Der Blinde

[257] Es war einmal ein reicher, reicher Herr, der hatte aber das Augenlicht verloren und sah höchstens einen matten Schein, wenn das Tageslicht kam oder bei der Nacht ein Licht herbeigetragen wurde. Er hatte zwei Kameraden, die mit ihm umhergingen und ihn in die Wirtshäuser führten und anstatt seiner mit den anderen Gästen spielten. Zahlen tat allemal der Blinde, und es war ihm gleich, wieviel er einem blechen mußte, wenn es nur recht lustig herging.

Die zwei meinten es aber nicht redlich mit ihm und redeten eines Tages unter sich ab: »Wie wäre es, wenn wir ihn einmal recht viel Geld mitnehmen hießen und ihn tief in den Wald hineinführten. Wir nehmen ihm dann das Geld und laufen davon, ihn werden die wilden Tiere auffressen, und kein Mensch weiß etwas davon.«

Dieser Plan gefiel beiden über die Maßen, und sie gingen alsbald zu ihm hin und sagten: »Da draußen im Wald ist ein neues Wirtshaus, da stellen die Wirtsleute allerlei Lustbarkeiten an, um Gäste hinauszulocken. Weil es gar so lustig hergeht, müssen wir schon auch dabeisein; nimm nur tüchtig Geld mit, und wir wollen uns gut unterhalten.«[257]

Dem Blinden war diese Nachricht erwünscht, er sagte, sie sollten zur beliebigen Zeit kommen und ihn abholen.

Die zwei kamen also und holten ihn ab, fragten ihn aber vorher, ob er wohl viel Geld bei sich habe.

»Ja, Geld habe ich genug«, sagte er, »geht nur und führt mich hinaus.«

Da faßten sie ihn unter den Armen, führten ihn hinaus und taten noch freundlicher mit ihm als andere Male. Als sie aber im Wald waren, führten sie ihn ins dichteste Gesträuch, fielen über ihn her, nahmen ihm das Geld und rannten davon.

Jetzt stand der Blinde allein und verzagt im Wald und wußte nicht, was er in seinem Elend anfangen sollte. Er grabbelte nach allen Seiten herum, erreichte aber nichts als Fichten und Hecken. Bald verschwand aller lichte Schein vor seinen Augen, und er merkte, daß die Nacht herankam. Da ergriff ihn Furcht, und er dachte, wenn er so auf dem Boden bliebe, so würden ihn die wilden Tiere auffressen. Er wünschte darum, auf einen Baum zu kommen, in der Hoffnung, daß nach glücklich überstandener Nacht vielleicht am anderen Tag jemand kommen würde, ihn zu retten. Nach kurzem Herumtasten erreichte er einen Baum, faßte ihn und schwang sich hinauf. Er stieg noch ein Stück empor, setzte sich auf einen Ast und hielt sich am Stamm fest. So wartete er ab, was kommen würde, und er brauchte auch nicht lange zu warten, da erhob sich ein schreckliches Geräusch und Getöse. Der Lärm kam immer näher, bis an den Baum, auf dem der Blinde saß. Am Fuß des Baumes lagerten sich die drei Würmer, die so ungestüm dahergepoltert waren, und fingen nun miteinander zu reden an.

Der Linkwurm sagte zum Rechtwurm: »Rechtwurm, was weißt du heute Neues?«

Der Rechtwurm antwortete: »Ich weiß, heute nacht wird ein Tau fallen, und wenn die Blinden es wüßten und sich damit waschen würden, so könnten sie alle ihr Augenlicht wiederbekommen.«

Da sagte der Rechtwurm zum Linkwurm: »Linkwurm, was weißt du?«

Der Linkwurm antwortete: »Ich weiß, heute nacht haben die Hexen dem Bauern da drüben das Vieh krank gemacht. Aber[258] wenn der Bauer wüßte, daß oberhalb des Hauses ein Wasser entspringt, gäb' er dem Vieh davon zu trinken, und es würde wieder gesund.«

Da sprach der Linkwurm zum Haselwurm: »Haselwurm, was weißt du heute Neues?«

Der Haselwurm antwortete: »Ich weiß nur, in der ganzen Stadt ist das Wasser ausgeblieben, die Leute müssen weit gehen, wenn sie eins haben wollen, und in der Stadt ist das Wasser teurer als der Wein. Wüßten sie aber, was ich weiß, so wäre ihnen bald geholfen. Mitten durch die Stadt fließt ein Bach, so groß wie ein Mühlbach, und sie brauchten gar nicht tief zu graben, um es zu erreichen.«

Diese Reden der Würmer merkte sich der Blinde gut und er konnte es kaum erwarten, bis er herabsteigen und sich mit dem Tau die Augen waschen konnte. Endlich erhob sich am Fuß des Baumes wieder ein Geräusch, und die Würmer entfernten sich mit dem gleichen Lärm, wie sie gekommen waren.

Bald darauf merkte der Blinde einen matten Schein, und er spürte, daß der Tag anzubrechen beginne. Nun grabbelte er wieder mit Händen und Füßen in den Ästen herum und stieg, so schnell als es nur gehen wollte, vom Baum herab. Sobald er drunten war, griff er mit beiden Händen zu Boden, um zu erfahren, ob wirklich ein Tau gefallen war. Er fühlte sogleich, daß Gras und Gesträuch von reichlichem Tau befeuchtet waren, benetzte damit tüchtig die Hände und bestrich sich die Augen. Da wurde es schon heller vor seinen Blicken, und er konnte allerlei Gegenstände ausnehmen. Er griff wieder in den Tau, wusch sich noch einmal, und alsbald sah er so gut, als ob er gar nie blind gewesen wäre. Es war gerade ein glasklarer Morgen, und er konnte sich an dem blauen Himmel und der grünen Erde beinahe nicht satt sehen.

Nun besann er sich ein wenig, was er vor allem tun sollte. Er dachte sich, meine zwei Kameraden will ich einstweilen in Ruhe lassen. Sie sollen mein Geld nur verprassen, ich will schon anderswo einen vollen Beutel kriegen. Am gescheitesten geh' ich jetzt zum Bauern, dem die Hexen das Vieh krank gemacht haben. Wie gedacht, so getan. Er machte sich auf und ging zu dem Haus des Bauern. Der Bauer begegnete ihm und machte ein[259] mürrisches Gesicht. Er aber grüßte ihn mit einem freundlichen »Guten Morgen!«

»Jawohl, guten Morgen«, gab ihm der Bauer zurück, »woher denn ein guter Morgen, wenn das Vieh krank ist?«

»Dein Vieh ist krank?« fragte der Herr, »oh, wenn es nichts weiter ist, so kann ich helfen.«

»Ja, wenn du helfen kannst, so will ich dir zahlen, was du begehrst.«

Der Herr begehrte eine große Summe und versprach noch einmal, das Vieh gesund zu machen. Er ging nun ein Stück oberhalb des Hauses hinauf, suchte dort nach und fand wirklich ein sprudelndes Wasser. Davon ließ er etwas in den Stall tragen und dem Vieh zu trinken geben. Kaum hatten die Tiere davon getrunken, so wurden sie gesund, und kein Mensch merkte, daß ihnen je etwas gefehlt hätte. Der Bauer hatte darüber eine gewaltige Freude und gab dem Herrn noch viel mehr zum Lohn, als er verlangt hatte. So waren beide zufrieden, und der Herr ging seines Weges.

Er dachte noch nicht daran, nach Hause zu gehn, sondern wollte zuerst der Stadt das Wasser verschaffen und dadurch seinen Beutel noch fester anfüllen. Er ging in die Stadt und setzte sich in einen Buschen1. Die Kellnerin kam und fragte ihn, was er wünsche.

»Ich hätte gern einen Wein, aber vor allem will ich ein Glas Wasser.«

»O Mensch«, sagte die Kellnerin, »Wasser kann ich dir keines geben. Das Wasser ist bei uns viel teurer als der Wein, weil in der Stadt selber keines fließt und wir es von weither holen müssen.«

Der Herr zeigte sich sehr verwundert darüber, trug aber der Kellnerin auf, sie solle den Wirt rufen und ihm sagen, es sei einer hier, der der Wassernot abhelfen könne.

