163. Die schlafenden Kinder.

[259] Flämisches Volkslied.


Im Lande von Lüttich lebte einmal eine arme Frau, die hatte drei Kinder, und ihr Mann war todt und sie wußte sich nicht mehr zu ernähren. Da ging sie aus und bat an den Thüren um ein Stücklein Brot, aber es war just ein Mißwachs in dem Jahre gewesen und kein Mensch konnte ihr etwas geben; bei den Armenmeistern, an welche sie sich wandte, fand sie eben so wenig Unterstützung. So kam sie mit verzweifeltem Gemüthe wieder nach Hause und sprach zu den Kindern: »Ach, ihr lieben, unschuldigen Schäflein, ich habe nichts für euren Hunger und ich kann euch auch nicht leiden sehen; es ist das Beste, wir sterben alle auf einmal.« So sprach sie und wollte ein Messer nehmen und die Kinder und sich selber tödten. Da sprach eins von den Kindern:[259] »Liebe Mutter, mache uns nicht todt, wir wollen lieber schlafen bis zum kommenden Herbst, und dann fühlen wir keinen Hunger; und wenn wir wieder aufwachen, dann lesen wir Aehren mit dir.« So sprachen die Kinder und gingen schlafen alle drei, und schliefen Tag und Nacht und Wochen und Monate lang. Das wurde bald kund und man sah viele Menschen aus dem Lande von Lüttich, aus Brabant und aus dem Kempnerlande zu der Hütte der armen Frau strömen, und alle wollten die Kinder sehen, und alle gaben der Frau etwas, und also wurde sie reich, sehr reich.

So schliefen die Kinder bis zu dem August, wo man die Ernte hielt, und da erwachten sie und freuten sich mit ihrer lieben Mutter und lobten Gott und den Herrn Jesum Christum. Diese Geschichte ist wahr und nicht erlogen, und sie hat sich zu Stockum im Lande Lüttich wahrhaftig zugetragen.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 259-260.
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