Der Bär

[310] Vorzeiten lebte ein Kaufmann, der hatte drei Töchter. Davon war die älteste ein herzensgutes, folgsames Kind, die zwei jüngeren waren aber stolz und böse und konnten ihre älteste Schwester nicht leiden. Da trug es sich einmal zu, daß ein Wintermarkt in der Nähe war, den der Kaufmann besuchen wollte. Er sprach beim Abschied zu seinen Töchtern: »Was soll ich euch vom Markt mitbringen?«

Da verlangten die zwei jüngeren Töchter schöne Kleider und andere Kostbarkeiten. Die älteste aber sprach: »Lieber Vater, bring mir eine Rose als Marktkram! Ich habe diese Blumen am liebsten.« Sie dachte sich aber im Herzen: Meinem Vater geht doch Geld genug auf. Eine Rose kostet ihm aber nichts, und mir macht sie doch viel Freude.

Der Kaufmann reiste nun auf den Markt und machte diesmal sehr gute Geschäfte. Er kaufte für seine zwei jüngeren Töchter schöne Kleider und andere Kostbarkeiten, allein umsonst forschte er nach einer Rose für sein ältestes Kind. Denn es herrschte kalter Winter, und knietiefer Schnee lag auf allen Gärten und Feldern. Das war dem Kaufmann unlieb. Nach abgeschlossenen Geschäften trat er den Heimweg an und fuhr schnell über Schnee und Eis dahin.

Als er schon eine gute Strecke zurückgelegt hatte, kam er zu einem herrlichen Schloß, das er früher noch nie gesehen hatte. Das schöne Gebäude war aber von einem prächtigen Garten umgeben, in dem die lieblichsten Rosen zahllos blühten. Da dachte sich der Kaufmann: Hier muß ich mir eine Rose beschaffen, denn ich möchte meinem ältesten Kind doch eine Freude machen.[310]

Er stieg deshalb aus dem Schlitten, ging in den Garten hinein und pflückte eine Rose. Dann wollte er wieder schnurstracks zum Schlitten und von dannen fahren.

Allein dies ging nicht so schnell; denn kaum hatte er die Rose gepflückt, da hörte er seinen Namen rufen. Erstaunt sah er um sich und erblickte zu seinem großen Schrecken einen zottigen Bären, der ihn anbrummte: »Du hast dich unterfangen, in meinen Garten einzubrechen und eine Rose zu stehlen, dafür sollst du büßen. Schickst du mir deine Tochter, für die du diese Rose gepflückt hast, binnen vierzehn Tagen hierher, so ist es recht. Tust du das nicht, so sollst du sehen, wie es dir und den Deinigen gehen wird.«

Der Kaufmann erschrak über diesen unvermuteten Auftritt dergestalt, daß er, ohne eine Antwort zu geben, sich eiligst aus dem Staub machte. Er lief zu seinem Schlitten, schwang sich hinein und fuhr über Eis und Schnee seiner Stadt zu. Da hatten die drei Töchter eine große Freude, als sie ihren Vater kommen sahen. Sie sprangen ihm entgegen und bewillkommneten ihn aufs freudigste.

Sie bemerkten aber bald, daß ihr Vater ernst und trübe gestimmt sei, und das verdarb ihnen sogar die Freude an den schönen Geschenken. Sie fragten ihn nun so lange, was ihm fehle, bis er ihnen endlich erzählte, was der schreckliche Bär zu ihm gesprochen hatte. Da machten die zwei jüngeren Töchter hämische Gesichter und sprachen zur ältesten: »Siehst du, wie es dir geht, weil du gerade eine Rose haben mußt. Dir geschieht recht, wenn du eine Bärenbraut wirst. Mit den Leuten kannst du doch nicht umgehen.«

So schmähten sie und hatten die größte Freude an dem Unglück, das ihrer guten Schwester drohte. Doch diese blieb gefaßt, denn sie hatte ein reines Gewissen, und dachte sich: Gar so bös wird der Bär nicht sein. Sie brachte ihre Sachen in Ordnung und nahm am vierzehnten Tag von ihrem Vater und ihren Schwestern Abschied und fuhr dann auf der Landstraße so lange, bis sie zum Schloß des Bären kam. Dieser wartete schon auf sie am Eingang des Gartens und empfing sie freundlich. Dann führte er sie in das stolze Schloß, bot ihr Erfrischungen und wies ihr die schönsten Zimmer zum Aufenthalt an. Da[311] fand sie alles, was sie sich nur wünschen mochte, vorhanden, und es mangelte ihr an keiner Sache.

So lebte sie nun im Schloß, und der Bär, der sich gar freundlich zeigte, leistete ihr Gesellschaft. Sie schickte sich bald in ihre Lage und lebte vergnügt und glücklich. Doch nach einiger Zeit ergriff sie eine starke Sehnsucht, ihren Vater wiederzusehen, so daß sie ihr Anliegen endlich dem Bären mitteilte. Da brummte dieser anfangs und wollte von einem Besuch bei dem Vater nichts wissen. Als aber die Jungfrau von neuem bat, brummte der Bär: »Geh, wohin es dich zieht, aber länger als zwei Tage darfst du nicht bei den Deinen bleiben.«

Dann nahm er einen Ring aus einem verborgenen Kästchen und gab ihn der Kaufmannstochter mit den Worten: »Wenn du dieses Ringlein am Abend vor deiner Abreise an den Finger steckst, so wirst du dich am folgenden Morgen in deinem Vaterhaus befinden. Bleib dann zwei Tage dort. Dann mußt du abends wieder das Ringlein anstecken, auf daß du am dritten Morgen wieder hier bist.«

Die Kaufmannstochter war darüber hoch erfreut und konnte den Abend kaum erwarten. Als es endlich dunkelte, steckte sie das Ringlein an ihren Finger und wollte dann einschlafen. Allein das ging nicht so schnell. Die Freude ließ ihr keine Ruhe, und erst gegen Mitternacht fielen ihr die Augen zu. Als sie am nächsten Morgen erwachte, befand sie sich im Haus ihres Vaters. Sie wurde von ihren Angehörigen freundlichst empfangen, und ihr Vater hatte ob dem unerwarteten Wiedersehen mit seiner Tochter eine maßlose Freude. Da gab es einen recht gemütlichen, heiteren Tag, und niemand dachte ans Abschiednehmen. Am nächsten Tag erst sagte die Tochter, die aus der Fremde gekommen war, daß sie am folgenden Morgen wieder beim Bären sein müsse. Da waren alle überrascht und drangen so lange in die Jungfrau, bis sie endlich beschloß, noch einen Tag beim Vater zu verleben.

Am Abend des dritten Tages steckte sie erst das Ringlein an ihren Finger und schlief unter wehmütigen Gefühlen ein. Wie sie am folgenden Tage erwachte, war sie im Schloß des Bären. Sie stand nun auf und wollte zu ihrem Herrn gehen, um ihn zu begrüßen. Sie ging deshalb in sein Zimmer, das war aber leer.[312] Dann suchte sie das ganze Schloß ab, konnte aber den Bären nirgends finden. Da war sie sehr traurig, denn sie hatte das gute Tier liebgewonnen. Sie beschloß deshalb, noch einmal im ganzen Schloß den Bären zu suchen – und sie tat es. Da fand sie ihn endlich unter dem Brunnentrog, wo er wie halb tot lag. Sie zog ihn heraus, streichelte den Braunpelz und fragte ihn, warum er in diesem traurigen Zustand sei.

Da antwortete er: »Ich habe schon gemeint, daß du nicht mehr kommen würdest, und darob bin ich fast verzweifelt.«

Als die Kaufmannstochter dies hörte, hatte sie noch größeres Mitleid mit ihm, streichelte ihn und sprach: »Sei nur nicht verzagt! Ich will immer bei dir bleiben und werde dich nie mehr verlassen, denn du bist mein Schatz!«

Als der Bär diese Rede hörte, sprang er hocherfreut auf und brummte: »Wenn ich dein Schatz bin, mußt du mich so lange schlagen, bis mir die Haut vom Leib fliegt.«

Dagegen sperrte sich die Jungfrau lange, doch endlich gab sie den Bitten nach und nahm eine Peitsche. Diese schwang sie so kräftig, daß bald Hautfetzen vom Bären davonflogen. Auf die Bitte des Bären schlug sie aber noch immer zu, daß die Hiebe klatschten. Als die Haut fast ganz weggepeitscht war, stand plötzlich ein wunderschöner Jüngling vor ihr. Er eilte auf sie zu, umarmte sie und dankte ihr für seine Erlösung. Dann führte er sie in das Schloß zurück und hielt mit ihr eine lustige Hochzeit. Dabei diente das alte Gesinde, das zugleich mit dem Herrn vom Zauber erlöst worden war. Die gute Kaufmannstochter war nun eine steinreiche Rittersfrau und hatte mit ihrem Gemahl ein gar herrliches Leben.


(mündlich aus Tannheim)

Quelle:
Zingerle, Ignaz und Joseph: Kinder- und Hausmärchen aus Süddeutschland. (Regensburg 1854) Nachdruck München: Borowsky, 1980, S. 310-313.
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