7. Die schöne der Erde.

[111] Es war einmal ein sehr reicher Vater, der hatte eine Frau und einen Sohn. Als er zum sterben kam, hinterliess er seinem Sohne einige Verfügungen, und unter diesen besonders die, er solle niemals den Ort betreten, wo die schöne der Erde wohnte. Der Knabe wuchs heran und lebte glücklich und zufrieden, so lange er die Stadt der schönen der Erde nicht betrat. Aber endlich ergriff ihn eine gewaltige Sehnsucht dorthin zu gehen, obgleich ihn das Verbot im Testament seines Vaters und seine Mutter abhielt; und es vergieng keine lange Zeit, da beschloss er sich auf den Weg zu machen, nahm ein grosses Felleisen mit Goldstücken mit und zog aus, um den Ort zu suchen, wo die schöne der Erde wohnte.

Auf dem Wege nach diesem Orte rastete er bei einer alten Frau, welche ihm, wie ein Wort das andere gab, erzählte, dass in jenem Orte die schöne der Erde wohnte und dass die Jünglinge mit Aufwand vielen Geldes kaum dazu kämen, einen Augenblick ihren Finger oder ihre Hand zu sehen. Als der Jüngling dies hörte, entbrannte er vor Verlangen auch hinzugehen, um wenigstens ihre Hand zu sehen, und wenn es ihn auch noch so viel Geld kostete. Und als er durch die alte den Weg erfahren hatte, gieng er in den Palast des Mädchens und bat, man möchte sie ihn sehen lassen, indem er zugleich die mitgebrachten Goldstücke zeigte. Als ihre Dienerinnen das viele Gold sahen, sagten sie es dem Mädchen, und diese gab Befehl ihn hineinzulassen. Sie stellten ihn an einen Ort, wo er kaum ihren Finger zu sehen bekam, dann nahmen sie ihm seine Goldstücke weg und warfen ihn hinaus. Denn das Mädchen zeigte sich auch ihren Freunden, die dorthin kamen, niemals ganz, sondern das erste Mal zeigte sie ihnen die Hand, das zweite Mal den Unterarm, das dritte Mal den Oberarm u.s.w. Der Jüngling aber war, als er wieder zu der alten zurückkehrte, trotz allem, was er[111] bei dem Mädchen hatte erleiden müssen, doch so aufgeregt und voll von Begierde wieder hin zu gehen, dass er es nicht aushalten konnte. Daher machte er sich eilig auf, um nach Hause zurückzukehren, andres Geld zu holen und wieder zu kommen. Er redete auch mit der alten, und diese trieb ihn noch mehr dazu an, da auch sie Geschenke von ihm bekam. Am folgenden Tage kam der Jüngling in seine Heimat, berauscht von Liebe, und so wie er sein Haus betrat, gieng er gleich hin, um Geld zusammen zu suchen, damit er gleich bereit wäre wieder zu dem Mädchen zu ziehen. Als die arme Mutter ihren Sohn so ohne einen Heller sah, gerieth sie in heftigen Zorn. Sie versuchte ihn von seinem Entschlusse abzubringen, aber was sie auch that, war vergeblich, denn der Jüngling wollte sich auf keine Weise abhalten lassen. Kurz, er nahm das Geld, diesmal mehr als früher, und zog fort. Als er zu dem Mädchen kam, betrogen sie ihn wieder, indem sie ihm ihre Hand zeigten, ihm sein Geld abnahmen und ihn fortjagten. Kurz (um die Erzählung nicht zu sehr auszudehnen), der Jüngling verschleuderte auf diese Weise aus Liebe nach und nach sein ganzes Vermögen, ohne etwas damit zu erreichen, und er, der vormals so reich gewesen war, wurde nun ganz arm.

Nun machte er sich daran, in den Kammern und Kellern seines Vaters zu suchen, ob er dort Geld oder eine andre Kostbarkeit finden möchte, die er dem Mädchen bringen könnte. Zu seinem Erstaunen fand er eine Kappe, die ihn, sobald er sie aufs Haupt setzte, den Augen seiner Mutter entzog, so dass er nicht mehr gesehen wurde, obwol man seine Stimme hörte. Diese Kappe gefiel ihm sehr, und er glaubte, dass er mit ihrer Hilfe das Mädchen überwinden würde. Daher nahm er sie ohne zu zögern mit sich und zog wieder nach dem Orte, wo das Mädchen wohnte. Als er an ihrem Palast angekommen war, setzte er die Kappe aufs Haupt und wurde unsichtbar, so dass er gradeaus ins Zimmer des Mädchens kam, ohne dass ihn einer von ihren Wächtern gesehen hätte. Nun sah er das Mädchen ganz in seiner Schönheit und betrachtete sie, bis es Tag wurde. Dann sprach er zu ihr, und sie hörte die Stimme, aber ihre Augen sahen nichts. Nachdem die beiden[112] lange mit einander geredet hatten, erzählte er dem Mädchen, wer er sei; und dann, auf ihre Liebe vertrauend, enthüllte er ihr auch das Wunder, das die Kappe bewirkte. Da nahm sie ihm dieselbe weg, rief ihre Leute und befahl ihnen den Jüngling fortzujagen unter Beschimpfung und Schlägen.

