[80] 18. Der Hirt und die Zwerge.

Es war einmal ein König, welcher einen alten, kränklichen Schafhirten hatte. Als dieser starb, brauchte man einen andern Hirten, denn die Schafe konnten unmöglich ohne Hüter bleiben. Der König ließ daher in seinem Lande bekannt machen, daß der alte Schäfer gestorben sei und er einen neuen in Dienst nehmen werde. Zu der Zeit kam ein junger Hirt in die Stadt, ließ sich beim Könige melden, und wie er zu demselben in's Zimmer trat, sprach er: »Ich bin ein Schäfer, und da ich hörte, daß Ihr einen solchen braucht, so will ich, wenn es Euch gefällt, Eure Schafe hüten.« Der junge Mensch gefiel dem Könige und er befahl ihm, am nächsten Morgen wieder zu kommen. In der Frühe kam der Hirt. Der König faßte seine Hand und führte ihn in den Stall zu den Schafen, welche recht mager aussahen, da dieselben schon lange nicht auf der Weide gewesen waren, und ein anderes Futter hatten sie nicht bekommen. Nachdem der König dem Hirten die Schafe übergeben hatte, ging er fort.

Der junge Schäfer nahm nun seine Flöte und Peitsche, ließ die Herde aus dem Stalle und trieb sie zur Stadt hinaus.

Als der Hirt das Stadtthor verlassen hatte, dachte er, wie er wohl einen guten Weideplatz für seine ausgehungerten Schafe ausfindig machen könnte. Es war aber nicht leicht, zu jener Zeit eine gute Weide aufzufinden, denn es war schon Spätherbst.

Nach langem Herumziehen kam unser Hirt mit seinen[80] Schafen zu einem mächtigen, hochstämmigen Walde, vor welchem sich eine mit üppigem Grase bedeckte Wiese ausbreitete. Die hungrigen Thiere machten sich gleich über das Gras her und es schmeckte ihnen vortrefflich, so daß sie allmählich zunahmen. Vergnügt setzte er sich nieder, nahm die Flöte zur Hand und spielte. Mittlerweile kamen aus dem Walde sieben kleine Männchen herangehüpft. Der Schäfer bemerkte sie nicht eher, als bis dieselben ganz nahe stunden und um ihn herum sprangen, tanzten und die wunderlichsten Possen von der Welt trieben. Als unser Hirt diese kleinen Wesen gewahr wurde, konnte er sich über die Männchen nicht genug wundern, gewann dieselben trotzdem bald lieb und spielte ihnen auf der Flöte, während die Männlein tanzten. Auf diese Weise verkürzte sich der Schäfer die lange Weile. Dieses dauerte den ganzen Tag bis zur sinkenden Nacht, und unser Hirt unterhielt sich dabei so gut, daß er selbst sein Mittagsessen vergessen hatte.

Kaum war der erste Stern am Himmel erschienen, so verschwanden die Männchen von der Wiese und der Hirt trieb frohes Muthes die wohlgenährten Schafe nach Hause.

Als der König die Schafe erblickte und sah, wie dieselben an Fleisch zugenommen hatten, war er hoch erfreut. Beim Zählen jedoch fehlten sieben Stück von der Herde. Der Schäfer erschrak und konnte nicht sagen, wohin diese sieben Schafe gekommen seien. Dießmal vergab es ihm der König, weil die Herde so gut genährt war. Die Schafe verloren indes über Nacht alles ihr Fleisch und waren nun so mager wie vorher, denn sie hatten das Gras einer Zauberwiese gefressen, dessen Wirkung nur bis Mitternacht währte. Unbekümmert darum trieb der Hirt seine Schafe wieder auf die üppige Wiese, nahm sich aber vor, auf die Herde besser Acht zu geben.

Die Schafe weideten und der Schäfer spielte auf der Flöte. Alsbald kamen die Männlein wieder herbei, hüpften wie gestern und trieben ihren Schabernack den ganzen Tag.[81]

Des Abends als der König die Schafe zählte, fehlten wiederum sieben Stück. Dießmal konnte er es nicht so hingehen lassen; zur Strafe bekam der Hirt keinen Lohn und der König drohte ihn fortzujagen, wenn Ähnliches noch einmal vorfalle. Eine solche Drohung ängstigte unsern Schäfer und er dachte nach, wer wohl der Dieb sein möge, ob ein Wolf oder gar die Männchen.

Trotzdem aber trieb er am dritten Tage die Herde auf den alten Weideplatz, da das Treiben der kleinen Wesen ihn ergötzte. Als am folgenden Morgen der Hirt auf die Wiese kam, so warteten die Männchen schon und baten ihn, er möge ihnen auf der Flöte spielen. Der gutherzige Schäfer konnte ihre Bitte nicht abschlagen: er spielte und die Männlein tanzten und sprangen.

