Junker Rowland.

Jung Rowland und seine Brüder,

Die warfen nach dem Ziel,

Jung Ellen, ihre Schwester,

Nahm theil an ihrem Spiel.


Sanft wurde der Ball geworfen

Und aufgefangen gemach,

Dann flog er, mächtig geschleudert,

Hoch übers Kirchendach.


Jung Ellen ist um die Ecke geeilt,

Den Ball sie sucht mit dem Blick.

Die Brüder warten und warten,

Doch sie kommt nicht zurück.


Sie suchen im Osten und Westen,

Sie rufen in Feld und Wald,

Doch von Ellen – wie groß ist ihr Jammer! –

Keine Antwort entgegenschallt.


Endlich gieng ihr ältester Bruder zu dem Zauberer Merlin, erzählte ihm den Fall und fragte ihn, ob er wüsste, wo Maid Ellen sei.

»Die holde Maid Ellen,« erwiderte der Zauberer, »muss von den Elfen entführt worden sein, weil sie in entgegengesetzter Richtung zur Sonne um die Kirche gegangen ist. Sie ist nun im finsteren Thurm des Königs vom Elfenland, und es gehört der kühnste Ritter der Christenheit dazu, sie zurückzubringen.«[1]

»Wenn es möglich ist, sie zurückzubringen,« sagte ihr Bruder, »so werde ich es thun oder das Wagnis mit dem Leben bezahlen.«

»Möglich ist es,« versetzte Merlin, »aber wehe demjenigen, der es versucht, bevor er genau unterrichtet ist, was er zu thun hat.«

Der älteste Bruder Maid Ellens hatte keine Angst vor den Gefahren und ließ sich von dem Versuche nicht abhalten. So bat er den Zauberer, ihm zu sagen, was er thun und was er unterlassen müsse, wenn er sich auf die Suche nach seiner Schwester begebe. Nachdem ihn Merlin unterrichtet und er alles wiederholt hatte, machte er sich auf den Weg ins Elfenland.


Sie harren in Kummer und Zweifel,

Und Tage und Wochen vergehen,

Doch wehe dem armen Bruder,

Denn er ist nicht wieder zu sehen.


Da wurde der zweite Bruder überdrüssig, noch länger zu warten, und er gieng zum Zauberer Merlin und fragte ihn um Rath, wie sein Bruder. Dann gieng er fort, um Maid Ellen zu suchen.


Sie harren in Kummer und Zweifel,

Und Tage und Wochen vergehen,

Doch wehe dem armen Bruder,

Denn er ist nicht wieder zu sehen.


Und als sie lange, lange gewartet hatten, da wollte Junker Rowland, der jüngste von Maid Ellens Brüdern, fortgehen, um sie zu suchen. Und er bat seine Mutter, die gute Königin, ihn fortzulassen. Sie wollte zuerst nichts davon hören, denn er war das letzte und liebste ihrer Kinder, und mit ihm hätte sie alles verloren. Aber er bat und bat immer wieder, so lange, bis die gute Königin es ihm erlaubte, und sie gab ihm seines[2] Vaters gutes Schwert, das traf mit jedem Streich. Als sie es ihm umgürtete, da sprach sie den Zauberspruch, der ihm Sieg verleihen sollte.

So nahm denn Junker Rowland von der guten Königin, seiner Mutter, Abschied und gieng in die Höhle des Zauberers Merlin.

»Noch einmal, nur noch ein einzigesmal,« bat er den Zauberer, »sag' mir, wie ich Maid Ellen und ihre beiden Brüder erlösen kann.«

»Mein Sohn,« erwiderte Merlin, »es sind nur zwei Dinge zu merken, aber so einfach dies scheint, so schwer ist es zu vollbringen. Eines ist zu thun, das andere zu lassen. Zu thun ist Folgendes: Wenn du ins Feenland gekommen bist, so musst du, wenn jemand zu dir spricht, bevor du Maid Ellen siehst, das Schwert deines Vaters ziehen und dem Betreffenden, wer immer es auch sei, den Kopf abschlagen. Und was du lassen musst, ist Folgendes: Iss keinen Bissen, und trinke keinen Tropfen, und wärst du noch so hungrig und durstig; denn trinkst du einen Tropfen und issest du einen Bissen, so lange du im Elfenland bist, so wirst du nie wieder die Mutter Erde sehen.«

Junker Rowland wiederholte die beiden Dinge wieder und immer wieder, bis er sie auswendig wusste, und er dankte dem Zauberer Merlin und gieng seines Weges. Und er gieng weiter und weiter und immer weiter, bis er zu dem Pferdehirten des Königs von Elfenland kam; der fütterte seine Pferde. Diese erkannte Junker Rowland an ihren feurigen Augen, und so wusste er, dass er endlich im Elfenland war.

