XXVI. Die sieben krummen Zitronen.

[71] Da war einmal ein König; der war schon lange verheiratet. Er wünschte, es möchte ihm ein Sohn werden. Nach einer gewissen Zeit ward ihm ein Sohn. Der König hatte aber ein Gelöbnis getan: wenn ihm ein Sohn würde, so wolle er eine Quelle, die Öl fliessen liesse, für die Armen herstellen.

Nachdem er die Ölquelle gemacht und viele Zeit verflossen und der Knabe gross geworden war, ging dieser einmal hinter die Mauer der Ölquelle; dort war eine alte Frau, die das Öl mit einer Eischale in einen Krug schöpfte. Er schleuderte einen kleinen Stein nach ihr und schlug ihr die Eischale aus der Hand. »Santa Maria!«[71] sprach sie zu ihm; »wie habe ich mich angestrengt, um die Eischale voll zu bekommen; und nun bist du gekommen und hast sie mir umgestürzt! Ich möchte wissen, wer der Mensch ist, der mir die Schale umgestürzt hat!« Sofort schleuderte der Knabe einen andern, grössern Stein nach ihr und zerbrach ihr ihren Krug mit dem Öl ganz und gar. Da sprach sie zu ihm: »Mein Sohn, ich wünschte dir, dass du die sieben krummen Zitronen fändest!« Da sprang der Knabe auf und sprach: »Ich will wissen, was diese ›krummen Zitronen‹ sind, – was sie sind!« Sie erwiderte: »Mein Sohn, weisst du, was die sieben ›krummen Zitronen‹ sind? Da sind viele ausgezogen, die klüger waren als du, und keiner konnte sie mitbringen!« Der Knabe sprach: »Ich werde ausziehen und sie holen!«

Alsbald begab er sich nach dem Hause seines Vaters und sprach zu ihm: »Vater, ich ging hinter die Ölquelle, die du als Gelöbnisbau für mich hast errichten lassen; ich fand da eine alte Frau, die dabei war, das Öl mit einer Eischale in einen Krug zu schöpfen, und zerbrach ihr ihn.« Sie sprach zu mir: ›Mein Sohn, ich wünschte dir, dass du die sieben krummen Zitronen fändest!‹ Ich fragte sie, was das für Dinger seien; sie sprach zu mir: ›Mein Sohn, da sind viele ausgezogen, die klüger waren als du, und keiner ha; sie mitgebracht!‹ Und er fuhr fort: »Vater, ich will ausziehen und sie holen.« »Nein, mein Sohn!« erwiderte er ihm; »das ist keine Sache, die geschehen kann! Wenn schon Leute auszogen, die klüger waren als du, und sie nicht holten, – wie könntest du sie dann holen?« »Ich werde ausziehen und sie holen! Gib mir das schönste Pferd, das du hast!« Der Vater sprach: »Nimm das weisse Pferd!« Und der Knabe stieg auf und ritt fort.

Er zog seines Weges und begegnete einem Manne. Er sprach zu ihm: »Eine Gefälligkeit begehre ich von dir: du sollst mir den Weg zeigen, – wo ich vorbeimuss, um zu den sieben krummen Zitronen zu gelangen!« Jener erwiderte: »Geh' dort vorbei! Nimm auch einen Rasierpinsel und eine Schere, sowie ein Rasiermesser, eine Flasche Wasser und ein Stück Seife mit! Du wirst dann einen alten Mann finden. Sag' zu ihm: ›Guten Tag, Weissbart! Wie komme ich zu den sieben krummen Zitronen?‹ Er wird zu dir sagen: ›Rasiere mich, und ich will dir's sagen!‹ Verschneide ihm dann seine Haare und seine Nägel und rasiere ihm den Bart; da wird er zu dir sagen: ›Zieh' weiter! Du wirst dann einen treffen, der älter und klüger ist als ich; der weiss dir mehr zu sagen als ich!‹«[72]

Der Knabe zog seines Weges weiter. Er fand den ersten und den zweiten Alten vor; der letztere begann, als er ihn ordentlich rasiert hatte, zu sprechen: »Geh' hin! Du findest alsbald einen Baum, der voller toter Fliegen ist, welche stinken; sprich zu ihm: ›Was für ein schöner Baum! Wäre ich nicht so in Eile, so würde ich absteigen und eine Mahlzeit Rosinen von dir essen!‹ Dann wirst du zwei Hunde antreffen, die einander das Fell zerbeissen; sag' zu ihnen: ›Wäre ich nicht so in Eile, würde ich absteigen und euch voneinander trennen!‹ Zieh' weiter; du erblickst dann ein Tor, das man geöffnet hat; sprich zu ihm: ›Wäre ich nicht so in Eile, so würde ich absteigen und dich richtig zuschliessen!‹ Das Tor wird dir erwidern: ›Tritt ein!‹ Tritt dann ein! Du findest dann ein schönes Mädchen; wenn du sie mit geschlossenen Augen erblickst, so ist sie wach; findest du sie mit offenen Augen, so schläft sie!«