Als sich der Jüngling wieder hintergangen sah, da ihm das Mädchen die Kappe fortgenommen und ihn schimpflich fortgejagt hatte, da gerieth er in tiefe Betrübniss, weil ihm nun gar keine Hoffnung mehr blieb; und er kehrte verstört und verzweifelt über sein Missgeschick nach Hause zurück. Aber da einmal die verzehrende Sehnsucht nach dem Mädchen sein ganzes Herz ergriffen hatte, konnte er keinen andern Gedanken fassen als diesen; und er gieng wieder in die Kammern seines Vaters, um in ihnen zu suchen, ob er etwas für das Mädchen fände. Er fand dort eine Kanne, die er betrachtete und in der Hand drehte und, da sie bestaubt war, rieb, um den Staub zu entfernen. Wie er sie rieb, erschienen plötzlich vor ihm eine Menge Krieger, die zu ihm sprachen: »Was befiehlst du, Herr? wir sind bereit dir zu dienen«. Als der Jüngling dies sah, überlegte er ein wenig und sprach bei sich selber: »Nun bin ich sicher die schöne der Erde zu gewinnen«. Dann machte er sich voller Freude bereit zu seiner Geliebten zu ziehen.

Auf dem Wege trat er wieder in das Haus der alten ein und schickte durch sie dem Mädchen die Botschaft, sie solle ihn aufnehmen; aber sobald die alte den Mund zum reden geöffnet hatte, rief jene ihren Dienern, und sie warfen sie mit Schimpf hinaus. Die alte kehrte betrübt in ihr Haus zurück und erzählte dem Jüngling die Beschimpfung, die sie im Palast erduldet hatte; aber er bat sie wieder, sie solle noch ein zweites Mal zu dem Mädchen hingehen und ihr sagen, wenn sie ihn nicht gutwillig aufnähme, würde es ihr schlecht gehn. So machte sich die alte auf, noch einmal zu dem Mädchen zu gehen, aus Gefälligkeit für den Jüngling, dessen Sinn entzündet war, und wegen der Geschenke, die er ihr immer gab, obwol sie recht gut wusste, dass nichts auszurichten war. Als das Mädchen sie wieder kommen sah, gerieth sie in solchen Zorn, dass sie ihren Leuten befahl sie zu schlagen und hinauszuwerfen.[113] Und die arme alte Frau entkam unter jammern und wehklagen mit Mühe ihren Händen und ihren Schlägen.

Als die alte zurückkehrte und dem Jüngling erzählte, was sie erduldet hatte, sah er ein, dass er auf friedliche Weise nichts ausrichte. Er nahm also die Kanne und rieb sie. Sogleich erschienen die Krieger und sprachen zu ihm: »Was befiehlst du, Herr? wir wollen dir dienen«. Und der Jüngling schickte sie alle, mit schönen Kleidern angethan, nach dem Palaste der schönen der Erde, um dort zu spielen und kriegerische Uebungen zu machen, bis er sie wieder zurück riefe. Und auf der andern Seite schickte er die alte abermals zu dem Mädchen und liess ihr sagen: wenn sie ihn nicht gutwillig aufnähme, würde er als Feind kommen, mit diesen seinen Kriegern, die sie auf der einen Seite ihres Palastes sehen könne. Als das Mädchen dies von der alten hörte und die Krieger sah, erschrak sie und gab schleunigst den Befehl, den Jüngling mit grossen Ehren zu empfangen. Wie nun der Jüngling kam, empfiengen ihn alle Grossen des Palastes und sie selbst mit solchen Ehren und solcher Verstellung, dass er reichlich befriedigt war. Hierauf sagte der Jüngling zu ihr: »Da du mich so sehr gequält hast, will ich dich jetzt nach Tingljimaimun1 schicken«. Aber das Mädchen wusste ihn zu überreden, und er verzieh ihr.