»Kannst du mir sagen,« fragte Junker Rowland den Pferdehirten, »wo der finstere Thurm des Königs von Elfenland ist?«[3]

»Ich weiß es nicht,« antwortete der Pferdehirt, »aber gehe ein bischen weiter, bis du zum Kuhhirten kommst, der wird es dir vielleicht sagen können.«

Da zog Junker Rowland, ohne ein Wort zu verlieren, das gute Schwert, das mit jedem Streiche traf, und der Kopf des Pferdehirten flog vom Rumpfe. Junker Rowland gieng weiter, bis er zum Kuhhirten kam, dem er dieselbe Frage vorlegte.

»Ich kann es dir nicht sagen,« antwortete dieser, »aber gehe ein bischen weiter, bis du zur Hühnerfrau kommst, die weiß es sicherlich.«

Da zog Junker Rowland sein gutes Schwert, das mit jedem Streiche traf, und der Kopf des Kuhhirten flog vom Rumpfe. Dann gieng er weiter, bis er zu einer alten Frau in einem grauen Mantel kam, und er fragte sie, ob sie wisse, wo der finstere Thurm des Königs von Elfenland sei.

»Gehe ein wenig weiter,« sagte die Hühnerfrau, »bis du zu einem runden, grünen Hügel kommst, der vom Fuße bis zum Gipfel von Rasenbänken wie von Ringen umgeben ist. Geh' dreimal in entgegengesetzter Richtung zur Sonne herum und sage jedesmal:


Thüre, Thüre, öffne dich,

Thüre, Thüre, lass mich ein.


Und beim drittenmale wird sich die Thüre aufthun, und du kannst hineingehen.«

Junker Rowland wollte gerade weitergehen, als er sich erinnerte, was er zu thun hatte. So zog er denn das gute Schwert aus der Scheide, das mit jedem Streiche traf, und der Kopf der Hühnerfrau flog vom Rumpfe. Dann zog er weiter und weiter und immer weiter, bis er zu dem runden, grünen Hügel kam, und er gieng dreimal in entgegengesetzter Richtung zur Sonne herum und sagte jedesmal:
[4]

Junker Rowland

»Thüre, Thüre, thu' dich auf,

Thüre, Thüre, lass mich ein.«


Und beim drittenmale that sich die Thüre auf, er trat ein, sie fiel klirrend ins Schloss, und Junker Rowland stand im Dunkeln da.

Es war nicht ganz dunkel, sondern eine Art Zwielicht oder Dämmerung. Es waren weder Fenster noch Kerzen da, und er konnte nicht herausfinden, woher das Zwielicht kam, wahrscheinlich durch die Mauern und das Dach. Diese bestanden aus einem durchsichtigen Felsen, der mit Glimmer und Feldspat und anderen glänzenden Steinen bekleidet war. Trotz der Felsen war die Luft ganz warm, wie immer im Elfenland. Er gieng weiter, bis er zu zwei breiten Flügelthüren kam, welche halb offen standen. Als er sie ganz aufriss, bot sich seinen Blicken ein wundervoller, herrlicher Anblick: eine große Halle, so groß, dass sie so breit und lang zu sein schien wie der ganze grüne Hügel. Das Dach war von schönen Säulen getragen, die waren so hoch, dass die Säulen einer Kathedrale nichts dagegen waren; sie bestanden ganz aus Gold und waren über und über mit Silber in getriebener Arbeit bedeckt. Um die Säulen schlangen sich Blumengewinde aus Diamanten und Smaragden und anderen Edelsteinen. Sogar die Schlusssteine der Bogen waren mit Bouquets aus Diamanten und Rubinen und anderen kostbaren Steinen verziert. Und alle diese Bogen vereinigten sich in der Mitte des Daches, und dort hieng an einer goldenen Kette eine ungeheure Lampe, die aus einer einzigen ausgehöhlten, durchsichtigen Perle bestand. In der Mitte dieser Perle aber befand sich ein riesig großer Karfunkel, der sich immerfort im Kreise drehte und die ganze Halle durch seine Strahlen erleuchtete, so dass es den Eindruck machte, als würde sie von der untergehenden Sonne beschienen.[6]

An einem Ende der herrlichen Halle befand sich ein wunderschönes Ruhebett, das ganz aus Sammt und Seide und Gold bestand, und darauf saß Maid Ellen und kämmte ihr goldenes Haar mit einem silbernen Kamme. Als sie Junker Rowland sah, stand sie auf und sagte:


»O Thor, auch du vom Hause fort!

