23. Die drei Schwestern.
(Le tre sorelle.)

[55] (Vgl. Grimm I. Nr. 53.)


Ein Vater hatte drei Töchter, die wohnten in einem schönen Hause nahe am Palaste eines Königs. Einmal traf es sich, dass der Vater wichtiger Geschäfte halber verreisen musste. Der König hatte einen Sohn, der war ein junger schöner Prinz, welcher, nachdem der Vater verreist war, den drei Mädchen melden liess, er werde zu ihnen auf Besuch kommen. Bevor die Stunde schlug, zu welcher er kommen sollte, kleideten sich alle drei prächtig und die beiden ältern richteten es so ein, dass die jüngste sich in die Mitte setzen musste; denn auf diese Weise, dachten sie, muss der Prinz neben einer von uns sitzen. Als aber der Prinz kam, setzte er sich dennoch in die Mitte neben die jüngste, weil sie die schönste und liebenswürdigste war und sie redeten lange von allerlei Dingen. Am folgenden Tage versprach der Prinz wieder zu kommen und die beiden ältern Schwestern richteten es so ein, dass Marie – so hiess nämlich die jüngste – sich auf die Seite setzen musste; doch auch diesmal setzte sich der Prinz neben sie und that so bei jedem Besuche. Ein mal versteckten die beiden ältern Marien alle ihre schönen Kleider und sie musste im einfachen Hauskleide vor dem Prinzen erscheinen; aber zum Aerger der Beiden sprach er gerade diesmal viel mehr und viel freundlicher mit Marien als sonst und es war unzweifelhaft, dass seine Besuche hauptsächlich nur ihr galten.

»Wie, soll die jüngste von uns noch einmal Königin werden und nicht ich oder du?« sagten die beiden ältern Schwestern öfters eine zur andern und ergrimmt sannen sie auf böse Anschläge gegen Marien. Sie hatten eine alte Magd im Hause, welche eine Hexe war, diese riefen sie eines Abends zu sich und fragten sie: »Wen liebst du mehr,[55] uns beide oder unsere jüngste Schwester?« »O gewiss euch beide«, antwortete die Magd. Da befahlen sie ihr, Marien am kommenden Morgen in den Wald zu führen, um Erdbeeren zu pflücken. »Führe sie recht weit hinein,« sagten sie; »dann lass sie allein, damit sie den Rückweg nicht mehr finde. Wir wollen indessen einen Sarg machen und denselben in eine Grube versenken lassen; sobald der Vater kommt, werden wir ihm sagen, Marie sei gestorben und wenn er es nicht glaubt, so lassen wir die Grube wieder öffnen und zeigen ihm den Sarg.«

Am folgenden Morgen ging Marie mit der Magd in den Wald um Erdbeeren zu pflücken. Sie kamen immer tiefer in denselben hinein und während Marie eifrig die schönen rothen Beeren pflückte, entfernte sich die Magd unbemerkt und ging nach Hause. Marie weinte und rief, aber vergebens. Den ganzen Tag irrte sie hin und her und statt einen Ausweg zu finden, gerieth sie nur immer tiefer hinein in den pfadlosen dunkeln Wald voll hoher Bäume, deren Aeste keinen Sonnenstral auf den feuchten moosigen Boden dringen liessen. Ganz müde und verzweifelnd setzte sie sich auf die weit auslaufende Wurzel einer hundertjährigen Tanne und ergab sich weinend in ihr bitteres Schicksal. Doch auf einmal sah sie einen ehrwürdigen Greis mit langem weissem Barte vor sich, welcher sie freundlich fragte, wie sie hieher gekommen sei. Sie erzählte ihm alles; da sagte er: »Mein Kind, deine Schwestern haben aus Neid diesen boshaften Anschlag gegen dich ausgesonnen und sie würden dich nur um so sicherer verderben, wenn du auch den Rückweg fändest. Bleibe bei mir, da sollst du ein stilles und einsames aber glückliches Leben führen!« Marie willigte freudig ein und der Greis führte sie in sein Häuschen, welches mitten im Walde stund. Da blieb sie nun bei ihm; der kluge Alte wusste ihr gar viel zu erzählen und behandelte sie liebevoll wie ein Vater und ehrerbietig, als wäre sie eine Königin. Marie blieb nur zeitweilig allein, so oft er nämlich wegging um Holz zu sammeln oder Lebensmittel zu holen; er verbot ihr aber, in seiner Abwesenheit irgend Jemanden die Thüre zu öffnen.

Die beiden Schwestern aber erfuhren dennoch, dass Maria noch lebe und wo sie sei. Voll Zorn befahlen sie der Magd, verkleidet mit einem Korb voll behexter Sachen zum Häuschen in den Wald zu gehen und dieselben Marien zum Kaufe anzubieten.

Als nun eines Tages der Alte fortgegangen und Maria allein zu Hause war, kam eine Frau mit einem Korbe und rief: »Kauft Ringe,[56] Nadeln, Zwirn, schöne und wolfeile Waare!« Marie wollte zwar anfangs nicht aufmachen; die Frau aber wusste ihr so lange zuzureden, dass sie endlich die Thüre öffnete, um sich die Sachen zu besehen. Am besten gefiel ihr ein Ring; als sie ihn aber an den Finger gesteckt hatte, fiel sie wie todt zu Boden und die Magd – denn diese war die Frau – machte sich aus dem Staube.

Als der Alte nach Hause kam und Marien wie todt daliegen sah, erschrack er sehr, ahnte aber bald, was da vorgefallen sein müsse. Er bemerkte sogleich, dass ein Finger an einer Hand geschwollen sei und zog den Ring ab. Marie erwachte wie aus einem tiefen Schlafe und erzählte dem Alten alles, was vorgefallen war. Er warnte sie wieder und verbot ihr von neuem, in seiner Abwesenheit Jemanden die Hausthüre zu öffnen.

Die beiden Schwestern aber erfuhren, dass Marie noch lebe und schickten die Magd wieder in den Wald. Eines Tages war der Alte eben ausgegangen und Maria allein zu Hause; da kam wieder eine Frau, die aber ganz anders aussah als die frühere und auch andere Sachen, nämlich nur Kleidungsstücke verkaufte. Marie liess sie lange pochen und rufen, endlich aber blickte sie doch heraus und als sie all die schönen Dinge sah, vergass sie das Verbot des Alten und öffnete die Thüre. Unter andern Dingen war da ein hübsches Schnürleibchen, das musste ihr anstehen wie angegossen und sie legte es sogleich an. Kaum hatte sie es am Leibe, als sie wieder wie todt zu Boden fiel; die böse Verkäuferin aber entfloh so schnell ihre Füsse sie trugen. Mit Schrecken sah der Alte, als er zurückkam, Marien wie todt auf dem Boden und untersuchte sie sogleich. Er zog ihr das Schnürleibchen aus und Marie erwachte abermals wie aus einem tiefen Schlafe. Noch eindringlicher als zuvor wiederholte der Alte seine Warnung und sein Verbot.

Indessen war auch der Vater nach Hause gekommen und vergoss bittere Thränen, als ihm die beiden Töchter sagten, seine liebe Marie sei gestorben. Es verging einige Zeit; da erfuhren sie, dass Maria doch noch lebe. Voll Zorn riefen sie die Magd und sagten: »Geh hin und verstelle dich, wie du nur kannst, damit sie dir die Thüre öffne. Dann sieh, dass sie sich von dir kämmen lasse und wenn du sie kämmst, stoss' ihr diese behexte Nadel tief in den Kopf, die wird der Alte gewiss nicht finden.«

Maria war eines Tages wieder allein zu Hause und blickte eben beim Fenster heraus; da sah sie ganz nahe eine Alte, die schleppte[57] sich mühsam an einem Krückenstocke weiter und brach endlich kraftlos in sich zusammen. Marie lief sogleich hinaus, hob die Alte auf, führte sie in das Häuschen und erquickte sie mit Speise und Trank. Bald gewann die Alte ihre Kräfte wieder und dankte Marien herzlich. »O wenn ich Euch nur auch einen Gefallen thun könnte, mein gutes Kind!« sagte sie. »Ich sehe, dass Eure schönen Haare zerzaust sind, ich will sie Euch recht schön kämmen und flechten!« Marie widerstrebte, aber endlich liess sie es geschehen. Die Magd – denn diese war die Alte – stiess ihr die Nadel in den Kopf und eilte hinweg. Der Alte kam und sah Marien wie todt auf dem Boden. Er untersuchte sie am ganzen Leibe, aber er konnte nichts finden. Da wurde er sehr traurig und beschloss das schöne Mädchenbild – denn einer Leiche sah sie nicht gleich, sondern nur einer Schlafenden – im Hause zu behalten. Er legte sie schön gekleidet auf ein Bett, kaufte in der Stadt viele grosse Kerzen und stellte deren vier um das Bett, wo er sie Tag und Nacht brennen liess.

