46. Merlicoquet

[134] Merlicoquet hatte Ähren gelesen und klopfte nun an eine Türe. – »Wer ist draussen?« – »Merlicoquet.« – »Tritt ein. Was willst du, lieber Freund?« – »Hebt mir diese drei Ähren auf. Ich hole sie mir später wieder ab.« – Man hob die Ähren auf. Einige Zeit nachher kam Merlicoquet wieder. – »Ich bitte um meine Ähren.« – »Deine Ähren hat die Henne gefressen.« – »Gebt mir meine Ähren zurück oder gebt mir die Henne.« – »Die Ähren sind nicht mehr hier. Da hast du die Henne.«

Merlicoquet nahm sie und klopfte bei einem andern Haus an. – »Wer ist draussen?« – »Merlicoquet.« – »Tritt ein. Was willst du, lieber Freund?« – »Diese Henne fällt mir jetzt lästig; wollt ihr sie nicht einstweilen behüten? Ich kehre bald wieder.« – »Gib sie zu den andern in den Hof.« – Er liess sie dort und ging. Einige Tage nachher kam er wieder.[134] – »Gebt mir meine Henne.« – »Deine Henne hat die Stute zertreten.« – »Ich habe euch meine Henne anvertraut, ihr müsst sie mir zurückgeben. Gebt mir die Henne oder ... die Stute.« – »Die Henne können wir dir nicht mehr verschaffen, nimm die Stute.«

Er führte die Stute mit sich und klopfte an einer anderen Türe. – »Wer ist draussen?« »Merlicoquet.« »Tritt ein. Was steht dir zu Diensten?« – »Könnt ihr nicht zwei Tage meine Stute in eure Obhut nehmen?« – »Gerne. Gib sie in den Stall zu den andern.« – Merlicoquet liess sie dort und kam nach einigen Tagen wieder. – »Ich bitte um meine Stute.« – »Die Kleine führte sie zur Schwemme und das Tier ertrank dort.« – »Das passt mir nicht. Gebt mir meine Stute oder die Kleine.« – »Die Stute können wir dir nicht mehr geben, hier hast du die Kleine.«

Merlicoquet steckte die Kleine in seinen Schnappsack, hängte ihn um und ging zur Patin des Kindes. – »Willst du mir auf meinen Schnappsack etwas Obacht geben?« – »Gern. Lege ihn dort hin.« – Merlicoquet legte ihn ab und ging fort. Die Patin kochte eben Brei für ihre Kinder. Als er fertig war, rief sie ihrer Gewohnheit gemäss: »Wer will die Pfanne ausschlecken?« – »Ich, liebe Patin.« – »Du, mein Töchterchen. Wo bist du denn?« – »Im Schnappsack des Merlicoquet.« – Die Patin zog die Kleine rasch aus dem Schnappsack und damit Merlicoquet nichts merke, gab sie einen Hund, eine Katze und eine Tasse Milch hinein.

Merlicoquet kam zurück und hing sich seinen Schnappsack wieder um. Da sich am Gewicht nichts geändert hatte, so bemerkte er nichts. Als er ihn aber am Rücken hatte, schien es ihm, als ob sich drinn etwas rege und ein Kampf stattfinde. Es war in der Tat so. Die Katze wollte die Milch trinken, doch der Hund biss sie und die Milch rann aus und auf den Rücken des Merlicoquet. – »Marotte, du lässt Wasser?« schrie er. »Ich werde dich peitschen.«

Er nahm den Schnappsack herunter und schnitt sich einen Zweig von der Hecke ab, um die Kleine zu prügeln. Der Schnappsack ging jedoch auf, die Katze sprang mit einem Satz heraus, der Hund folgte, Merlicoquet aber machte grosse Augen und bemühte sich, diesem Wunder auf den Grund zu kommen.


(Basse-Normandie.)

Quelle:
Blümml, Emil Karl: Schnurren und Schwänke des französischen Bauernvolkes. Leipzig: Deutsche Verlagsaktiengesellschaft, 1906, S. 134-135.
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