Die Insel der Glückseligkeit.

[86] Es war einmal eine arme Witwe mit einem Knaben, die wohnten in einer abgelegenen Hütte und waren fast an den Bettelstab gebracht. Als der Knabe 18 oder 20 Jahre alt geworden war, sagte er zu seiner Mutter: »Ich will fortgehn, Mutter, Glück zu suchen, und fortbleiben, bis ich's gefunden habe, und wenn ich's finde, soll es auch Euch zugute kommen.« – Damit machte er sich auf, die Welt zu durchstreifen.

Er streift und streift umher, ein Jahr war schon vergangen, das Glück hatte er noch nicht gefunden. Da kam er einmal in einen Wald und fand ein Häuschen, und es wurde schon Nacht. Er klopfte an die Tür, und ein alter Mann kam heraus, der für diese Nacht ihn aufnahm. Am andern Morgen fragte er ihn, was er in dieser Gegend suche, und der Jüngling sagte es ihm. »Mein lieber Junge,« sagte ihm der Alte, »das Glück kommt einmal alle hundert Jahre, und wenn man's dann nicht fängt, fängt man's nie wieder. Aber sieh einmal: gerade von heut' auf morgen enden die hundert Jahre, und das Glück muß kommen. Du mußt gut aufpassen, Punkt Mitternacht. Stelle dich sachte, sacht hinter den Wald am Ufer des Baches. Dahin werden drei wunderschöne Mädchen kommen, die sich auskleiden werden, um zu baden. Warte, bis sie ganz nackt sind, dann nimm die Kleider[87] von der, die in der Mitte steht, und trag sie fort, und wenn sie sie wieder haben will, nimm das Befehlbuch aus ihrer Tasche, und du hast sicher erreicht, was du willst.«

Der Jüngling versprach es; als aber die Nacht kam, schlief er, der nicht gewohnt war, zu wachen, ein und fing in der ersten Nacht nichts. Am Morgen geht er zu dem Alten und berichtet ihm, daß er nichts gesehen hat. – »Warst du denn wach?« – »Nein.« – »Dann bist du ein Tölpel, und dir ist recht geschehn.« – Die zweite Nacht ging es ebenso. In der dritten gab ihm der Alte einen Kamm von Hanf und sagte ihm: »Wenn dir Schlaf kommt, reibe dir das Rückgrat mit dem Kamm, und du wirst wach bleiben.«

So kam es, weil das Reiben stärker war als der Schlaf. Und als die drei Mädchen kamen, paßte der Jüngling auf, und kaum hatten sie sich entkleidet, trug er die Kleider von der, die in der Mitte stand, fort. Die beiden andern zogen sich an und gingen weg; die dritte aber mußte dem Jüngling nachlaufen, um die Kleider wiederzubekommen. Die gab er ihr, behielt aber das Befehlbuch zurück und tat mit ihm alles, was er wollte. Und da er Lust bekam, die Fortuna zu heiraten, mußte sie sich drein ergeben.

Nun geschah es einmal, daß er eine Reise machen mußte. Er verschloß das Buch in einen Kasten und sagte zu seiner Mutter: »Wenn meine Frau etwas ver langt, gebt ihr nichts, bis ich zurückgekehrt bin.« – Kaum war er fort, sagte die Fortuna zu ihrer Schwiegermutter, sie wolle in die Messe gehn und brauche dazu das Buch in dem Kasten. Die Schwiegermutter aber wollte ihr's um keinen Preis geben. Da bat und bettelte sie so lange, bis endlich die arme Frau einen Schlosser kommen und den Kasten aufbrechen ließ, worauf sie ihr das Buch, das sie haben wollte, gab. Dann sagte sie zu ihrer Schwiegermutter: »Ade, ade! Ich gehe fort. Wenn euer Sohn mich suchen will oder Kunde von mir haben, soll er nach der Insel der Glückseligkeit kommen. Dort[88] stirbt man nicht, befindet sich immer wohl, und die Jahre scheinen Augenblicke.«

Der Sohn kommt nach Hause, und die Mutter sagt ihm: »Deine Frau ist nach der Insel der Glückseligkeit gegangen. Wenn du sie finden willst, mußt du dorthin gehen.« – Der Sohn geriet außer sich und rief: »O ich Ärmster! Ich werde sie nie wiedersehen!« – Dann aber besann er sich und sagte: »Komme was wolle, ich will sie suchen gehn.« – Er geht und geht und kommt an einen Ort, wo sich drei Diebe befanden, die hatten ein Tischtuch, das, wenn sie es ausbreiteten, ihnen Gerichte von jeder Art bereitete, ein Paar Schuhe, wenn man die anzog, konnte man hundert Meilen in einer Minute machen, und einen Mantel, wer den trug, der wurde unsichtbar. Die drei sagten zu dem Manne: »Schau, wir streiten uns, wem jedes dieser drei Stücke zufallen soll. Entscheide du!« – Darauf antwortete er: »Erst muß ich selbst sehen, wie die drei Stücke beschaffen sind, dann will ich entscheiden.« – Damit breitete er das Tischtuch aus, und plötzlich kamen die Gerichte, und da er gerade Hunger hatte, aß er davon. Dann warf er sich den Mantel um und zog die Schuhe an und fragte die Diebe: »Seht ihr mich noch?« – »Nein.« – »Also auf Wiedersehn am Nimmerlestag.« – Und fort mit jenen Schuhen, bis er an den Felsen des Donners kam, von dem Felsen und Steine mit einem Höllenlärm herabzufallen schienen. Er aber sagte: »O, lieber Herr, ich habe hier ein Tischtuch, um die Tafel zu bereiten, haltet ein wenig ein und kommt und eßt!« – Der Donner hielt ein und aß. Darauf sagte der Jüngling: »Wißt Ihr vielleicht, wo die Insel der Glückseligkeit ist?« – »Nein, aber ich habe einen Bruder, den Sonnenstrahl, der 500000 Meilen von hier entfernt wohnt. Wenn du dorthin kommen kannst, wird er dir's sagen.« – Und er in zwei, drei Tagen kommt hin, und der Sonnenstrahl machte eine Helle, wie der Tag. Da fragte ihn der Jüngling, ob er wisse, wo die Insel der Glückseligkeit sei. Aber auch er wußt' es nicht und schickte ihn weiter zu seinem[89] Bruder, dem Blitz. Zu dem kommt endlich nach vielem Umherschweifen der Mann, als er Kirchtürme, Türme, Bäume und Berggipfel umstürzte. Er aber bat ihn einzuhalten und fragte ihn nach dem, was er wissen wollte.

Der Blitz antwortete, er hätte sieben seiner Vettern danach gefragt, den Südwest, den Nord, den Seewind, den Schirokko, den West- und Nordostwind und den Zephir, keiner aber wußt' es, außer dem Schirokko, der überall herumkommt. Der sagte denn auch dem Jüngling nicht nur, wo die Insel der Glückseligkeit lag, sondern gab ihm auch mit seinem Hauch einen Stoß, um ihn vorwärts zu treiben.

Als jener nun in das Haus der Fortuna kam, das auf dieser Insel stand, tat er seinen Mantel um und kam so, ohne gesehen zu werden, durchs Fenster in ein Zimmer, in dem die drei Schwestern waren. Und die, die seine Frau gewesen war, sagte: »Wenn ich nicht Furcht gehabt hätte, dort zu bleiben, wo man stirbt, und meinen Gatten hätte mitnehmen können, wäre ich sehr froh.« – Da zeigte er sich und sagte: »Da bin ich.« – Sie freute sich sehr und sagte: »Nun sollst du immer bei mir bleiben!«

Eine Weile blieb er auch. Dann aber sagte er: »Ich will jetzt ein bischen nach meiner Mutter sehen.« – »Was willst du dort tun? Zu dieser Stunde ist dort nicht einmal ihre Asche.« – »Wie? Erst vor zwei Monaten bin ich ja gekommen.« – »Es sind mehr als zweihundert Jahre. Doch wenn du hin willst, werden dein Mantel und deine Schuhe dir nichts mehr helfen. Ich werde dir ein Pferd geben, das mit jedem Schritt ein Jahr zurücklegt, und ich werde dich immer begleiten.«

Als er dann mit der Fortuna reiste, begegnete er einem Karren, auf dem saß eine magere Frau, die eine ganze Karrenlast Schuhe verbraucht hatte bei ihrem langen Wandern. Diese Frau stellte sich, als fiele sie auf die Erde nieder, um zu sehen, ob er sie aufheben würde, und wenn er sie berührte, hätte er sicher[90] sterben müssen. Die Fortuna aber, die bei ihm war, rief ihm zu: »Nimm dich in Acht! Es ist der Tod!« – Da ließ er die Frau und ging seines Weges weiter. Dann begegnete er einem Teufel zu Pferd in Gestalt eines großen Herren, und das Pferd hatte sich durch den langen Lauf die Beine beschädigt. Auch der fiel vom Pferde, der Jüngling lief schon hin, ihm zu helfen, aber die Fortuna rief ihm wieder zu: »Hüte dich!« – So ging er ohne weiteres nach seiner Heimat. Dort aber erkannte ihn niemand; und seine Mutter – selbst unter den Ältesten war keiner, der sich ihrer erinnerte. Als er das sah, merkte er, daß man in der Welt alt wird und stirbt, stieg wieder zu Pferde und reiste ab mit seiner Fortuna und kehrte nach der Insel der Glückseligkeit zurück. Dort aber starb er nie und befindet sich noch heute daselbst.


(Monferrato)

Quelle:
Heyse, Paul: Italienische Volksmärchen. München: I.F. Lehmann, 1914, S. 86-91.
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