6. Die zwölf Töchter.

[81] Es war einmal ein armer Käthner, der zwölf Töchter hatte, unter ihnen zwei Paar Zwillinge. Die hübschen Mädchen waren alle gesund und frisch und von zierlichem Wesen. Da die Eltern es so knapp hatten, mochte es Manchem unbegreiflich sein, wie sie den vielen Kindern Nahrung und Kleidung schaffen konnten; die Kinder waren täglich gewaschen und gekämmt und trugen immer reine Hemden, wie deutsche Kinder. Einige meinten, der Käthner habe einen heimlichen Schatzträger,1 Andere hielten ihn für einen Hexenmeister, wieder Andere für einen Windzauberer,2 der im Wirbelwinde einen verborgenen Schatz zusammen zu raffen wußte. In Wahrheit aber verhielt sich die Sache ganz anders. Die Frau des Käthners hatte eine heimliche Segenspenderin, welche die Kinder nährte, säuberte und kämmte. Als sie nämlich noch als [82] Mädchen auf einem fremden Bauerhofe diente, sah sie drei Nächte hinter einander im Traume eine stattliche Frau, welche zu ihr trat und ihr befahl,3 in der Johannisnacht zur Quelle des Dorfes zu gehen. Sie hätte nun wohl auf diesen Traum nicht weiter geachtet, wenn nicht am Johannisabend ein Stimmchen ihr immerwährend wie eine Mücke in's Ohr gesummt hätte: »Geh zur Quelle, geh zur Quelle, wo deines Glückes Wasseradern rieseln!« Obgleich sie den heimlichen Rathschlag nicht ohne Schrecken vernahm, faßte sie sich doch endlich ein Herz, verließ die andern Mädchen, die bei der Fiedel um das Feuer herum lärmten und schritt auf die Quelle zu. Aber je näher sie kam, desto bänger wurde ihr um's Herz; sie wäre umgekehrt, wenn ihr das Mückenstimmchen Ruhe gelassen hätte; unwillkürlich ging sie weiter. Als sie hinkam, sah sie eine Frau in weißen Kleidern, die auf einem Steine an der Quelle saß. Als die Frau des Mädchens Furcht gewahrte, ging sie demselben einige Schritte entgegen, bot ihm die Hand zum Gruß und sagte: »Fürchte dich nicht, liebes Kind, ich thue dir ja nichts zu Leide! Merke auf und behalte genau, was ich dir sage. Auf den Herbst wird man um dich freien; der Mann ist so arm wie du, aber mach' dir deshalb keine Sorge, sondern nimm seinen Branntwein an.4 Da ihr beide gut seid, will ich euch Glück bringen und euch forthelfen; aber [83] lasset darum Sorgsamkeit und Arbeit nicht dahinten, sonst kann kein Glück Dauer haben. Nimm dieses Säckchen und stecke es in die Tasche, es sind nur einige Steinchen darin.5 Nachdem du das erste Kind zur Welt gebracht hast, wirf ein Steinchen in den Brunnen, damit ich komme dich zu sehen. Wenn das Kind zur Taufe geführt wird, will ich zu Gevatter stehen. Von unserer nächtlichen Zusammenkunft laß gegen Niemanden etwas verlauten – für dieses Mal sage ich dir Lebe wohl!« Mit diesen Worten war die wunderbare Fremde dem Mädchen entschwunden, als wäre sie unter die Erde gesunken. Vielleicht hätte das Mädchen auch diesen Vorfall für einen Traum gehalten, wenn nicht das Säckchen in ihrer Hand das Gegentheil bezeugt hätte; sie fand darin zwölf Steinchen.