Der Königsohn fand alles so vor, wie jener ihm gesagt hatte; das Mädchen aber fand er mit halbgeschlossenen Augen (daliegend); er fasste ihren Zopf an, und sie begann zu schreien: »Verräter, verlass mich! Wie konntest du mich nur durch Verrat bezwingen? Viele sind hergekommen, und keiner konnte mich durch Verrat überwältigen! Und du, der kaum ein Jüngling zu nennen ist kamst und überwältigtest mich?« Er versetzte: »Gib mir die sieben krummen Zitronen, und ich lasse dich los!« »Ich gebe sie dir; lass mich zuerst los!« »Nein!« sprach er; »gib sie mir erst in meine Hand, und dann lasse ich dich los!« Da öffnete sie ein Kästchen und gab ihm die sieben krummen Zitronen – es waren eher sieben Eier – in die Hand; er nahm sie, hielt sie hübsch fest, bestieg das Pferd und ritt ab.

Sie rief jetzt: »Schlagt vor ihm das Tor zu!« Das Tor selber aber rief: »Ich lasse mich nicht zuschliessen! Wäre jener nicht so in Eile gewesen, so wäre er abgestiegen und hätte mich zugeschlossen!« Nun rief sie: »Ihr bösen Hunde, holt mir jenen Menschen ein, der auf dem Pferde bei euch vorbeikommt!« Die Hunde erwiderten ihr: »Das kann nicht geschehen! Denn wäre er nicht so in Eile gewesen, so wäre er abgestiegen und hätte uns auseinandergebracht!« Nun rief sie dem Rosinenbaume zu: »Stürz' auf ihn!« Der Baum antwortete: »Nein! Das kann nicht geschehen; denn wäre er nicht so in Eile gewesen, so wäre er abgestiegen und hätte eine Portion von mir gegessen!«[73]

Der Königssohn schlug nun ein (Zitronen-)Ei auf. Da kam ein gar schönes Mädchen heraus; die sprach zu ihm: »Durst! Durst! Hunger! Hunger! Deck' mich zu!« Er deckte sie nicht zu, und auf diese Weise entwischten ihm sechs Mädchen, und es blieb ihm nur noch ein Zitronen-Ei zurück. Das letzte Mädchen sprach zu ihm: »Durst! Durst! Hunger! Hunger! Deck' mich zu!« Sofort deckte er sie mit dem Mantel zu und liess sie in den Wipfel eines Baumes steigen, indem er zu ihr sprach: »Bleib' jetzt hier sitzen und lass mich hingehen und den schönsten achtspännigen Wagen holen, den mein Vater besitzt! Und dann komme ich und nehme dich mit!« Hiermit brach er auf und liess sie zurück; er blieb etwa zehn Tage fort.

Da ging einst eine schwarze Türkin aus, die bei einer Dame im Dienste stand. Gerade gegenüber jenem Baume befand sich nun ein Wasserbrunnen. Die Dame pflegte zu dem Türkenmädchen zu sagen: »Wie hässlich bist du doch! Ich habe niemals jemanden so, wie du aussiehst, gesehen!« Jene ging also hin um Wasser zu holen; da erblickte sie das strahlende Bild eines schönen Mädchens im Brunnen. Sie dachte, das wäre ihr eigenes Bild, und begann: »Ich soll hässlich sein? Und so schon bin ich!« Damit zerbrach sie ihren Krug. Sie begab sich zu ihrer Herrin und sprach zu ihr: »Ich habe den Krug in einem Wutanfalle zerschmettert, der mich plötzlich befiel; ich bin nämlich sehr schön, und du schimpfst mich hässlich!« Und sie zerbrach ihrer Herrin noch dreimal den Krug.

Als sie wieder einmal hinging, erblickte sie dieses so schöne Mädchen oben auf dem Baume; sie sprach zu ihr: »Was für eine schöne Jungfrau bist du! Steig' doch von dort herunter! Lass uns ein wenig plaudern! Du sitzt also da oben mit dem Mantel da, den du anhast?« Da erzählte ihr jene die ganze Geschichte. Das Türkenmädchen aber versetzte ihr einen Stich mit einer spitzen Haarnadel in den Kopf und tötete sie; dann setzte sie sich an die Stelle der anderen oben in den Wipfel des Baumes.

