8. Das Märchen vom kleinen Hühnchen.

[38] Es war einmal ein halbwüchsiges Hühnchen, das wurde ausgeschickt in ein gar fernes Land um einem reichen Herrn Geld zu bringen. Es nahm die Last auf seinen Rücken und[38] blieb so stehen. Da bekam es Prügel. Da fing es an zu gackern und machte sich mit seiner Last Geld auf dem Rücken auf den Weg.

Als es nun so dahin ging, erblickte es einen Fuchs. »Guten Tag,« sagten sie einander. »Wo gehst du denn hin, halbwachsenes Hühnchen?« – »Ich gehe als Bote zu einem reichen Herrn,« antwortete das Hühnchen.

»Wir könnten eigentlich zusammen gehen, Gefährte,« sagte der Fuchs. – »Ich will nicht; du bist ein gar zu verlogener Geselle,« sagte das Hühnchen. – »Ich werde nicht mehr lügen; nimm mich nur mit,« sagte der Fuchs.

So gingen sie denn zusammen. Aber auf dem Wege wurde der Fuchs müde. »Ach, ich bin so müde,« sagte er. Da steckte das Hühnchen ihn in seinen Busenlatz.

Weiter auf dem Wege erblickte es einen Löwen. »Guten Tag,« sagten sie einander. »Wo gehst du denn hin?« fragte der Löwe das Hühnchen. »Ich bin auf dem Wege zu einem reichen Herrn,« antwortete es. »Wir wollen doch zusammen gehen; ich werde dich begleiten,« sagte der Löwe. »Ich will nicht,« sagte das Hühnchen. »Wenn wir etwa auf dem Wege Stuten antreffen, könntest du welche stehlen.«

»Ich werde nicht stehlen; selbst wenn unser Weg mitten durch die Heerde Stuten ginge, werde ich keine stehlen,« sagte der Löwe. »Gut,« sagte das Hühnchen und sie gingen zusammen.

Weiterhin auf dem Wege sagte der Löwe: »Ach, ich bin so müde, Gefährte.« Da steckte das Hühnchen ihn auch in seinen Busenlatz und ging weiter.

Weiterhin auf dem Wege erblickte es einen Tiger. »Guten Tag, Gefährte,« sagten sie einander. »Wo gehst du denn hin?« fragte der Tiger. »Ich bin auf dem Wege zu einem reichen Herrn, dem soll ich Geld bringen,« sagte das halbwachsene Hühnchen.

»Lass uns zusammen gehen, Gefährte,« sagte der Tiger. »Ich will nicht. Wenn du unterwegs Menschen triffst, könntest du sie töten,« sagte das Hühnchen zum Tiger. »Das werde ich nicht tun,« sagte der Tiger. Da nahm das Hühnchen ihn mit und sie gingen weiter.[39]

Weiterhin auf dem Wege sagte der Tiger: »Ach, ich bin so müde.« Da wurde er auch in den Busenlatz gesteckt und das halbwachsene Hühnchen ging weiter.

Wieder weiterhin erblickte es einen wilden Stier1. »Guten Tag, Genosse,« sagten sie einander. »Wo gehst du denn hin?« wurde das halbwüchsige Hühnchen gefragt. »Ich gehe zu einem reichen Herrn,« antwortete es.

»Lass uns zusammen gehen, kleiner Gefährte,« sagte er zu dem halbwüchsigen Hühnchen. »Ich will nicht,« sagte es. »Wenn du unterwegs Menschen oder Stiere erblickst, so könntest du mit ihnen Streit suchen.«

»Nein, das werde ich nicht tun; lass uns nur zusammen gehen,« sagte der wilde Stier. So gingen sie denn zusammen als Gefährten. Unterwegs sagte der wilde Stier: »Ach, ich bin so müde.« Da wurde er auch in den Busenlatz gesteckt.

So setzte denn das halbwüchsige Hühnchen seinen Weg fort und kam am Orte seiner Bestimmung an und brachte das Geld.

Da hatte man es sehr gern, und man liess es zur Nacht in einem Hause, das mitten im Weizenfelde stand. Am nächsten Morgen, als man hinging um das Hühnchen zu sehen, da war all der Weizen verschwunden.

»Ei, was ist denn das für eine Art Hühnchen, das mir mein Freund da geschickt hat!« sagte der reiche Herr und wurde gar böse auf das Hühnchen. »Nun wollen wir es aber gleich zu den Schafen tun.« Da wurde es denn unter den Schafen gelassen.

Bald darauf als man hinging es zu sehen, waren alle die Schafe verschwunden.

»Was ist denn das für eine Art Hühnchen!« sagte der Herr und sperrte es unter die Stuten.

Eine Weile darauf als man ging es zu sehen, da waren alle die Stuten fort.

»Ei, was soll ich denn mit so einem bösen Hühnchen anfangen, ich werde es gleich töten,« sagte der reiche Herr und schlug das Hühnchen tot.

Quelle:
Lenz, Rudolf: Aurakanische Märchen und Erzählungen. Valparaiso: Universo de Guillermo Helfmann, 1896, S. 38-40.
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