59. Die Ratte.
(El pantegam.)

[170] In der Zeit als die Thiere noch redeten, hatte sich eine Ratte in die Kücke einer wohlhabenden Familie einen Weg gebrochen und da hatte sie es prächtig getroffen, denn sie fand dort Fleischspeisen aller Art in Hülle und Fülle. Sie liess sich wol sein und lebte in Saus und Braus. Als sie aber einmal nach einigen Tagen wieder in die Küche kam, war eine grosse Veränderung vor sich gegangen, denn sie fand kein Fleisch mehr, sondern nur Stockfische, Häringe und dergleichen und schon der blosse Geschmack davon behagte ihr gar nicht. Auch die wenigen Mehlspeisen waren so hart und trocken, dass sie schwer daran zu kauen und zu schlucken hatte.

Dies verdross die gute Ratte sehr und als sie einmal zu einem[170] alten welterfahrenen Rattenmännchen kam, fragte sie es um die Ursache jener Veränderung. Und dasselbe erwiederte: »Ei, Gevatterin, du bist wol noch zu jung und kennst dich in der Welt nicht aus. Als du dir den Weg in die Küche machtest, da war gerade Fasching, wo die Menschen flott und lustig leben und immer Fleisch essen, jezt aber ist Fastenzeit und da ist der Genuss von Fleisch untersagt. Musst halt ein wenig Geduld haben, es wird schon wieder besser werden.«

Die Ratte war mit der Erklärung zufrieden und begriff nun wol, dass es auch bei den Menschen nicht immer gleich zugehe, so wenig als bei den Thieren der Erde und des Waldes und den Vögeln und lieben ehrlichen Spatzen in der Luft, bei denen auch nicht alle Tage Kirchweihe ist. Der Hunger trieb die Ratte in der folgenden Nacht wieder in die Küche; als sie aber aus ihrem Loche hervorguckte, sah sie die feurigen Augen der Katze unter dem Herde und erschrocken zog sie sich wieder zurück. Aber sie besann sich und dachte: »Ei, der Gevatter hat mir gesagt, es sei jezt Fastenzeit und der Genuss von Fleisch nicht erlaubt; was soll nur die Katze mit mir anfangen? Fressen darf sie mich nicht und muss mich daher wieder laufen lassen!« Und sogleich kam sie aus dem Loche hervor und wollte wie gewöhnlich ihre Wanderung durch die Küche anstellen; aber schon hatte die Katze sie gefasst und hielt sie zwischen den Zähnen. »Ei, liebe Katze«, sagte die Ratte, »lass mich doch los; weisst du denn nicht, dass jezt Fastenzeit ist, wo man kein Fleisch essen darf?« »Das weiss ich wol«, erwiederte die Katze, »aber du musst auch wissen, dass ich an einer Rippe leidend bin und desshalb von meinen Herrn Dispense habe und Fleisch fressen darf!« Und der Ratte half nichts, sie wurde von der Katze richtig sogleich verspeist. –

Quelle:
Schneller, Christian: Märchen und Sagen aus Wälschtirol. Innsbruck: Wagner 1867, S. 170-171.
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