Was willst du an diesem Ort?

Mein armer jüngster Bruder,

Schier bricht mir mein Herz um dich!

Und hättest du hundert Schwerter,

Dich rettet nicht Hieb noch Stich.

Ruh' aus! Doch wehe, wehe!

Dass jemals du wardst geboren,

Denn sieht dich der König von Elfenland,

So bist du ganz verloren.«


Dann setzten sie sich zusammen hin, und Junker Rowland erzählte seiner Schwester alles, was er gethan hatte, und sie erzählte ihm, wie ihre beiden Brüder den finsteren Thurm erreicht hatten, wie der König von Elfenland sie verzaubert hatte, so dass sie nun da eingesargt lägen, als wären sie todt. Nach einiger Zeit verspürte Junker Rowland großen Hunger und bat seine Schwester, ihm etwas zu essen zu geben; er hatte die Warnung des Zauberers Merlin ganz vergessen.

Maid Ellen blickte ihn traurig an und schüttelte den Kopf, aber sie war verzaubert und konnte ihn nicht warnen. Sie stand auf und gieng hinaus und kam bald mit einer goldenen Schale zurück, die mit Milch und Brot gefüllt war. Und schon war Junker Rowland im Begriff, die Schale an die Lippen zu führen; da sah er seine Schwester an und erinnerte sich, warum er hergekommen sei. Er schleuderte die Schale zu Boden[7] und sagte: »Keinen Bissen will ich essen, keinen Tropfen will ich trinken, bevor Ellen frei ist.«

In diesem Augenblicke hörten sie jemand näher kommen, und eine laute Stimme rief:


»Feh, fei, foh, fum,

Einen Christen wittere ich hier herum!

Er sei jung, er sei alt,

Mit diesem Schwert mach' ich ihn kalt.«


Die Flügelthüren wurden aufgerissen, und der König von Elfenland stürzte herein.

»Thue es, wenn du es wagst,« rief Junker Rowland und stürzte ihm mit seinem guten Schwerte entgegen, das noch nie versagt hatte. Sie kämpften und kämpften und kämpften, bis Junker Rowland den König von Elfenland schlug, dass er auf die Knie sank und um Erbarmen flehte.

Junker Rowland sagte: »Erlöse meine Schwester von deinem Zauber, gib meinen Brüdern das Leben wieder und lass uns alle frei fortziehen, so schenk' ich dir dein Leben.«

»Ich willige ein,« sagte der König von Elfenland. Er erhob sich und gieng zu einem Schranke, dem er ein Fläschchen entnahm; das war mit einer blutrothen Flüssigkeit gefüllt. Damit bestrich er die Ohren, Augenlider, Nasenlöcher, Lippen und Fingerspitzen der beiden Brüder, die sofort ins Leben zurückkehrten. Sie sagten, ihre Seelen wären aus ihrem Leibe entschwunden gewesen, seien aber nun wiedergekehrt.

Dann sprach der König der Elfen einige Worte zu Maid Ellen, und sie war erlöst, und sie giengen alle fort aus der Halle und kehrten dem finsteren Thurm den Rücken, um nie wieder zurückzukehren. So kamen sie nach Hause zu der guten Königin, ihrer Mutter. Aber Maid Ellen gieng nie wieder in entgegengesetzter Richtung zur Sonne um eine Kirche herum.

Quelle:
Kellner, Anna: Englische Märchen. Wien, Leipzig, Berlin, Stuttgart: Verlag der »Wiener Mode«, [1898], S. 1-8.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Stifter, Adalbert

Der Condor / Das Haidedorf

Der Condor / Das Haidedorf

Die ersten beiden literarischen Veröffentlichungen Stifters sind noch voll romantischen Nachklanges. Im »Condor« will die Wienerin Cornelia zwei englischen Wissenschaftlern beweisen wozu Frauen fähig sind, indem sie sie auf einer Fahrt mit dem Ballon »Condor« begleitet - bedauerlicherweise wird sie dabei ohnmächtig. Über das »Haidedorf« schreibt Stifter in einem Brief an seinen Bruder: »Es war meine Mutter und mein Vater, die mir bei der Dichtung dieses Werkes vorschwebten, und alle Liebe, welche nur so treuherzig auf dem Lande, und unter armen Menschen zu finden ist..., alle diese Liebe liegt in der kleinen Erzählung.«

48 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon