten ihm nach dem Leben, was eine Ursache mehr war, dasselbe als Brautwerber der Prinzessinn auf das Spiel zu setzen.

Er ward vorgeführt, und die Prinzessin redete ihn an: Junger Mensch, hast du nicht gesehen, wie die Zinnen des Pallastes von Prinzenköpfen starren, und die Thürschwelle meines Harems von Blut träuft? – Ja wohl hab ich's gesehen, antwortete der Jüngling, aber vom Tage an, wo deine Liebe mir ins Herz fiel, verschwand daraus die Liebe des Lebens,[287] frage nun die neun Fragen, die du deinen Werbern vorlegst.


Die Prinzessin.

Was mehrt sich stets, und nimmt nie ab,

Was mehrt sich stets, und nimmt doch ab?


Der Jüngling.

Stets mehrt sich Gottes Huld, und nimmt nie ab,

Das Alter wächst, allein des Greises Kraft nimmt ab.


d. P. Sag, wer giebt das anvertraute Pfand

Ohne eigenen Verlust

Zehnfach wieder?

Sag, wer bringt das anvertraute Pfand

Ohne Schonung in Verlust,

Und verzehrt sich selber?


d. J. Nur die Mutter Erde giebt

Anvertrautes Körnlein zehnfach wieder.

Feuer zehret Alles auf,

Fällt zuletzt als Asche nieder.


d. P. Welcher Maler stellt am treusten

Gegenwart und Zukunft dar?


d. J. Was der Spiegel leistet, kann kein Maler leisten,

Für die Zukunft spricht der Träume Spiegel wahr.


d. P. Was für Genuß ziemt einmal nur die Woche,

Und einmal nur des Monats, welcher ist genug?


d. J. Der Badgenuß ziemt einmal in der Woche,

Und Liebgenuß im Monde einmal ist genug.


Die Pr. Unverschämter! wie unterstehst du dich, mir solche Antworten zu geben? Bald wird dein Kopf mit den übrigen auf den Zinnen stecken.

Der Jüngl. Ich antworte, wie du fragst, nun frage weiter.


d. P. Wer ist der Wechsler in dem blauen Kleid,

Der Eisen giebt und Seelen nimmt?


d. J. Der Degen.


d. P. Nenn mir die Blume, welche lacht und weint,

Und Lust und Schmerz in sich vereint.


d. J. Die Rose.[288]


d. P. Kennst du drey Berge einer Art,

Mit zwey, mit vier, und mit acht Quellen?


d. J. Das Weib, die Kuh, die Hündin sind drey Berge,

Bey denen, so der Quell der Milch sich paart.


d. P. Es stehet auf zwey Säulen eine Stadt,

Die sieben Thore, und fünf Wächter hat.


d. J. Des Menschen Leib ist diese Stadt,

So sieben Oeffnungen, fünf Sinnen hat.


Die Prinzessin konnte oder mochte nicht weiter fragen, und der Jüngling erhielt sie zur Braut.

Quelle:
Hammer-Purgstall, Joseph Freiherr von: Rosenöl. Stuttgart/Tübingen: Cotta, 1813, S. 287-289.
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