Da sich die beiden bei dieser Unterredung versöhnt hatten, setzte der Jüngling Vertrauen auf ihre Liebe und enthüllte ihr, dass seine ganze Macht in der Kanne ruhe. Jene nun nahm ihm heimlich die Kanne fort, und als sie sie rieb, erschienen sogleich die Krieger und sprachen zu ihr: »Was befiehlst du, o Herrin, dass wir für dich thun?« Der Jüngling erhob sich und sagte: »Ihr seid meine Krieger, und nicht die ihrigen«. Aber sie erwiderten ihm: »Die Kanne ist in der Hand des Mädchens«. Und das Mädchen sprach zu ihnen: »Nehmet diesen Jüngling und bringt ihn nach Tingljimaimun«. Und sie fassten ihn und brachten ihn nach Tingljimaimun.

Nachdem der Jüngling in diesem entfernten Lande angekommen[114] war, irrte er allein, ohne einen bekannten Menschen, ohne Nahrung umher und kam immer tiefer in die Einöde hinein, ohne etwas zum essen zu finden. Endlich fand er einige rothe Trauben, und hungrig, wie er war, ass er ein paar Beeren davon; aber wie er sie gegessen hatte, wuchsen ihm sogleich ebensoviel Hörner auf dem Gesicht. Als er diese Hörner auf seinem Antlitz sah, erschrak er und ward betrübt, indem er mit Erstaunen bemerkte, wovon sie entstanden; anderseits aber hatte er so grossen Hunger, dass er es ohne zu essen nicht aushalten konnte. Bei solchem Unglück ergriff den Jüngling ein so grosser Schmerz, dass er seiner Existenz überdrüssig wurde und gar nicht mehr zu leben wünschte. Während er nun da und dort umherirrte, fand er auch weisse Trauben und, da er hungrig war, ass er davon; und bei der ersten Beere begannen die Hörner abzufallen. Soviel Beeren er von diesen ass, soviel Hörner fielen ihm ab. Auf diese Weise erkannte der Jüngling, dass, wenn er rothe Beeren ass, ihm Hörner wuchsen, und wenn er weisse ass, sie wieder abfielen; und er freute sich sehr darüber, denn es fiel ihm sogleich die Sache mit dem Mädchen ein, und er gedachte diesen glücklichen Zufall zu benutzen. Mit den rothen Beeren wollte er dem Mädchen Hörner wachsen lassen und mit den weissen sie dann heilen; und auf diese Weise gedachte er sie endlich in seine Hand zu bekommen.

Er füllte rasch zwei Körbe mit Trauben, einen mit rothen und einen mit weissen, und machte sich auf, um schleunigst in das Land des Mädchens zurückzukehren. Nachdem er einen langen Weg zurückgelegt, kam er ans Meer, wo er warten musste, bis er ein Fahrzeug zum übersetzen erblickte. Nach einiger Zeit zeigte sich von weitem ein Schiff; der Jüngling zog, da er kein Taschentuch hatte, seine Beinkleider aus und gab damit dem Schiffe ein Zeichen, es solle heran kommen und ihn aufnehmen. Das Schiff näherte sich auch, aber als sie diesen Mann in Lumpen sahen, nahmen sie ihn nur nach vielen Bitten mit Mühe auf. Als er in seine Heimat gekommen war, zog er aus, um die rothen Trauben zu verkaufen, und kam bald in die Nähe des Palastes des Mädchens. In dieser Zeit fand man keine Trauben mehr, denn ihre Zeit war[115] vorbei. Der Jüngling wusste es zu machen, dass sie beim Palaste des Mädchens aufmerksam wurden und heraus kamen, um Trauben zu kaufen; auch das Mädchen sah das und sie gab einer Dienerin den Auftrag, ihr welche zu bringen. Diese unglückselige Dienerin ass aus Naschhaftigkeit nur eine einzige Beere, und sogleich wuchs ihr auf der Stirn ein Horn. Sie wusste nicht, woher das Horn entstanden war, und schloss sich aus Scham darüber in ihr Zimmer ein. Wie nun das Mädchen die Trauben von ihr verlangte, brachte sie sie ihr nicht selbst, sondern schickte sie durch eine andere Dienerin. Das Mädchen nahm die Trauben und ass sie mit grossem Wolbehagen, und sogleich wurde ihr Gesicht voll von Hörnern. Sie erschrak darüber so sehr, dass sie fast den Verstand verloren hätte. Als einige Tage vergiengen, ohne dass sie genas, sah sie sich gezwungen Aerzte rufen zu lassen. Sie pflegte die Aerzte, die sie behandelten, nur unter der Bedingung zu nehmen, dass sie ihnen den Kopf abschlagen liess, wenn sie sie nicht heilten, weil sie nicht umsonst einem Manne unter die Augen getreten sein wollte. Unter den jetzigen Umständen schickte sie die Aerzte zuerst zu ihrer Dienerin, damit sie dieselbe zuerst heilten, und dann sie selbst, da sie die gleiche Krankheit hatten.

