Es wohnte einmal eine alte, ehrliche Frau in Selde; sie war arm un konnte sich nicht anders als durch Betteln die Mittel zum Leben verschaffen. Aber sie hatte einen Sohn, und das war ein begabter Kerl und flink im Lernen und im Stehlen. Wenn sie nun zu den Nachbarn kam, so hörte sie wenig gute Worte über den Buben. Die Leute sagten, ob er denn nicht so viel stehlen könne, daß sie nicht zu betteln brauche.
[135] Wenn sie das hörte, wurde sie traurig, und schließlich wollte sie dem Gerede ein Ende machen. Da sagte sie zu ihrem Sohn: »Nun mußt du gehen und dir einen Dienst suchen, denn ich kann dich nicht länger daheim brauchen. Aber du mußt auf alle Fälle mit deinem Herrn ausmachen, daß er dich lesen lehrt, denn es ist immer gut, wenn man lesen kann.«
Da zog der Bursche südwärts und kam nach Aagesholm. Hier erkundigte er sich nach einem Dienst und fragte, ob man nicht einen Burschen brauchen könne. »Ja«, sagte der Mann, »kannst du die Schweine hüten?« Nein, damit wollte er nichts zu tun haben, er wolle nicht der niederste Knecht auf dem Hofe sein. »Ja, dann können wir dich nicht brauchen, mein Freund, dann kannst du gehen.«
Nun kam er ans Kloster Grinderslev und fragte auch da nach einem Dienst. Da hätte er Schafhirte werden sollen, aber auch dazu konnte er sich nicht bequemen.
Es war spät am Nachmittag, als er vom Kloster Grinderslev wegging, und es war schon dunkel, als er an den Eskjaer Wald kam. Nun bekam er Angst und traute sich nicht weiterzugehen, als der Weg nach Süden bog, und da stand er und weinte.
Da kamen zwei Leute aus dem Wald heraus und begegneten ihm. »Warum weinst du denn?« sagten sie. Er sagte, er habe Angst, denn er habe sich verirrt, und es sei schon so spät. Er sei ausgezogen, um sich einen Dienst zu suchen, und habe schon auf zwei Höfen angefragt, wo er wohl hätte bleiben können, als Schweinehirte und als Schafhirte, aber keiner von den Diensten habe ihm der Mühe wert geschienen, und deshalb sei er weitergegangen. Wenn er jetzt noch einmal dort wäre, so hätten ihn die Leute zu jedem Dienst bekommen können, und noch obendrein wollte er nichts verlangen. »Ach, so schlimm ist es nicht«, sagten die Männer, »du kannst ja bei uns in Dienst treten.« – »Aber was soll ich bei euch tun?« – »Du sollst stehlen lernen, denn wir sind, offen gesagt, Räuber von Profession.«
»Das ist ja wunderschön«, sagte er, »das ist eine Arbeit, zu der ich mein Lebtag Lust gehabt habe. Aber meine Mutter [136] hat gesagt, ich solle auch lesen lernen, das solle ich mir bei meinem Dienstherrn ausbedingen.« – »Das braucht uns nicht im Weg zu stehen«, sagten die Räuber, »wir wollen schon dafür sorgen, daß du lesen lernst.«
Also ging er mit den Räubern heim. Sie wohnten im Wald in einer Höhle unter der Erde und hatten eine alte Mutter, die ihnen haushielt. Sie war noch aus dem uralten Geschlecht der Menschen, die nur ein Auge mitten auf der Stirn und eine Brust unter dem Kinn hatten.
Den Sommer über blieb der Bursche bei ihnen und lernte eifrig sein Handwerk, aber im Winter, wenn Arbeit und Verdienst knapp waren, gaben sie ihn bei einem alten Bauern in Kost, der ihm das Lesen beibringen sollte. Da war er mehrere Winter lang, aber im Sommer war er draußen in der Räuberhöhle.
Als er erwachsen war, starb der alte Bauer, und er hatte eine junge Frau gehabt. Die gefiel dem Burschen gut, und er gefiel ihr auch, und da machte er ihr einen Antrag und bekam ihr Jawort. Sie hielten Hochzeit, und seine Lehrmeister waren auch beim Fest, vielleicht als Zeugen.