Einmal ging der Königssohn auf die Jagd und verirrte sich im Walde. Da kam er auch am Häuschen vorbei und sah darin die brennenden Kerzen. Voll Neugierde blickte er durch das Fenster und sah das schönste Mädchen wie schlafend auf dem Bette ruhen. Als der Alte die Thüre geöffnet hatte, ging er hinein und konnte sich an der schönen schlafenden Leiche gar nicht satt sehen. Mit tausend Bitten und Versprechungen drang er in den Alten, ihm die schöne Schläferin zu überlassen, aber da war alles vergebens und der Königssohn ging traurig nach Hause. Doch schon am folgenden Tage kam er wieder mit seinen Dienern, welche kostbare Geschenke trugen und erneuerte seine Bitten. Endlich gab der Alte mit Thränen nach, nicht der Geschenke wegen, sondern weil er dem Sohne des Königs diese Gefälligkeit nicht länger verweigern konnte. Die schöne schlafende Leiche wurde in das königliche Schloss in der Stadt gebracht; dort liess sie der Prinz prachtvoll bekleidet in einem eigens verfertigten kostbaren Glasschranke aufstellen. Stundenlang stand er oft vor dem schönen Bilde, konnte sich daran gar nicht satt sehen und wurde doch immer so traurig dabei. Er liess auch Niemanden, selbst seine eigene Mutter nicht, in das Zimmer treten und behielt den Schlüssel zu demselben stets bei sich.

Einmal ging der Prinz weit fort auf die Jagd; da übergab er vor der Abreise den Schlüssel seiner Mutter mit dem Auftrage, das Zimmer nie ausser nur im dringendsten Nothfalle zu betreten. Als[58] er fort war, konnte die Königin ihrer Neugierde nicht widerstehen und trat in das Zimmer. Mit grossem Staunen sah sie das schöne Bild im Glaskasten, öffnete ihn und nahm es heraus. »O was für ein schönes Mädchen!« rief sie ein über das andere Mal, »sie ist nicht todt und doch nicht lebend, was es doch sein mag? Und was für prächtige Haare sie hat!« fügte sie bei und wühlte mit der Hand in den Haaren des Bildes. Da fühlte sie etwas hartes und sah, dass es der Kopf einer grossen Nadel sei. Sie zog dieselbe langsam heraus und in demselben Augenblicke erwachte Marie aus ihrem Zauberschlafe. Erschrocken blickte sie um sich, die Königin aber redete ihr freundlich zu und Marie erzählte ihr Alles. Zu derselben Zeit kam auch der Prinz wieder nach Hause und die Königin befahl Marien sich schnell zu verbergen. Er trat in's Zimmer und seine ersten zornigen Blicke fielen auf seine Mutter und auf den Glaskasten. »Wo ist das Bild?« rief er voll Zorn, als er den Kasten leer fand. Die Königin gebot ihm Ruhe; da unterdrückte er die Aufwallung des Zornes, brach aber in heisse Thränen des Schmerzes aus. Nun gab die Königin ein Zeichen und Marie trat aus ihrem Verstecke hervor dem Prinzen entgegen. Dieser wusste sich anfangs vor freudigem Schrecken nicht zu fassen, erkannte aber Marien bald wieder und umarmte sie als seine Braut.

Und nun hat unsere Geschichte ein trauriges und ein fröhliches Ende. Das traurige ist, dass die beiden ältern Schwestern sogleich geholt und ihnen auf Befehl des Königs die Häupter abgeschlagen wurden; die böse Magd wurde als Hexe öffentlich verbrannt. Sodann aber wurde eine fröhliche Hochzeit gehalten; »mir aber haben sie auch nicht einen Bissen vom Male gegeben, sondern nur ein Bein nachgeworfen, dass mir der Rücken davon noch jetzt wehe thut.« –

Quelle:
Schneller, Christian: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck: Wagner 1867, S. 55-59.
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