Das Vergessene Kindlein.

[40] Kindlein schläft am Waldessaum,

Eingelullt in süßen Traum,

Vor der Sonnenglut beschützt

Es ein junger Birkenbaum,

Dessen Blattwerk, naß vom Thau,

Wie ein Perlenkleid erblitzt.

Bunte Schmetterlinge schaukeln

Sich auf duft'gen Blutendolden,

Fliegen, Käfer, farbig, golden,

Um den kleinen Schläfer gaukeln –

Und die Vöglein singen laut und die Vöglein singen leis'

Ihre ew'ge Weis'.


Mutter dort auf grüner Au

Mit den andern Frauen mäht

Seit die Sonn' am Himmel steht;

Rastlos sie die Hände regt,

Schneidet, harkt, zusammenträgt –:

Fleiß'ge Arbeit – gutes Brot,

Träges Schaffen – Hungers Not! ...

Höher auf die Sonne steigt,

Blume bang das Köpfchen neigt

Unterm schwülen Mittagsbrand;

Grille zirpt am Grabenrand

Und die Vöglein singen laut und die Vöglein singen leis'

Ihre ew'ge Weis'.


Viermal nach dem Kind gesehn,

Es erquickt mit Speis' und Trank

Hat die Mutter; Gott sei Dank,

War nichts Böses ihm geschehn![41]

Kriecht im weichen Gras herum,

Freut sich über das Gesumm'

Fleiß'ger Bienen, muntrer Fliegen,

Bis es schläfrig wieder liegen

Bleibt im Schatten grünen Baumes

Und im Banne süßen Traumes.

Mücke fliegt an ihm vorbei,

Wespe thut ihm nichts zuleid,

Und die kluge Schlange liegt,

Tief ins warme Gras geschmiegt,

Nicht zu nah und nicht zu weit,

Gleich als ob sie Wächter sei;

Doch die Vöglein singen laut und die Vöglein singen leis'

Ihre ew'ge Weis'.


Schatten wuchsen, Abend kam –

Und der Frauen jede nahm,

Mit der schweren Arbeit fertig

Und der Heimkehr nun gewärtig,

Ihr Gerät zusammen schnell.

Scherzten, lachten, sangen Lieder,

Schritten über Flur und Feld

Dann zur weißen Straße nieder ...

Waren schon ein Stück gegangen,

Als ein Aufschrei, bang und gell,

Ihre Schritte hemmt: »Mein Kind!«

Und die Mutter fliegt, voll Bangen

Um ihr Liebstes auf der Welt,

Wie der Wind

Rückwärts über Wies' und Feld.

In dem Scherzen, in dem Plaudern,

Konnte sie nicht sinnen, zaudern,

Hatte ganz ihr Kind vergessen,

Schlummernd an dem Waldessaum ...

Dunkler Abend war gekommen,[42]

Sonne tief im West verglommen,

Stern entzündet unterdessen

In dem blauen Himmelsraum;

Erdkrebs pfiff in seinem Loch

Grille zirpte immer noch,

Und die Vöglein sangen laut und die Vöglein sangen leis'.

Abendliche Weis'.


Mutter kommt zum Birkenhain,

Späht durch bleichen Dämmerschein –:

Eine hohe weiße Frau

Hält ihr Kindlein sanft im Arm,

Wiegt es leis und drückt es warm

An die Brust. Es mag der Thau

Fallen und der Nebel steigen,

Kindlein ruhet wohlgeborgen.

Doch der Mutterliebe Sorgen

Sind durchs Wunder nicht gestillt;

Kalte Geisterfurcht erfüllt

Ihr Gemüt; – durchs nächt'ge Schweigen

Tönt ihr Ruf: »Hilf, Jesus Christ,

Der du Freund den Kindern bist!«

Rief's und hob voll Angst die Hand –:

Schnell das Zauberbild verschwand

Und ihr Kind sie schlafend fand

Auf dem weichen Rasenbettlein.

Aber sieh! ein gülden Kettlein

War um seinen Hals geschlungen

Und ein Körbchen, ganz voll Geld,

Ihm zu Häupten hingestellt.

Sprachlos stand die Mutter da,

Wußte nicht, wie ihr geschah;

Aber als die andern kamen,

Teil an ihrem Staunen nahmen

Und die seltne Kunde hörten,[43]

Sprach ein altes, graues Weiblein

Unter einem schwarzen Häublein:

»Laima war's, die einst wir ehrten,

Heil- und Segenspenderin,

Alles Glücks Vollenderin!

Selten fährt sie mehr hernieder

Aus der morgenroten Wolke;

Um zu helfen ihrem Volke;

Alte Märchen nur und Lieder,

Wiederhall aus schönern Tagen,

Wissen noch von ihr zu sagen –

Und die Vöglein singen laut und die Vöglein singen leis'.

Ihrer Wunder Preis!«

Quelle:
Andrejanoff, Victor von: Lettische Märchen. Nacherzählt von -, Leipzig: Reclam, [1896], S. 40-44.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Flucht in die Finsternis

Flucht in die Finsternis

Robert ist krank und hält seinen gesunden Bruder für wahnsinnig. Die tragische Geschichte um Geisteskrankheit und Tod entstand 1917 unter dem Titel »Wahn« und trägt autobiografische Züge, die das schwierige Verhältnis Schnitzlers zu seinem Bruder Julius reflektieren. »Einer von uns beiden mußte ins Dunkel.«

74 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon