222. Das Vaterunser.

[321] S. de Vries, De Satan in sijn weesen etc. II, 548.


Einem Lehrjungen begegnete einmal zwischen Licht und Dunkel auf der Straße ein schwarz klein Männchen, schien ein Handwerker zu sein. Das fragte ihn, ob er keine Lust hätte, bei ihm in Dienst zu treten, er sollte einen guten Herrn an ihm finden. Der Junge antwortete, er hätte bereits einen Meister und brauchte keinen neuen. »Gut«, sprach der andere, »wenn du auch einen Meister hast, kannst doch das verrichten, wozu ich dich gebrauchen will, und in deinem alten Dienste bleiben.[321] Für wenig Mühe gebe ich dir einen guten Lohn.« Fragte der Junge, was denn seine Arbeit und sein Lohn sein sollte? Darauf sagte das Männchen: »Jeden Abend, wenn es dämmert, sollst du hier ans Wasser kommen und ein Vaterunser beten; sollst jeden Tag ein Geldstück haben, wie dieß, und es immer hier auf dem Pfosten finden. Darfst aber keinen Abend überschlagen.« Der Junge dachte, das wäre ein gut Ding für ihn, also leichtlich und ohne etwas von seiner Arbeit zu versäumen, so viel Geld zu winnen, und noch dazu mit Gebet. Nahm es an und gelobte, fleißig der Sache nachzukommen. »Wie ist dein Name?« fragte das Männchen. Als der Junge den genannt hatte, that der andere, als könnte er ihn schwerlich behalten. Begehrte darum, daß er ihm den Namen schreibe und zugleich das beifüge, wozu er sich verpflichtet habe, in Art und Weise eines Contractes. »Wo soll ich denn aber Feder und Papier holen?« fragte der Junge. Schnell nahm das kleine Männchen eine Feder hinterm Ohre weg und gab ihm die nebst einem Stückchen Papier. »Das ist gut«, sprach der Junge wieder, »aber nun habe ich noch keine Dinte?« – »Ist wahr«, entgegnete der andere, »doch wollen wir darum die Sache nicht aufgeben. Sieh, da ist ein Messer, ritze damit ein Bißchen die Haut an deinem Arme, so bekommst du sonder Pein bald so viel Blut, daß du wohl die paar Worte schreiben kannst.« Der Junge ließ sich bereden und that also. Das Männchen nahm die Schrift und ging von dannen und ermahnte den Jungen noch einmal dringend, nur keinen Abend das Vaterunser zu vergessen. Der Lehrjunge erfüllte sein Versprechen redlicherweise, fand auch jeglichen Abend sein Geld richtig auf der Stelle, die ihm das kleine schwarze Männchen angewiesen hatte. Aber durch all das Geld wurde er zu Spielen und Saufen verlockt. Weder sein[322] Meister, noch auch seine Mutter wußten, wo er an das Geld kam. Der erste meinte, seine Mutter gäbe es ihm, und die meinte, er bekäme es von dem Meister. Darob wurde der endlich erbittert und verwies es der Frau mit scharfen Worten, daß sie ihrem Sohne Geld gäbe, denn dieser käme dadurch zu Müßiggang und einem ruchlosen Leben. Die Frau aber versicherte ihn vom Gegentheil und sprach, sie wäre eine arme Wittib und hätte nichts zu geben, hätte aber geglaubt, der Junge verdiene sich durch seinen Fleiß so viel. Nun beschlossen sie beide, den Jungen einmal hart vorzunehmen. Der erzählte ihnen ganz willig, wie er sich jeden Abend das Geld verdiene. Das befremdete die Mutter und sie glaubte, es stecke nichts Gutes dahinter; besonders lag ihr die Blutschrift schwer auf der Seele. Ging darum mit ihm zu einem geistlichen Herrn. Der fragte ihn, ob er glaube, daß das schwarze kleine Männchen ein wirklicher Mensch gewesen sei? Sprach der Junge: »Das weiß ich nicht, aber es schien mir also.« Da fragte ihn der Geistliche weiter, ob er je gehört habe, daß ein Meister von einem Lehrjungen einen mit Blut geschriebenen Contract verlangt habe? worauf der Junge antwortete: »Nein.« Da ermahnte ihn der Geistliche, fürder abzustehen von solchem Gewinnste, und betete mit ihm und schloß ihn auch ins Gebet vor und nach der Predigt ein. Kurz nachher fand man den Contract auf dem Altar der Kirche liegen.

Quelle:
Wolf, Johann Wilhelm: Niederländische Sagen. Leipzig: Brockhaus, 1843, S. 321-323.
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