[270] 46. Siebenjahr

[270] Es waren einmal zwei Brüder, ein reicher und ein armer. Der Arme wurde Witwer, und seine Frau ließ ihm ein Töchterchen zurück, das stand im siebenten Jahre, darum nannte man es Siebenjahr. Der Reiche schenkte Siebenjahr ein armseliges Kälbchen, und sie tränkte, fütterte und pflegte es, und aus dem Kälbchen ward eine prächtige Kuh, die brachte ein Kalb mit goldenen Hufen zur Welt. Da kamen die Töchter des reichen Onkels zu Besuch und sahen das Kalb; dann gingen sie fort und sagten es dem Vater. Der Reiche wollte sich das Kalb aneignen, aber der Arme gab es nicht her. Sie stritten und stritten miteinander, gingen zum Vojewoden1 und baten, ihren Handel zu schlichten. Der Reiche sagte: »Ich hab meiner Nichte nur das Kälbchen geschenkt, nicht seine Nachzucht!« Der Arme jedoch sagte: »Das Kälbchen ist mein, also ist auch die Nachzucht mein!« Wie sollte man da entscheiden? Der Vojewode sprach zu ihnen: »Löst mir drei Rätsel! Wer sie errät, dem soll das Kälbchen gehören. Zuerst ratet: was ist das Allerschnellste?«

Die Bauern gingen heim. Da dachte der Arme bei sich: »Was soll ich wohl sagen?«, und er sprach zu seiner Tochter Siebenjahr: »Töchterchen, Töchterchen! Der Vojewode befiehlt zu erraten, was das Schnellste ist auf der Welt. Was soll ich ihm nun antworten?« – »Sei nicht traurig, Väterchen! Bete zum Heiland und leg dich schlafen!« Und er legte sich zur Ruh. Am Morgen weckte ihn Siebenjahr: »Steh auf, steh auf, Väterchen! Es ist Zeit, zum Vojewoden zu gehn. Mach dich auf und sag ihm: das Schnellste auf der Welt ist der Gedanke!« Der Bauer erhob sich und ging zum Vojewoden; auch der Bruder kam hin. Der Vojewode trat zu [271] ihnen hinaus und fragte: »Nun, so sagt mir: was ist das Allerschnellste?« Der Reiche sprang vor und rief: »Ich hab ein so schnelles Roß, daß niemand es einholt: es ist das Allerschnellste, was es gibt!« Der Vojewode lachte nur und sprach zum Armen: »Und was meinst du?« Der Arme sagte: »Der Gedanke ist das Schnellste auf der Welt!« Der Vojewode staunte darüber und fragte: »Wer hat dich das gelehrt?« – »Meine Tochter Siebenjahr.« – »Na, dann gut! Ratet jetzt: was ist das Fetteste auf der Welt?«

Die Bauern gingen heim. Der Arme kam und sagte zu Siebenjahr: »Der Vojewode hat uns aufgegeben, zu erraten: was ist das Fetteste auf der Welt? Was soll man da antworten?« – »Nun, Väterchen, gräm dich nicht: der Morgen ist klüger als der Abend. [272] Bete zum Heiland und leg dich schlafen.« Der Alte legte sich zur Ruh. Am Morgen weckte ihn Siebenjahr: »Steh auf, Väterchen! Es ist Zeit, zum Vojewoden zu gehn! Fragt er dich, was das Fetteste sei, so antworte: die Erde ist am fettesten, denn sie bringt Früchte aller Art hervor!« Der Bauer erhob sich und ging zum Vojewoden; auch der Reiche kam hin. Der Vojewode trat zu ihnen hinaus und fragte: »Nun, habt ihr's erraten? Was ist das Fetteste von allem?« Der Reiche sprang vor und rief: »Ich hab einen verschnittenen Eber, der ist so fett, daß es nichts Fetteres mehr gibt! Er ist von allem das Fetteste!« Der Vojewode lachte und fragte den Armen: »Na, was meinst denn du?« – »Die Erde ist das Fetteste, denn sie bringt Früchte aller Art hervor!« Der Vojewode erstaunte und fragte: »Wer hat dich das gelehrt?« – »Meine Tochter Siebenjahr!« – »Nun gut! Jetzt ratet aber: was ist das Holdeste auf der Welt?«

Die Bauern gingen heim. Der Arme kam und erzählte Siebenjahr: »Das und das hat der Vojewode uns zu raten aufgegeben. Was soll ich da antworten?« – »Nun, Väterchen, sei nicht traurig: der Morgen ist klüger als der Abend. Bete zum Heiland und leg dich schlafen.« Am Morgen weckte sie ihn und sprach: »Steh auf, Väterchen! Es ist Zeit, zum Vojewoden zu gehn. Fragt er dich, so antworte: dem Menschen ist das Holdeste der Schlaf, denn im Schlaf vergißt man jedes Leid!« Der Vater erhob sich und ging zum Vojewoden; auch der Reiche kam hin. Der Vojewode kam zu ihnen hinaus und fragte: »Nun, so sagt mir: was ist das Holdeste auf der Welt?« Da rief der Reiche schnell: »Das Weib ist das Holdeste auf aller Welt!« Der Vojewode lachte und fragte den Armen: »Und was meinst du?« – »Der Schlaf ist dem Menschen das Holdeste auf der Welt, denn im Schlaf vergißt man jedes Leid!« Der Vojewode erstaunte und fragte: »Wer hat dich das gelehrt?« – »Meine Tochter Siebenjahr.«

