Sechsundzwanzigstes Capitel.
Von der Niedrigkeit.

[47] Eine gewisse vornehme Königin hatte von einem bäurischen Sclaven einen Sohn empfangen, der sich nachher schlecht und lasterhaft vor den Augen seines angeblichen Vaters, des Fürsten aufführte. Der König aber forschte fleißig bei der Königin nach, ob es sein Sohn sey, und da er endlich aus ihrer Beichte gefunden hatte, daß er nicht sein Kind sey, so wollte er ihn doch nicht der Regierung berauben, sondern er übergab ihm sein Reich, und gab ihm nur den Befehl, daß er seine Kleider von[47] verschiedenartigem und verschiedenfarbigem Stoffe fertigen lassen sollte, nehmlich eine Hälfte aus schlechtem, die andere aus kostbarem Tuche, auf daß, wenn er das schlechte ansähe, er von Hochmuth und jedem Laster zurückgezogen würde, wenn aber das gute Tuch, er sich nicht ganz wegwürfe, sondern nur bescheiden zeigte.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 47-48.
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