Der Jüngling wusste, dass der Tag kommen würde, wo man ihn als Arzt riefe. Darum entfernte er sich für einige Tage, damit die Krankheit sich in die Länge zöge und das Unbehagen des Mädchens noch zunähme. Endlich aber legte er prachtvolle Gewänder an, gieng in den Palast des Mädchens und sagte, er sei Arzt und verspräche die kranke zu heilen. Man sagte ihm, wenn er sie nicht heilte, würde ihm der Kopf abgeschlagen werden, und er war auch mit dieser Bedingung zufrieden. Zuerst schickte man ihn zu der Dienerin. Er hatte die weissen Trauben bei sich, zerdrückt und zubereitet wie eine Salbe, damit man nicht erkenne, was es sei. Er begann nun der Dienerin abzufragen, was sie gethan und was sie nicht gethan hätte, kurz jeden Umstand, der ihre Krankheit betraf; »Sei aufmerksam,« sagte er ihr, »denn wenn du mir nicht genau Bescheid gibst, wirst du nicht geheilt«. Die Dienerin nun erzählte ihm von vielen andern Dingen und auch von der[116] Weinbeere, die sie gegessen hatte. Da gab er ihr ein Heilmittel (nämlich die weissen Beeren), das er bei sich hatte, und sogleich fiel das Horn ab, und sie war geheilt. Als die schöne der Erde dies erfahren hatte, schickte sie eilig um den Arzt, in grosser Erwartung und Aufregung.

Er trat in das Zimmer des Mädchens und begann sie ebenso auszufragen, wie er die Dienerin ausgefragt hatte, indem er sagte, wenn sie ihm auch nur eines ihrer Worte verheimlichte, würde sie nicht gesund werden. Da erzählte sie ihm alle ihre Thaten, und sie kamen bis zu den Goldstücken, die sie so oft dem Jüngling abgenommen hatte. Er sprach zu ihr: »Gib mir dieses Geld«. Dann zeigte sie ihm die Kanne, die sie dem Jüngling genommen hatte, und that so, als ob sie die Kappe vergässe. Aber der Arzt sprach zu ihr: »Du hast noch etwas nicht erzählt«. Und also erzählte sie auch von der Kappe, die sie ihm weggenommen hatte, ebenso wie die Kanne und das Gold. Dann gab er ihr das Heilmittel zu trinken, und sie genas sofort. Endlich rieb er die Kanne, und sogleich erschienen die Krieger und sprachen zu ihm: »Was befiehlst du, Herr? du bist unser früherer Gebieter«. Hierauf sprach er zu dem Mädchen: »Nun habe ich dich wieder in meiner Hand; ich bin der, dem du das und das und das (er zählte ihr alles der Reihe nach auf) angethan hast. Du hast mich nach Tingljimaimun geschickt, ich aber will dich mit mir in meine Heimat nehmen und dich zu meiner Frau machen«. Er befahl den Kriegern sie mitsammt ihrem Palaste und allem, was sie hatte, aufzuheben und in sein Dorf zu bringen. Als die Mutter ihren Sohn sah mitsammt der schönen der Erde und diesem Palaste und allen diesen Schätzen, da freute sie sich und erstaunte ohne aufhören. Und so lebten sie in Zukunft alle glücklich und froh zusammen.


Zu diesem M. verweise ich auf meine Anmerkung zu Gonzenbach Nr. 312 und auf die Cosquins zu seinen Contes pop. lorrains, Nr. 11, in der Romania V, 363 u. X, 566, wozu noch nachzutragen sind De Gubernatis, Zoological Mythology, I, 288 (M. aus Osimo in den Marken); Coronedi Berti, Novelline popolari bolognesi, Nr. 9 (im Propugnatore VII, 1, 409); Nerucci, Novelle popolari montalesi,[117] Nr. 57; Finamore, Tradizioni popolari abruzzesi, Vol. I (Novelle), Nr. 30. Einige hergehörige, bisher aber nicht berücksichtigte litterarische Erzeugnisse gedenke ich später eingehend zu besprechen, zur Zeit bin ich es aus gewissen Gründen noch nicht im Stande.

R.K.

1

Tingljimaimún; ich weiss nicht, ob dieser Name etwas bedeutet, maimún heisst »Affe«.

2

Zeile 3 der Anmerk. ist 142 (statt 193) und 158 (statt 188) zu lesen.

Quelle:
Meyer, Gustav: Albanische Märchen. In: Archiv für Litteraturgeschichte, 12 (1884), S. 111-118.
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