Vorwort.

Die altägyptischen Sagen und Märchen zeichnen sich durch ihr Alter aus. Sie sind in Handschriften erhalten geblieben, deren älteste aus der Zeit vor 2000 v. Chr. stammt, während die jüngsten um den Beginn unserer Zeitrechnung niedergeschrieben worden sind. Dabei handelt es sich aber nicht um die ursprünglichen Werke, sondern um Abschriften; die Abfassung der Originale mag um manches Jahrhundert weiter zurückliegen. Dieses ehrwürdige Alter gab Veranlassung, sie im folgenden auch an den Stellen, an denen sich für unser Gefühl Längen finden, unverkürzt und möglichst wortgetreu wiederzugeben, so weit sich dies mit dem Bestreben, lesbares Deutsch zu gewinnen, vereinigen ließ. Bei so frühen Werken ist naturgemäß nicht nur der Inhalt von Interesse, sondern auch die Form, in der dieser vorgetragen wurde.

Man wird bei ihrer Durchsicht erkennen, in wie hohem Grade nicht nur die Märchenmotive, sondern auch die Art ihrer Behandlung bereits in dieser frühen Zeit manchen bis auf unsere Tage verbreiteten Erzählungen, besonders solchen[5] der Märchen von Tausend und Einer Nacht, ähneln. Auch die verhältnismäßige Einförmigkeit der Sprache, die breite Ausmalung unbedeutender Dinge, das kurze Andeuten wesentlicher Punkte, denen wir in unserer Volkserzählung begegnen, kann man schon vor nahezu 4000 Jahren an den Ufern des Nils beobachten. Auf etwaige inhaltliche Uebereinstimmungen im einzelnen hinzuweisen, war hier freilich nicht der Ort. Wer sich mit derartigen Fragen näher beschäftigt, wird sie ohnehin leicht festzustellen vermögen. Er wird auch eine Reihe bezüglicher Angaben in der vorzüglichen Bearbeitung der altägyptischen Märchen durch G. Maspero, Les contes populaires de l'Egypte ancienne, 3 Auflage, Paris 1905, finden können.

Die in dem vorliegenden Bändchen vereinten Erzählungen sind derart ausgewählt worden, daß durch sie die verschiedenen Gattungen der ägyptischen Unterhaltungsliteratur vertreten werden: Sagen über historische Persönlichkeiten, erfundene Reiseberichte in der Art von Sindbads Reisen, romantische Schilderungen fremder Länder, wunderbare Hilfeleistungen der Gottheiten, Zaubergeschichten. Für die Bedeutung dieser Literaturarten für die Beurteilung Altägyptens und seiner Kultur kann ich auf meine Schrift »Die Unterhaltungslitteratur der alten Aegypter«, 2. Aufl., Leipzig 1903, verweisen.

Die einzelnen Erzählungen sind jeweils auf Grund ihrer ägyptischen Urtexte und unter Benutzung ihrer modernen Literatur, die sich in dem oben genannten Buche von Maspero in großer Vollständigkeit aufgeführt findet, neu durchgearbeitet[6] und übersetzt worden. Eine kurze Einleitung gibt über das Alter einer jeden Aufschluß. Um dem modernen Leser das Verständnis zu erleichtern, welches bei der gelegentlich knappen Ausdrucksweise der Aegypter und den uns häufig fernliegenden Sitten und Anschauungen des Volkes nicht immer ohne weiteres klar sein würde, sind die nötigen Erklärungen in runden Klammern gleich in den Text gesetzt worden. Die in eckige Klammern gesetzten Worte sind Ergänzungen schadhafter Stellen der Originale. Von der Beigabe ausführlicher Erläuterungen wurde abgesehen, da dieser Band die altägyptischen Erzählungen in ihrer Eigenart weiteren Kreisen näher bringen und nicht eine eingehende wissenschaftliche Arbeit über sie werden sollte.


Bonn, den 18. Juli 1906.

Alfred Wiedemann.[7]

Quelle:
Wiedemann, Alfred: Altägyptische Sagen und Märchen. Leipzig: Deutsche Verlagsactiengesellschaft, 1906.
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