Die Prophezeiung traf ein, das Mädchen wurde im Herbst verheirathet und der Mann war ein armer Knecht. Im folgenden Jahre brachte die junge Frau die erste Tochter zur Welt, besann sich auf das, was ihr in der Johannisnacht begegnet war, stand heimlich aus dem Bette auf, ging an den Brunnen und warf ein Steinchen hinein. Plumps fiel es in's Wasser! Sofort stand die freundliche Frau weiß gekleidet vor ihr und sagte: »Ich danke dir, daß du mich nicht vergessen hast. Sonntag über vierzehn Tage laß das Kind zur Taufe bringen, dann komme ich [84] auch in die Kirche und will beim Kinde Gevatter stehen.« Als an dem bezeichneten Tage das Kind in die Kirche gebracht wurde, trat eine fremde Dame hinzu, nahm es auf den Schoos und ließ es taufen. Als dies geschehen war, band sie einen silbernen Rubel in die Windel des Kindes und sandte es der Mutter zurück. Ganz ebenso geschah es später bei jeder neuen Taufe, bis das Dutzend voll war. Bei der Geburt des letzten Kindes hatte die Frau zur Mutter gesagt: »Von heute an wird dein Auge mich nicht mehr schauen, obwohl ich ungesehen täglich um dich und deine Kinder sein werde. Das Wasser des Brunnens wird den Kindern mehr Gedeihen bringen als die beste Kost. Wenn die Zeit herankommt, daß deine Töchter heirathen, so mußt du einer Jeden den Rubel mitgeben, den ich zum Pathengeschenk brachte. So lange sie ledig sind, sollen sie keinen größeren Staat machen, als daß sie Alltags und Sonntags saubere Hemden und Tücher tragen.«

Die Kinder wuchsen und gediehen, daß es eine Lust war anzusehen; Brot gab es im Hause zur Genüge, auch zuweilen dünne Zukost, doch am meisten wurden Eltern und Kinder offenbar durch das Brunnenwasser gestärkt. Die älteste Tochter wurde dann an einen wohlhabenden Wirthssohn verheirathet. Wiewohl sie ihm außer der nothdürftigsten Kleidung nichts zubrachte, so wurde doch ein Brautkasten gemacht und Kleider und Pathen-Rubel hineingelegt. Als die Männer den Kasten auf den Wagen hoben, fanden sie ihn so schwer, daß sie glaubten es seien Steine darin, denn der arme Käthner hatte doch seiner Tochter sonst nichts Werthvolles mitzugeben. Weit[85] mehr aber war die junge Frau erstaunt, als sie im Hause des Bräutigam's den Kasten öffnete, und ihn mit Stücken Leinewand angefüllt und auf dem Grunde einen ledernen Beutel mit hundert Silberrubeln fand. Dasselbe wiederholte sich nachher bei jeder neuen Verheirathung; und die Töchter wurden bald alle weggeholt, als es bekannt geworden war, welch' einen Brautschatz eine jede mitbekam.

Einer der Schwiegersöhne war aber sehr habsüchtig und mochte sich mit der Mitgift seiner Frau nicht zufrieden geben. Er dachte nämlich: die Eltern müssen wohl selbst noch vielen Reichthum besitzen, wenn sie schon jeder Tochter so viel mitgeben konnten. Er ging daher eines Tages zu seinem Schwiegervater und suchte ihm den Schatz abzuzwacken. Der Käthner sagte ganz der Wahrheit gemäß: »Ich habe Nichts hinter Leib und Seele, und auch meinen Töchtern konnte ich nichts weiter mitgeben als den Kasten. Was jede in ihrem Kasten gefunden hat, das rührt nicht von mir her, sondern war die Pathengabe der Taufmutter, welche jedem Kinde an seinem Tauftage einen Rubel schenkte. Diese Liebesgabe hat sich im Kasten vervielfältigt.« Der habsüchtige Schwiegersohn glaubte indessen den Worten des Schwiegervaters nicht, sondern drohte vor Gericht die Anklage zu erheben, daß der Alte ein Hexenmeister und ein Windbeschwörer sei, der mit Hülfe des Bösen einen großen Schatz zusammengebracht habe. Da der Käthner ein reines Gewissen hatte, so flößte ihm die Drohung seines Schwiegersohnes keine Furcht ein. Dieser aber klagte wirklich. Das Gericht ließ darauf die andern Schwiegersöhne des Käthners vorfordern und befragte sie, ob jeder von ihnen dieselbe Mitgift erhalten habe. Die Männer sagten aus, [86] daß Jeder einen Kasten voll Leinewand und hundert Silberrubel erhalten habe. Das erregte große Verwunderung, denn die ganze Nachbarschaft wußte recht gut, daß der Käthner arm war und keinen andern Schatz hatte als zwölf hübsche Töchter. Daß diese Töchter von klein auf stets reine weiße Hemden getragen hatten, wußten die Leute wohl, aber Niemand hatte sonst einen Prunk an ihnen bemerkt, weder Brustspangen noch bunte Halstücher. Die Richter beschlossen jetzt, die wunderliche Sache näher zu untersuchen, um herauszubringen, ob der Alte wirklich ein Hexenmeister sei.