Als er nun auf diese Art ein begüterter Bauer geworden war, nahm er sich mit Eifer der Bauernarbeit an und paßte gehörig auf, daß alles richtig besorgt wurde, und ging niemals aus und pflegte mit niemand Verkehr. Das kam seiner Frau wunderlich vor, und sie äußerte sich auch darüber. »Du bist ja ein schreckliches Haustier«, sagte sie, »das mir immer daheim sitzen bleibt. Du solltest auch einmal hingehen und mit deinen Nachbarn reden.« – »Ach, dabei kommt nichts heraus, besser ist es, wenn man zu Hause bleibt und auf sein Eigentum achtgibt«, sagte er darauf, und es wurde nicht weiter darüber gesprochen.
Aber auf einmal kam Befehl, daß sich alle Leute mit dem Zehnten in Skive einfinden sollten. Damit war er gar nicht zufrieden und sagte zu seiner Frau, er habe gar keine Lust, von Hause fortzugehen. »Ach, das macht doch nichts«, sagte sie, »du kannst den Knecht mitnehmen, die Magd und ich werden schon unterdessen zu Hause nach dem Rechten sehen.« – »Ja, das ist schon recht«, gab er [137] zurück, »aber es werden Fremde zu dir kommen, wenn ich fort bin.« – »Ach, wie sollte denn das zugehen«, sagte sie, »du kommst zu keinem Menschen, und so kommt wohl auch niemand zu uns. Und wenn auch, so macht es doch nichts.« – »Doch, das kann gerade fatal genug sein, du mußt sie wohl aufnehmen und genau aufpassen, was sie sagen.«
An demselben Tag, an dem der Mann fortgegangen war, kamen auch zwei fremde Männer und besuchten sie. Sie kannte sie nicht weiter, aber sie sah doch, daß sie bei ihrer Hochzeit gewesen waren. Aber deshalb wußte sie doch nicht, wo sie herkamen. Sie bewirtete sie aufs beste, und sie erzählten das eine und das andere, aber nichts von dem, was sie sagten, schien ihr besonderer Aufmerksamkeit wert.
Als sie im Fortgehen waren, hatte sie kurz vorher die Schweine gefüttert, und sie standen da und fraßen aus einem Trog, der vor der Tür stand, denn damals hatte man die Schweine nicht wie jetzt im Koben, sondern sie liefen frei herum und suchten sich viel von ihrem Futter selbst. Wie sie nun die Fremden zur Tür begleitete und sie an den Schweinen vorbeigingen, befühlten sie eines und sagten: »Das hier ist ein schönes Schwein, hier ist was zu holen.« Das Wort kam ihr wunderlich vor, denn sie hatten ja nichts von ihrem Schwein zu holen, und wenn es da etwas zu holen gab, so konnte sie es ja selbst tun. Aber so sehr nahm sie sich die Rede nicht zu Herzen.
Am Abend, als der Mann nach Hause kam, fragte er gleich, ob keine Fremden dagewesen wären. Ja, zwei Männer, die auch bei ihrer Hochzeit gewesen wären, hätten sie aufgesucht. »Was haben sie denn gesagt?« fragte er ganz neugierig. »Ach, sie haben nichts von Bedeutung gesagt. Doch, eben fällt mir ein, daß ich die Sau gefüttert hatte und sie vor der Tür stand und fraß.« Da gingen gerade die Fremden vorbei und blieben stehen und befühlten die Sau und sagten: »Das ist eine schöne Sau, hier gibt es etwas zu holen.«
»O weh«, sagte der Mann, »da müssen wir die Sau sofort schlachten.« – »Ja, das können wir aber nicht vor [138] morgen tun«, sagte die Frau. – »Nein, das muß sofort sein, du mußt den Kessel voll Wasser füllen und aufs Feuer stellen, und wir müssen alles noch heut abend besorgen.« Also richteten sie die Schlachterei ein, brachten die Sau um, sengten ihr die Borsten und wuschen sie und wollten sie aufhängen.