Als der Jüngling mit dem Wagen kam, begann die Türkin zu weinen und sprach zu ihm: »Warum liesst du mich hier zurück? Sieh', wie ich geworden bin! Die Sonne hat mich versengt und mich kohlschwarz gebrannt!« Der Jüngling versetzte: »Dich habe ich gar nicht da oben gelassen! Ich habe ein gar schönes Mädchen hiergelassen, dessen Antlitzes Licht dir (bei Nacht) den Weg zeigen kann.« Sie versetzte: »Schön hattest du mich hier[74] zurückgelassen; aber du hast mich eben ganz und gar vergessen und mich in dieser Sonne gelassen, sodass ich kohlschwarz geworden bin!« Ihm klopfte das Herz! Es kam ihm in den Sinn: das sei garnicht das Mädchen, welches er zurückgelassen habe.

Das Mädchen aber, welches er zurückgelassen hatte (und das nach dem Stiche der Türkin wie tot hingesunken war), war eine Taube geworden, weiss wie Milch.

Als jene beiden nach Hause gelangten, warf sich der Jüngling hin auf das Bett, – krank, sodass ärztliche Hilfe nötig war. Und mit ihr (der Türkin) war's ebenso: (für sie musste man Arzte holen) um zu versuchen, ob man sie wieder so schön machen könne, als sie früher gewesen war; aber sie hätte doch niemals so schön werden können, wie jene andere; denn sie war schwarz von Natur!

Wenn nun der Koch dem Kranken Fleischbrühe bereitete, kam allemal eine ganz weisse, wunderschöne Taube und stiess ihm das Salz in die Fleischbrühe. Nachdem dies etwa dreimal geschehen war, äusserte der Kranke, dass er die Fleischbrühe niemals trinken könne, so lange sie so salzig sei. Der Koch begab sich hinauf zum Kranken und sprach zu ihm: »Ich tue schon soviel Salz an die Fleischbrühe, als sie bekommen muss; aber es kommt allemal eine weisse, wunderschöne Taube; die stösst das Salz hinein und fliegt dann wieder fort.« »Gut!« sprach der Kranke zum Koch; »überrasche sie und nimm sie fest, und bring' sie mir her!« Jener erwiderte sofort: »Schön!« Er schloss die Türen zu und fing die Taube, und brachte sie hinauf zum Kranken mit den Worten: »Das ist die Taube, die alle Tage kommt und das Salz in die Fleischbrühe wirft und sich dann aus dem Staube macht!«

Der Kranke streichelte sie und berührte ihren Kopf. In der Gegend des einen Ohres fand er eine Stichnarbe. Je längerer ihr diese Narbe berührte, desto mehr nahm die Taube an Körperumfang zu. Da rief er seinen Vater herbei und sprach zu ihm: »Vater, das ist ein Stück, um darüber nachzudenken: ich fasse sie hier an, und sie wird immer grösser!« »Was kann das sein?« versetzte der Vater; »reiss' ihr die Narbe ab!« Der Königssohn riss ihr die Narbe ab, – da wurde die Taube sofort zu einem wunderschönen Mädchen! Er warf Kleidungsstücke über sie und zog ihr die besten Kleider an, – und die Krankheit und aller Kummer war ihm vergangen! Dem Koch befahl er, die besten Gerichte, die[75] er kochen könne, sogleich auf den Tisch zu bringen, – für alle Leute, die zur königlichen Familie gehörten.

Die Türkin brachten sie so, wie sie im Bette lag, vor ihn, damit man sie wegen des Streiches verurteile, den sie ihm gespielt hatte. Er liess einen Kessel Öl zum Kochen kommen und stiess sie in ihn hinein. Zuerst zogen sie ihr die Haut ab und legten diese draussen vor die Schwelle, damit jeder, der einträte, sich die Füsse auf ihr abwischen könne. Ihren Kopf stopften sie aus und befestigten ihn auf der Windfahne. – Und damit ist die Geschichte zu Ende.

Quelle:
Stumme, Hans: Maltesische Märchen. Gedichte und Rätsel in deutscher Übersetzung, Leipziger Semitistische Studien, Band 1, Heft 5, Leipzig: J.C. Hinrichsche Buchhandlung, 1904, S. 71-76.
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