Die Kellnerin ging und kam alsbald mit dem Wirt zurück. Dieser fragte den Herrn, ob er wirklich imstande sei, der Stadt Wasser zu verschaffen. »O ja«, sagte er, »geht nur und sagt[260] den Bürgern, was sie mir geben wollen, wenn ich ihnen so viel Wasser gebe, daß an eine Not gar nimmer zu denken ist.«

Der Wirt ging hin und erzählte der Bürgerschaft von dem Herrn, der in seine Schenke gekommen war und der Wassernot abhelfen wolle. Die Bürger waren sehr erfreut darüber, kamen in den Buschen und baten den Fremden, er solle ihnen nur Wasser verschaffen, bezahlen wollten sie ihm, soviel er nur begehre.

Da ging er mit den Bürgern hinaus, ließ die Stadt ausmessen und suchte dann die Mitte. Hier stellte er Leute an, zu graben, und kaum hatten sie eine Weile gegraben, da hatten sie schon einen Bach entdeckt, der so groß war wie ein Mühlbach.

Da hatten die Bürger eine überaus große Freude, und als der Herr seinen Lohn begehrte, zahlten sie ihm noch mehr, als er verlangte, weil sie dachten, daß eine solche Wohltat mit Gold gar nicht zu bezahlen sei.

Er hatte nun die Reden aller drei Würmer benützt und beschloß, nach Hause zu gehen. Bevor er in sein Quartier ging, suchte er das Wirtshaus auf, in das ihn seine Kameraden oft geführt hatten. Er dachte sich, hier finde ich sie gewiß, die werden dreinschauen, wenn sie mich mit gesunden Augen wiedersehen.

Er ging in die Stube und fand die zwei Kameraden wirklich beim Spielen. Er schaute ihnen eine Weile zu, ohne daß sie ihn erkannten, und sagte dann plötzlich: »Ach, Kameraden, wie geht's? Gewinnt ihr mit meinem Geld?«

Die zwei rissen nicht wenig die Augen auf, als sie ihn sahen, wußten aber anfangs doch nicht recht, ob er es wirklich war. Er lachte sie tüchtig aus, sprach ihnen Mut zu und erzählte alles, was ihm seit ihrer Spitzbüberei begegnet war. Nachdem er mit seiner Erzählung fertig war, ging er weg und nach Hause.

Die zwei hatten sich gut gemerkt, was er von den drei Würmern gesagt hatte, und sprachen jetzt zueinander: »Wir gehn auch in den Wald und lassen uns von den Würmern so etwas sagen, damit wir ebenso reich und glücklich werden wie er.«

Sie gingen hinaus an den nämlichen Ort, wo sie ihren blinden Kameraden beraubt hatten, und stiegen dort auf einen Baum. In der Nacht erhob sich ein Getöse, und es kamen die drei Würmer herbei. Als sie sich unter den Baum gelegt hatten,[261] huben sie an zu reden, und es sprach der Linkwurm zum Rechtwurm: »Rechtwurm, was weißt du heute Neues?«

Der Rechtwurm sagte: »Heute weiß ich sonst nichts, als daß wir das vorigemal zuwenig achtgegeben haben, und da hat's einer gehört und guten Gebrauch gemacht. Wir sollen also heute besser achtgeben, denn heute sind ihrer zwei droben.«

Da erhoben sich die Würmer und ringelten sich an dem Baum hinauf. Als sie die zwei mit den Zähnen erreichten, bissen sie diese so lange, bis sie herabfielen. Dann ringelten sie sich wieder herab und brachten sie ganz ums Leben.


(mündlich bei Meran)

1

Buschen = (im Etschland) Schenke, weil ein aufgehängtes Gebüsch die Schenke anzeigt

Quelle:
Zingerle, Ignaz und Joseph: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. (Regensburg 1854) Nachdruck München: Borowsky, 1980, S. 257-262.
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