Da meinte die Frau, für heute solle man es genug sein lassen, man könne die Sau ja bis morgen hängenlassen. – »Nein, das geht unter keinen Umständen«, sagte der Mann, »wir müssen sie ausnehmen und verstecken, und zwar gut verstecken; aber wo sollen wir sie hintun?« – »Am besten legen wir sie in den Ofen, da ist sie nicht so leicht zu finden.« – »Das wäre nicht das Dümmste«, sagte der Mann. Und sie nahmen die Sau gleich aus und versteckten sie im Ofen; dann gingen sie zur Ruhe.
Kurz darauf kamen die Diebe und merkten gleich, daß die Sau nicht da war. Da machten sie aus, der eine müsse in den Garten gehen und einen Armvoll Kraut mitnehmen, und der andere solle sich zuerst umsehen, wo die Sau sei, und sie mitnehmen. Dieser Räuber ging nun in den Stall und machte einige Kühe los. Die fingen draußen zu brüllen an und machten Lärm, und davon wachte der Mann auf und sagte zu seiner Frau: »Draußen beim Vieh ist etwas los. Ihr habt es wohl am Abend nicht richtig angebunden.« Aber die Frau wußte ganz genau, daß sie es selbst angebunden hatte: »Dann verstehe ich nicht, was da los sein mag.«
Der Mann ging aber doch hinaus, um zu sehen, wie das zuging. Als er zur Tür hinaustrat, stand der Dieb dahinter und schlüpfte hinein. Aber er konnte den Speck in der Eile nicht gleich finden. »Kalt war es da draußen«, sagte er pustend, und machte des Mannes Stimme nach, »es ist am besten, ich mache, daß ich ins Bett komme und wieder warm werde. Aber übrigens, wo haben wir denn die Sau am Abend versteckt?« – »In den Ofen haben wir sie gelegt; kannst du dich nicht mehr erinnern?« – »Ja freilich, da muß ich gleich hinausgehen und sehen, ob sie noch dort ist; ich bin voller Angst, sie könnte uns abhanden kommen.« Damit zog er ab, holte [139] die Sau aus dem Backofen und rannte damit gegen den Wald. Freilich war sie nicht so leicht zu tragen, so daß er nicht sonderlich rasch vorwärts kam.
Bald darauf kam der Mann wieder ins Haus und zitterte auch vor Kälte und wollte eiligst ins Bett und sich wärmen. Da sagte die Frau: »Nun, war die Sau noch im Ofen?« – »Die Sau im Ofen? Das will ich doch hoffen; ich war draußen im Kuhstall und habe das Vieh wieder festgebunden; nach der Sau habe ich nicht gesehen.« – »Aber vor einem Augenblick, als du im Zimmer warst, hast du doch gesagt, du wolltest nach ihr sehen, und hast getan, als ob du nicht mehr wüßtest, wo wir sie versteckt hätten?« – »Ist einer dagewesen und hat nach der Sau gefragt?« – »Ja, freilich, kannst du dich denn nicht mehr erinnern, daß ich dir sagte, sie läge draußen im Backofen?«
»Dann sind wir aber wahrhaftig zum Narren gehalten worden, das merke ich«, sagte der Mann und sprang wieder aus dem Bett, fuhr in höchster Eile in die Kleider und lief in den Garten, wo er einen Armvoll Kraut mitnahm; und dann rannte er querfeldein gegen den Wald zu, denn er wußte noch aus alten Zeiten, daß die Räuber, wenn sie Speck stahlen, auch gleich für Kraut sorgten.
Schließlich holte er den ein, der die Sau trug; der dachte nicht anders, als daß der mit dem Kraut sein Kamerad sei. »Hast du den Speck?« – »Ja, es ging großartig.« – »Dann wollen wir tauschen, denn du bist jetzt wohl müde, weil du die Sau so lange getragen hast, ich will damit vorausrennen.« So bekam er den Speck und wandte sich damit seitwärts. Einen Augenblick darauf machte er kehrt und lief ganz sachte heimwärts mit der Sau.