Abends trieb der Schäfer die Herde heim, aber wehe, auch dießmal fehlten sieben Schafe. Darüber ward der König zornig und sprach: »Du hast bei mir ausgedient, über die Nacht lasse ich dich noch hier, aber morgen früh verlässest du die Stadt.« – Am andern Morgen wanderte der Hirt traurig aus dem Schlosse, in dem er nur drei Tage gedient hatte.

Tiefgebeugt langte er auf seinem Weideplatze an und vor Schmerz warf er sich in's Gras und klagte: »Was fange ich nun an, ich armer Wicht, ohne Dienst, ohne Brot, der Winter ist vor der Thüre und ich muß geradezu verhungern.« Er weinte und bereute es tausendmal, auf diese verhexte Wiese die Herde getrieben zu haben.

Plötzlich stand vor dem Hirten ein graues Männlein und sprach: »Beruhige dich und höre mich an; denn ich bin derjenige, welcher dir dreimal sieben Stück Schafe gestohlen hat.« – »Du bist dieser Schurke«, schrie der Hirt, »so gib sie mir zurück.« – Das Männchen antwortete: »Ich habe die Schafe nicht mehr, jedoch werden sie dir reichlich ersetzt werden, sei nur ruhig. – Sieh mich an; vor vielen Jahren habe ich anders ausgesehen, denn damals war ich der König der Zwerge.[82] Höre nun, wie die Herrschaft über mein Volk für mich verloren ging. – Der König der Schlangen, nämlich der Drache, ist einst mit allen Schlangen ausgezogen, um für den Winter eine bequeme und schöne Wohnung aufzusuchen. Da hörte das Ungeheuer von meinem Zwergenberge, in dem es so prächtig aussieht, und von dem großen Schatze, den wir bewachen. Es gefiel ihm solche Nachricht und er machte sich in unser Reich auf. Meine Zwerge konnten den Schlangen keinen Widerstand entgegenstellen, denn jede versetzte dem Zwerge einen tödlichen Biß. Nur mich und meine sieben Kinder verschonten die Schlangen, welche darauf von meiner Wohnung Besitz nahmen und seitdem jeden Winter zurückkehren. Mein goldenes Gewand wurde in dieses graue verwandelt, und weil ich früher den Leuten viele Wohlthaten erwiesen habe, wurde ich von den Schlangen, welche der Menschen Feinde sind, verurteilt, denselben Schaden zuzufügen. Darum mußte ich dir dreimal sieben Stück Schafe stehlen, und zwar that ich es zu der Zeit, als meine Kinder um dich herumtanzten und du auf die Herde nicht aufmerksam warst. Vergib es mir und sei sicher, ich that es nur meiner Kinder wegen, welche großen Hunger hatten, denn der Drache gibt uns im Sommer nichts zu essen, nur den Winter über bekommen wir etwas. Unsere Pflicht besteht darin, für die Schlangen zu wachen und sie vor Gefahr zu beschützen. Nun aber habe ich das Leiden satt und bitte dich, Jüngling, sei unser Erretter! Als Lohn erhältst du den großen Schatz.«

»Recht gerne, aber wie?« antwortete der Hirt. – Der Zwerg sprach: »Folge mir«, und nun gingen beide in den Wald, in dessen Mitte sich ein mächtiger Berg erhob.

Als diese zwei bei dem Berge anlangten, sprach der Zwergenkönig zum Hirten: »Besteige die Spitze des Berges und du findest dort einen Baum und unter dem Baume einen schwarzen Stein. Diesen nimm heraus, grabe nach, und du wirst ein goldenes Kästchen erblicken. In demselben[83] befindet sich ein Schwert, ein weißes Tuch und ein kristallenes Gefäß mit einer Salbe. Dieses Kästchen nimm heraus und bringe es mir. Und nun geh, ich beschütze dich.«

Der Hirt kam ohne Gefahr hinauf, fand alles so, wie der Zwerg gesagt hatte und brachte das Kästchen herunter.

Jetzt sprach wieder der Zwergenkönig, indem er das Kästchen unserem Schäfer übergab: »Mit der Salbe in dem Kristallgefäße reibe deinen Körper ein, damit dir das Gift der Schlange nicht schade, nimm hierauf das Schwert und Tuch, verstecke dich im Gebüsche und erwarte die Schlangen, denn heute ist der Tag, an dem sie kommen, um über den Winter im Berge zu schlafen.« Sind alle Schlangen im Berge drinnen, so trittst du nach einer Weile hervor, gehst zu der Stelle, an welcher die Schlangen in den Berg krochen, pflückst dort ein Blümchen, welches an dieser Stelle wächst, berührst mit demselben den Berg, der öffnet sich dann, und du kannst eintreten. Am leichtesten wirst du den Drachen tödten, wenn du auf seinen Rücken trittst, denn so kann er dir nicht schaden. Nimm hierauf das Schwert in die rechte Hand und breite mit der linken über die Krone, welche der Drache auf dem Kopfe trägt, das weiße Tuch aus und nimm dieselbe weg. Ist dieß geschehen, so erwacht der Drache und mit ihm auch die Schlangen, welche auf dich zustürzen werden, jedoch haue nur kräftig um dich herum, und von dem Rücken des Drachen steige nicht herab. Dann wird der Drache mit dir davonfliegen. Gewahrst du im Fluge Wasser unter dir, so schlage mit der im weißen Tuche eingewickelten Krone den Drachen siebenmal auf den Kopf. Auf das stürzt der Drache in's Wasser, du aber fällst auf ein Schiff, welches dich an das Ufer bringt. Dort angelangt, wirf die Krone auf die Erde, tritt auf sie und sprich: »Ich will bei den Zwergen sein!« und in einem Augenblick bist du bei uns und empfängst deinen Lohn. »Jetzt lebe recht wohl, sei muthig und vertraue auf unsere unsichtbare Hilfe.« – Der Zwergenkönig verschwand.[84]

