Hundertundfünfundzwanzigstes Capitel.
Die Weiber verrathen nicht blos Geheimnisse, sondern lügen auch noch mehr dazu.

[245] Es waren einst zwei Brüder, der eine ein Laie, der andere ein Kleriker. Nun hatte aber der Laie oft von seinem Bruder gehört, daß die Weiber nicht im Stande seyen, irgend Jemandes Geheimnisse zu verbergen, er gedachte also hierüber mit seiner herzliebsten Frau eine Probe zu machen und sprach eines Nachts zu ihr: meine Liebe, ich habe Dir ein Geheimniß mitzutheilen:[245]

wenn ich nur gewiß wäre, daß Du es Niemandem sagtest, weil, wenn Du anders thätest, es für mich eine unerträgliche Beschämung geben würde. Jene aber entgegnete: Herr, fürchte nichts, ich bin mit Dir ein Leib, Dein Wohl ist mein Wohl und umgekehrt auch Dein Unglück. Er sprach hierauf: als ich auf die Seite ging, um ein natürliches Bedürfniß zu befriedigen, flog aus dem hinteren Theile meines Körpers ein schwarzer Rabe heraus, und das macht mir vielen Kummer. Sie aber sprach: Du mußt vielmehr froh seyn, daß Du von einem so großen Leiden erlöst bist. Am andern Morgen früh ging aber das Weib zum Hause des Nachbars und sprach zu der Hausfrau: o beste Frau, kann ich Dir etwas Geheimes mittheilen? Diese entgegnete: so sicher, als Deiner eigenen Seele. Hierauf sprach jene: meinem Manne ist ein wunderlicher Zufall begegnet, denn diese Nacht ging er auf die Seite, um ein natürliches Bedürfniß zu befriedigen, und siehe da zwei pechschwarze Raben flogen aus seinem Hintertheil heraus, und das macht mir viel Kummer. Jene erzählte nun einer Nachbarsfrau von dreien, die dritte von vieren und so fort, bis sich das Gerücht verbreitet hatte, es seyen vierzig Raben aus ihm herausgeflogen. Jener aber, über dieses Gerücht unruhig, berief das Volk zusammen und erzählte den Hergang der Sache, wie er die Frau habe versuchen wollen, ob sie ein Geheimniß bewahren könne. Nach diesem aber starb seine Frau und er ging in ein Kloster, wo er drei Buchstaben lernte, von denen der erste schwarz, der andere roth und der dritte weiß war: der erste aber bedeutete das Gedächtniß seiner Sünden, der andere die Erinnerung an das rothe Blut unseres Heilandes, welches er am Kreuze vergossen, und der[246] dritte die Sehnsucht nach den himmlischen Freuden und nach denen, welche dem Lamme Gottes, wohin es auch in seiner Weiße geht, folgen.

Quelle:
Gesta Romanorum, das älteste Mährchen- und Legendenbuch des christlichen Mittelalters. 3. Auflage, Unveränderter Neudruck Leipzig: Löffler, Alicke 1905, S. 245-247.
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