|
[46] Wo aus dorfgeschmücktem Thale
Stolz der Berg sich hebt hinan,
Liegt im hellsten Abendstrahle
Leuchtend, einer Alpe Plan;
Dorten über grüne Höhen
Schöne Kühe heimwärts gehen
Euterstrotzend, wohlgethan.
Lockend ruft der Senne, strecket
Mit dem Salz die Hände hin,
Achtet wohl, daß jede lecket,
Keiner mag er es entzieh'n;
Denn es kommt dabei das alte
Wunderbarlich ungestalte
Nebelmännlein ihm zu Sinn.
Das, wenn Wolken niederhangen
Regenschauernd, frostig, grau,
Mit dem Schleier zu umfangen
Lichten Himmels helles Blau,
Auf der Alpe pflegt zu Zeiten
Leisen Schritt's umher zu gleiten
Und zu schweben durch die Au.
Einen Hut gar breiten Randes,
Trägt es, Holzschuh' hat es an,
Mit der alten Tracht des Landes
Seltsam ist es angethan;
Um die nebelweiße, weite
Jacke hat es an der Seite
Eine Tasche umgethan.
So erscheint es bei den Hütten
Wenn es dunkelt, Abends spät,
Oefter auch am Tage, mitten
Unterm Vieh umher es späht.[47]
Seine Hände lockend strecket,
Und wenn keine Kuh sie lecket,
Trauernd dann von hinnen geht.
Denn so laut das alte, schlimme
Nebelmännlein, traumbethört
Auch erhebe seine Stimme,
Niemals doch das Vieh ihn hört;
Und es geht die alte Kunde
Bei den Hirten, die vom Munde
Ihrer Väter sie gehört:
Dieses sei ein ungerechter
Hirt gewesen an der Statt,
Der dem Vieh, zu dessen Wächter
Er bestellet, Untreu' that,
Der das Salz nicht recht verwogen,
Ein'gen Kühen es entzogen,
Und gegeben Andern satt.
Jetzo aber müß' er schweifen
Durch die Triften leis' und sacht',
Wenn die Wolken düster streifen,
Wenn es schneit in dunkler Nacht,
Bis die rechte Zeit gekommen,
Bis das Vieh den Ruf vernommen,
Er das Unrecht gut gemacht.
Darum lockt der Senne, strecket
Mit dem Salz die Hände hin,
Achtet wohl, daß jede lecket,
Mag es keiner je entzieh'n;
Denn es kömmt dabei das alte,
Wunderbarlich umgestalte
Nebelmännlein ihm zu Sinn.
Buchempfehlung
Die Fortsetzung der Spottschrift »L'Honnête Femme Oder die Ehrliche Frau zu Plissline« widmet sich in neuen Episoden dem kleinbürgerlichen Leben der Wirtin vom »Göldenen Maulaffen«.
46 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.
432 Seiten, 19.80 Euro