Der Hirt begab sich nun hinter ein Gebüsch und rieb seinen Körper mit der Salbe ein, nahm das Schwert in die rechte Hand, das weiße Tuch in die linke. So gerüstet, erwartete er die Schlangen. Es dauerte nicht lange und diese kamen unter Zischen heran. Der König kroch zuerst. Als er beim Berge ankam, riß er mittelst seiner Zunge ein grünes Kraut aus, berührte mit demselben den Berg, dieser sprang auf und er kroch hinein. Eine unendliche Reihe von Schlangen folgte seinem Beispiele. Als die letzte Schlange im Berge verschwunden war, schloß sich der Felsen zu.

Nach einer Weile trat unser Hirt hervor und berührte mit dem Hexenkraute den Felsen, wie er es von den Schlangen gesehen hatte, und der Felsen that sich auf.

Der Schäfer trat nun in das Innere des Berges, und nachdem er eine Reihe von prachtvollen Gängen und Gemächern durchschritten hatte, kam er in einen äußerst kostbar geschmückten Saal, dessen Wände von Gold waren und mit Edelsteinen reich besetzt. In der Mitte desselben stand ein kristallener Tisch, auf dem zusammengerollt der Schlangenkönig lag, am Boden um den Tisch herum schliefen die übrigen Schlangen1.

Muthig schritt der Hirt über die Schlangen hinweg, ohne daß er ihnen oder sie ihm geschadet hätten, frisch auf den Tisch zu, stieg auf den Rücken des Drachen und nahm demselben mit der in das weiße Tuch gewickelten Hand die Krone weg. Kaum war dieß geschehen, so streckte sich der Drache aus, und nun setzte sich der Hirt so auf den Drachen, als wollte er auf ihm reiten.

Der Drache sprühte in seinem Grimme Feuer aus dem Rachen, und die erwachten Schlangen sprangen auf den Hirten und wollten ihn beißen, allein dieser hieb einer jeden Schlange,[85] welche in seine Nähe kam, den Kopf ab. – Jetzt bekam der Drache Flügel, erhob sich mit großem Geräusche, durchbrach den oberen Theil des Berges und gelangte ins Freie. Er flog nun, mit dem Hirten auf dem Rücken, über Berg und Thal pfeilschnell fort. Als der Schäfer unter sich plötzlich Wasser erblickte, schlug er den Drachen mit der Krone siebenmal auf den Kopf, und siehe da, der Drache senkte sich mit fürchterlichem Gebrülle in's Meer. Der Hirt fiel, wie der Zwerg vorhergesagt hatte, auf ein Schiff und dieses brachte ihn an das Ufer. Hier angekommen, gedachte er abermals der Worte des Zwergenköniges und warf die Krone auf die Erde, trat darauf und sprach: »Ich will bei den Zwergen sein!« – In einem Augenblicke war er an dem gewünschten Orte und stand vor dem rauchenden Berge, unter den jubelnden Zwergen, welche ihn als ihren Retter begrüßten.

Mit vielen Danksagungen übergab der Zwergenkönig dem Schäfer den großen Schatz. Der Hirt war nun überreich, kaufte dem Könige, bei dem er früher gedient, sein Land ab und heiratete eine seiner Töchter und lebte viele Jahre lang glücklich.

Die Zwerge aber zogen in ein anderes Land und machten sich dort ansäßig.

Von den Schlangen wurden die meisten verbrannt oder von dem einstürzenden Berge erschlagen, jene aber, denen es gelang, sich zu verkriechen oder zu entkommen, wurden von der Hitze so geblendet, daß sie alle blind wurden und es heutiges Tages noch sind. Seit dieser Zeit, sagen die Leute, gibt es wohl Wassereidechsen, aber wenige Schlangen und gar keinen Drachen mehr.

1

Während des Winterschlafes sind die Schlangen gefühllos und so starr, als wären sie von Stein. Zuerst erwacht die älteste Schlange (der Drache) und weckt dann die übrigen auf, indem sie ruft »Es ist Zeit.«

Quelle:
Vernaleken, Theodor: Kinder- und Hausmärchen dem Volke treu nacherzählt. 3.Auflage, Wien/Leipzig, 1896 (Nachdruck Hildesheim: Olms, 1980), S. 80-87.
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