Fünfundsechzigstes Capitel.
Von der Seelsorge.

[107] Einst zog ein gewisser König aus einer Stadt in eine andere und so gelangte er an ein Kreuz, welches[107] auf allen Seiten beschrieben war. Auf der einen Seite stand geschrieben: o König, wenn Du auf diesem Weg hier fortreiten wirst, wirst Du eine gute Herberge für Deinen Leib finden, aber Dein Roß wird schlecht bewirthet werden. Auf der andern Seite des Kreuzes stand: wenn Du diesen Weg einschlägst, wirst Du eine Herberge finden, in welcher es Dein Roß sehr gut haben wird, aber Du wirst schlecht aufgenommen werden. Auf der dritten Seite stand geschrieben: wenn Du auf diesem Wege fortgehn wirst, wirst Du sowohl als Dein Roß gut aufgenommen werden, aber ehe Du hingelangst, wirst Du erst eine derbe Portion Schläge empfangen. Auf der vierten Seite endlich stand: wenn Du auf diesem Wege wandeln wirst, wirst Du herrlich bewirthet werden, wirst aber Dein Roß da im Stiche lassen müssen und gezwungen seyn, zu Fuße zu gehen. Als das der König alles Dieses gelesen hatte, wunderte er sich und dachte bei sich nach, welchen Weg er wohl einschlagen solle. Endlich sprach er zu sich: ich will den ersten wählen, denn da werde ich mich wohl befinden und die eine schlecht hingebrachte Nacht wird für mein Roß gar bald vergehen. Hierauf gab er seinem Rosse die Spornen bis an eine Straße, wo er eine Burg antraf, auf welcher ein Krieger wohnte, der ihn sehr wohl aufnahm und köstlich bewirthete, allein das Roß bekam nur wenig oder eigentlich nichts. Früh aber stand er auf, ritt nach seinem Palaste und erzählte das Alles, was ihm begegnet war und was er gesehn hatte.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 107-108.
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