19. Der Zwerghirsch und die Schildkröte

[63] Plandok, der Zwerghirsch, und Kelap, die Schildkröte, gingen eines Tages zusammen auf die Nahrungssuche. Dicht neben einem Hause fanden sie einen Baum, der voll reifer Früchte war. »Ich kann nicht auf den Baum klettern,« sagte Plandok, »aber ich will dir beistehen, damit du auf jenen Zweig steigen kannst.« Damit schob er Kelap auf den untersten Ast. Kelap warf alle Früchte herunter; aber dann wußte er nicht, wie er wieder nach unten gelangen sollte und bat Plandok um Hilfe. »Na! Komm herunter wie du willst,« sagte Plandok. »Aber ich kann weder rückwärts noch vorwärts.« – »Dann laß dich fallen,« meinte Plandok; Kelap ließ sich also fallen und landete mit lautem Krach auf dem Boden. Die Leute im Hause hörten das Gepolter und sagten: »Ein Durian ist herabgefallen!« Nun begann Plandok die Früchte in zwei Haufen zu teilen. »Der ist für mich, und der für dich,« rief er; und jedesmal, wenn er auf Kelaps Haufen eine Frucht schob, rief er noch lauter als vorher: »Halloh,« sagten die Leute im Hause, »da wird etwas verteilt,« und sie rannten heraus, um zu sehen, was es gäbe. Plandok machte sich sogleich mit seiner Beute aus dem Staube; und Kelap versteckte sich, so gut es ging, unter den breiten Blättern einer Taropflanze. Die Leute merkten, daß der Baum seiner Früchte beraubt war, und die Spuren Kelaps führten bald zur Entdeckung seines Schlupfwinkels. »Hier ist der Dieb!« riefen die Leute, »wir wollen ihn ins Feuer stecken.« – »Schön,« entgegnete Kelap, »steckt mich ins Feuer; das letzte Mal hat man es nur halb gemacht, und meine eine Seite ist vom Feuer unberührt geblieben.« – »Nein, das ist keine Strafe,« sprachen[63] die Leute, »wir wollen ihn in der Zuckerpresse quetschen.« – »Ach ja, bitte, quetscht mich in der Zuckerpresse,« antwortete Kelap, »das letzte Mal, als man mich in die Presse kriegte, ist bloß meine eine Seite plattgedrückt worden.« – »Das ist auch keine Strafe,« riefen sie, »wir wollen ihn in den Fluß werfen.« – »O, bitte, werft mich nicht in den Fluß,« sagte Kelap und fing an zu weinen. Da warfen sie die Schildkröte ins Wasser. Kelap schwamm in die Mitte des Stroms, reckte den Kopf über das Wasser empor und rief: »Fein, so ist's recht, hier bin ich zuhause!« Als die Leute merkten, daß sie angeführt worden waren, wollten sie sich rächen und das Wasser mit Tuba-Wurzeln vergiften. Die Fledermaus hatte jedoch den Anschlag vernommen; sie flog sofort zu Kelap und riet ihm, den Fluß zu verlassen. »Nein, ich werde hierbleiben,« antwortete Kelap, »hier bin ich am sichersten.« Er ging weiter und machte zwischen den großen Steinen im flachen Wasser Halt, wo er sich mäuschenstill verhielt.

Inzwischen hatten die Leute angefangen, Tuba-Wurzeln auf den Steinen zu zerschlagen; und ein Mann, der Kelaps Rücken für einen Stein hielt, begann darauf seine Tuba-Wurzeln zu zerreiben. Da ließ sich Kelap ganz allmählich immer tiefer und tiefer sinken, so daß das Wasser ihn schließlich bedeckte. »Nanu!« meinte der Mann, »das Wasser steigt, dann kann man den Fluß nicht vergiften.« Und damit zogen alle heim.

Quelle:
Hambruch, Paul: Malaiische Märchen aus Madagaskar und Insulinde. Jena: Eugen Diederich, 1922, S. 63-64.
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