Inzwischen waren beide Diebe zu Hause angelangt, und jeder hatte einen Armvoll Kraut. »Was, hast du Kraut?« sagte der eine. »Ja, und ich sehe, du hast auch Kraut. Nun haben wir Kraut genug, aber viel zu wenig Speck.« Nun merkten sie, daß sie an der Nase herumgeführt worden waren. Der, welcher die Sau getragen hatte, rannte gleich wieder in der Richtung nach dem Hof zu davon, so rasch er konnte, [140] und kam dem Mann noch zuvor, weil der mit seiner Last nicht schnell vom Fleck kommen konnte. Da setzte der Dieb sich auf den Misthaufen, wie wenn er seine Notdurft verrichtete, und wollte die Bäuerin vorstellen.
Wie nun der Mann pustend mit dem Speck angelaufen kam, sagte der auf dem Misthaufen: »Ach, das war gewiß ein schlimmer Weg, den du hinter dem Speck her gehabt hast, Männchen; lehn das Schwein nur gegen die Wand und geh hinein und hole dir einen Bissen Brot und einen Schluck zur Stärkung, ich bringe es dann hinein.«
Der Mann ging auch hinein und holte sich ein Stück Brot und wartete, daß die Frau kommen sollte; aber es kam keine Frau, denn der Dieb hatte sich wieder gegen den Wald zu verzogen; und da ging der Mann in die Schlafkammer. Da lag die Frau im Bett und schlief tief und fest. Nun merkte er wohl, daß er wieder der Genarrte war, und machte sich abermals auf, um nochmals sein Glück zu versuchen. Diesmal konnte es ihm aber nichts nützen, nochmals Kraut mitzunehmen, und er mußte sich ein anderes Mittel ausdenken.
Als er an die Räuberhöhle kam, waren die Diebe bereits daran, den Speck zu salzen. Nun wußte er zuerst nicht, wie er es anfangen sollte, die Diebe aus der Höhle zu jagen, denn hinaus mußten sie, wenn er seine Sau wiederbekommen wollte. Schließlich fiel ihm ein, daß ihre alte Mutter kürzlich gestorben war, und nun wollte er versuchen, sich für ihren Geist auszugeben, um ihnen Schrecken einzujagen. Er zog sich aus und ließ sich rückwärts ein Stück weit in den Höhleneingang hineingleiten. Als sie hörten, daß sich am Eingang etwas rührte, lief einer mit einem Licht hin, um zu sehen, was es sei.
Da fiel sein Blick auf dieses breite »Gesicht« mit einem Auge in der Mitte und wie mit einer Brust unter dem Kinn, und er erschrak ganz unsäglich.
»Ach!« schrie er, »da kommt unsere Mutter«, und er warf das Licht weg, und alle beide rannten durch eine Hintertür hinaus und eiligst in den Wald. Nun war der Bauer allein Herr im Haus und nahm den Speck und verschiedenes [141] andere, was ihm gefiel, und wanderte geruhig heimwärts. Gegen Morgen kamen die Diebe in ihre Höhle und merkten nun, wie es sich mit dem Geist verhalten hatte. Seit der Zeit versuchten sie nie mehr, den Bauern zu bestehlen, denn sie hatten gesehen, daß er die Kunst auch verstand.
Buchempfehlung
Die 1897 entstandene Komödie ließ Arthur Schnitzler 1900 in einer auf 200 Exemplare begrenzten Privatauflage drucken, das öffentliche Erscheinen hielt er für vorläufig ausgeschlossen. Und in der Tat verursachte die Uraufführung, die 1920 auf Drängen von Max Reinhardt im Berliner Kleinen Schauspielhaus stattfand, den größten Theaterskandal des 20. Jahrhunderts. Es kam zu öffentlichen Krawallen und zum Prozess gegen die Schauspieler. Schnitzler untersagte weitere Aufführungen und erst nach dem Tode seines Sohnes und Erben Heinrich kam das Stück 1982 wieder auf die Bühne. Der Reigen besteht aus zehn aneinander gereihten Dialogen zwischen einer Frau und einem Mann, die jeweils mit ihrer sexuellen Vereinigung schließen. Für den nächsten Dialog wird ein Partner ausgetauscht indem die verbleibende Figur der neuen die Hand reicht. So entsteht ein Reigen durch die gesamte Gesellschaft, der sich schließt als die letzte Figur mit der ersten in Kontakt tritt.
62 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.
428 Seiten, 16.80 Euro