Eines Tages verließen die Richter, von einer Häscherschaar begleitet, die Stadt. Sie wollten das Haus des Käthners mit Wachen umstellen, damit Niemand heraus und kein Schatz auf die Seite gebracht werden könne. Der habsüchtige Schwiegersohn machte den Führer. Als sie an den Wald gekommen waren, in welchem die Hütte des Käthners stand, wurden von allen Seiten Wachen ausgestellt, die keinen Menschen durchlassen sollten, bis die Sache aufgeklärt sei. Man ließ hier die Pferde zurück und schlug den Fußsteig zur Hütte ein. Der Schwiegersohn mahnte zu leisem Auftreten und zum Schweigen, damit der Hexenmeister nicht aufmerksam werde und sich auf Windesflügeln davon mache. Schon waren sie nahe bei der Hütte, als plötzlich ein wunderbarer Glanz sie blendete, der durch die Bäume drang. Als sie weiter gingen, wurde ein großes schönes Haus sichtbar; es war ganz von Glas und viele hundert Kerzen brannten darin, obgleich die Sonne schien und Helligkeit genug gab. Vor der Thür standen zwei Krieger Wache, die ganz in Erz [87] gehüllt waren und lange bloße Schwerter in der Hand hielten. Die Gerichtsherrn wußten nicht, was sie denken sollten, Alles schien ihnen mehr Traum als Wirklichkeit zu sein. Da öffnete sich die Thür: ein schmucker Jüngling in seidenen Kleidern trat heraus und sagte: »Unsere Königin hat befohlen, daß der oberste Gerichtsherr vor ihr erscheine.« Obgleich dieser einige Furcht empfand, folgte er doch dem Jüngling in's Haus.

Wer beschriebe die Pracht und Herrlichkeit, die sich vor seinen Augen aufthat! In der prächtigen Halle, welche die Größe einer Kirche hatte, saß auf einem Throne eine mit Seide, Sammet und Gold geschmückte Frau. Einige Fuß tiefer saßen auf kleineren goldenen Sesseln zwölf schöne Fräulein, ebenso prächtig geschmückt wie die Königin, nur daß sie keine goldene Krone trugen. Zu beiden Seiten standen zahlreiche Diener, alle in hellen seidenen Kleidern, mit goldenen Ketten um den Hals. Als der oberste Gerichtsherr unter Verbeugungen näher trat, fragte die Königin: »Weßhalb seid ihr heute mit einer Schaar von Häschern gekommen, als hättet ihr Uebelthäter einzufangen?« Der Gerichtsherr wollte antworten, aber der Schrecken band ihm die Zunge, so daß er kein Wörtchen vorbringen konnte. »Ich kenne die boshafte und lügnerische Anklage,« fuhr die Frau fort, »denn meinen Augen bleibt nichts verborgen. Lasset den falschen Kläger hereinkommen, aber legt ihm zuvor Hände und Füße in Ketten, dann will ich ihm Recht sprechen. Auch die übrigen Richter und die Diener sollen eintreten, damit die Sache offenkundig wird und sie bezeugen können, daß hier Niemanden Unrecht geschieht.« Einer ihrer Diener eilte hinaus, um den [88] Befehl zu vollziehen. Nach einiger Zeit wurde der Kläger vorgeführt, an Händen und Füßen gefesselt und von sechs Geharnischten bewacht. Die anderen Gerichtsherren und deren Diener folgten. Dann begann die Königin also:

»Bevor ich über das Unrecht die verdiente Strafe verhänge, muß ich euch kurz erklären, wie die Sache zusammenhängt. Ich bin die oberste Wasserbeherrscherin,6 alle Wasseradern, welche aus der Erde quillen, stehen unter meiner Botmäßigkeit. Des Windkönigs ältester Sohn war mein Liebster, aber da sein Vater ihm nicht erlaubte eine Frau zu nehmen, so mußten wir unsere Ehe geheim halten, so lange der Vater lebte. Da ich nun meine Kinder nicht zu Hause aufziehen konnte, so vertauschte ich jedesmal, wenn des Käthners Frau niederkam, sein Kind gegen das meinige. Des Käthners Kinder aber wuchsen als Pfleglinge auf dem Hofe meiner Tante auf. Kam die Zeit, daß eine von den Töchtern des Käthners heirathen wollte, so wurde ein abermaliger Tausch vorgenommen. Jedesmal ließ ich die Nacht vor der Hochzeit [89] meine Tochter wegholen und dafür des Käthners Kind hinbringen. Der alte Windkönig lag schon lange krank darnieder, so daß er von unserem Betruge nichts merkte. Am Tauftage schenkte ich jedem Kinde ein Rubelstück, welches die Mitgift im Kasten hecken sollte. Die Schwiegersöhne waren denn auch alle mit ihren jungen Frauen und dem, was sie mitbrachten, zufrieden, nur dieser habgierige Frevler, den ihr hier in Ketten seht, unterfing sich, falsche Klage gegen seinen Schwiegervater zu führen, in der Hoffnung sich dadurch zu bereichern. Vor zwei Wochen ist nun der alte Windkönig gestorben und mein Gemahl zur Herrschaft gelangt. Jetzt brauchen wir unsere Ehe und unsere Kinder nicht länger zu verheimlichen. Hier vor euch sitzen meine zwölf Töchter, deren Pflegeeltern, der Käthner und sein Weib, bis an ihren Tod bei mir das Gnadenbrot essen werden. Aber du verworfener Bösewicht, den ich habe fesseln lassen, sollst sogleich den verdienten Lohn erhalten. In deinen Ketten sollst du in einem Goldberge gefangen sitzen, damit deine gierigen Augen das Gold beständig sehen, ohne daß dir ein Körnchen davon zu Theil wird. Siebenhundert Jahre sollst du diese Qual erdulden, ehe der Tod Macht erhält dich zur Ruhe zu bringen. Das ist mein Richterspruch.«

Als die Königin bis dahin gesprochen hatte, entstand ein Gekrach wie ein starker Donnerschlag, so daß die Erde bebte und die Richter sammt ihren Dienern betäubt niederfielen. Als sie wieder zu sich kamen, fanden sie sich zwar in dem Walde, zu welchem der Führer sie geleitet hatte, aber da, wo eben noch das gläserne Haus in aller Pracht gestanden hatte, sprudelte jetzt aus einer [90] kleinen Quelle klares kaltes Wasser hervor. – Von dem Käthner, seiner Frau und dem habsüchtigen Schwiegersohne ist später nie mehr etwas vernommen worden; des letzteren Wittwe hatte im Herbst einen anderen Mann geheirathet, mit dem sie glücklich lebte bis an ihr Ende.

1

Hausgeister, welche ihren Herren Schätze zutragen. Sie werden als feurige Lufterscheinungen, als Drachen gedacht. S. Kreutzwald u. Neus, myth. u. mag. Lieder der Ehsten. S. 81.

2

Vgl. Kreutzwald zu Boecler p. 105 Kreutzwald u. Neus, Lieder, S. 84. 86. Nach ehstnischer Anschauung fahren im Wirbelwinde die Hexen umher. L.

3

Auf die Nacht vom 23. zum. 24. Juni fällt der ehstnische Hexen-Sabbat. L.

4

Diesen bietet nach ehstn. Sitte der den Freier begleitende Brautwerber an. L.

5

Ehstnisch lähkre-kiwid d.i. Steinchen, die man zur Reinigung des Milchgefäßes (Milchfäßchens), Legel, schwed. tynnåla, ehstn. lähker (sprich lächker) braucht. Man führt ein solches Milchfäßchen auf Reisen nebst dem Brotsack mit sich. L.

6

Identisch mit der Wassermutter, wete ema. Weibliche Personificationen scheinen in der ehstnischen Mythologie, soweit sie erhalten und bekannt ist, vorzuherrschen. Es giebt eine Erdmutter, die aber auch Gemahlin des Donnergottes ist, eine Feuermutter, Windesmutter, Rasenmutter (s. die betr. Anm. zu Märchen 8 vom Schlaukopf) und in unserem Märchen 17 die Unterirdischen, tritt sogar eine Mutter des »Stüms,« des Schneegestöbers, auf. – Eine Wetterjungfrau kennt der Kalewipoëg X, 889 als Tochter des Donnergottes (Kõu). Die Finnen haben eine »Windtochter.« L.

Quelle:
Kreutzwald, Friedrich Reinhold: Ehstnische Märchen. Halle: Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses, 1869, S. 81-91.
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