Da ging der Vojewode in seine Gemächer, kam mit einem Sieb voll Eier wieder heraus und sprach: »Geh hin und bring deiner Tochter dieses Sieb mit den Eiern, sie soll bis morgen aus ihnen Kücken ausbrüten!« Der Arme ging heim, weinte und erzählte Siebenjahr, was der Vojewode ihm aufgetragen hatte. »Na, Väterchen, gräm dich nicht! Bete zum Heiland und leg dich schlafen: der Morgen ist klüger als der Abend!« Am nächsten Tage weckte sie den Vater: »Väterchen, Väterchen, steh auf! Es ist Zeit, zum Vojewoden zu gehn. Hier, nimm ihm ein wenig Hirsekorn mit und sag ihm, die Kücken würden gleich fertig sein, aber mit frischem Sommerkorn müßten sie gefüttert werden; darum soll er es säen, und nach einer halben Stunde muß das Korn reif sein, und dann soll er es mir gleich senden.« Der Alte erhob sich und ging zum Vojewoden. Der kam heraus und fragte: »Nun, hast du die Kücken mitgebracht?« – »Ja, meine Tochter sagt, daß sie nach einer halben Stunde da sein werden. Aber man muß sie mit Sommerhirsekorn füttern, sagt sie; darum hat sie etwas Korn mitgeschickt, damit Ihr [273] es sät; und alles soll nach einer halben Stunde fertig sein.« – »Aber ist es denn möglich, daß das Korn in einer halben Stunde heranwächst und reif wird?« – »Und ist es etwa möglich, Kücken in einer Nacht auszubrüten?« Der Vojewode konnte nichts machen: Siebenjahr hatte ihn überlistet.

Da gab er dem Armen ein Garn und sprach: »Deine Tochter soll bis morgen Leinwand spinnen und mir ein Hemd nähen!« Der Vater ward traurig, ging fort und erzählte alles Siebenjahr. »Na, Väterchen, gräm dich nicht. Bete zum Heiland und leg dich schlafen! Der Morgen ist klüger als der Abend!« Der Vater legte sich hin und schlief ein. Am Morgen weckte ihn Siebenjahr: »Steh auf, Väterchen! Es ist Zeit, zum Vojewoden zu gehn. Mach dich auf, bring ihm Leinsamen und sag, daß das Hemd fertig sei, aber womit soll ich den Kragen durchsteppen? Mag er den Samen aussäen, damit er heranwächst und reif wird, und nach einer halben Stunde soll er mir den Faden schicken!« Der Vater ging hin und sagte es dem Vojewoden. Der aber sprach: »Wie ist es denn möglich, daß der Flachs in einer halben Stunde heranwächst und daß man aus ihm Fäden spinnt?« – »Kann man denn aber in einer Nacht Leinwand spinnen und ein Hemd nähen?« Wieder hatte Siebenjahr den Vojewoden überlistet!

Da sprach er zum Alten: »Geh hin und sag deiner Tochter, sie solle zu mir kommen, nicht zu Fuß und nicht zu Pferde, nicht im Schlitten und nicht im Wagen, nicht nackt und nicht bekleidet, und nicht mit Geschenk und nicht ohne Geschenk!« Der Vater kam heim und erzählte alles der Tochter. Am nächsten Tage legte Siebenjahr ihre Kleider ab, wickelte sie in ein Fischernetz, nahm eine Taube mit sich und lief zum Vojewoden auf Schneeschuhen. Sie kam zu ihm und gab ihm die Taube, aber die riß sich gleich los und flog davon. Und so hatte Siebenjahr den Vojewoden wieder überlistet; doch sie gefiel [274] ihm sehr, und er sprach zu ihr: »Morgen komm ich selbst zu euch.« Da fuhr der Alte in die Stadt, um Vorräte einzukaufen und den Gast bewirten zu können.

Gleich am andern Morgen kam der Vojewode an Siebenjahrs Hause vorgefahren. Da waren aber weder ein Hof noch selbst ein Pflock, nur der Schlitten und der Wagen standen vor dem Hause. Der Vojewode sah sich um, wo er sein Pferd anbinden könne. Er trat zum Fenster heran und fragte Siebenjahr: »Wo kann ich wohl mein Pferd anbinden?« – »Bind es zwischen Sommer und Winter an!« Der Vojewode dachte und dachte darüber nach und kam nur mit Mühe darauf, daß zwischen Winter und Sommer heißen solle zwischen Schlitten und Wagen. Dann ging er ins Zimmer und fragte: »Wo ist dein Vater, und wann kehrt er zurück?« – »Mein Vater ist in der Stadt; fährt er einen Umweg, wird er zum Abend hier sein, fährt er aber geradezu, wird er auch nach drei Tagen nicht zurück sein.« – »Wie geht das wunderlich zu? Was soll das bedeuten?« – »Das bedeutet: geradezu geht es durch den Sumpf, doch auf dem Umweg auf der Straße.«

Danach freite der Vojewode um Siebenjahr, doch unter der Bedingung, daß sie sich nicht in die Angelegenheiten seines Amtes mischen dürfe; hielte sie aber ihr Versprechen nicht, dann würde er sie mit dem, was ihr das Liebste sei, zurück zu ihrem Vater schicken. Sie wurden getraut und lebten glücklich und zufrieden. War es lange nach dem oder nicht, da bat ein Bauer einen andern um ein Pferd, damit er vom Felde Rüben einfahren könne. Jener gab ihm das Pferd; der Bauer fuhr fort und kam erst spät am Abend zurück. Darum brachte er das Pferd nicht gleich dem Besitzer, sondern band es an seinem Wagen an. Am Morgen stand er auf und sah unter dem Wagen ein Füllen liegen. »Das Füllen ist mein: es liegt unter dem [275] Wagen; gewiß hat es die Rübe oder der Wagen geworfen.« Der andere aber, dem das Pferd gehörte, sagte: »Das Füllen ist mein!« Sie stritten und stritten sich und gingen zum Vojewoden, ihr Recht zu verlangen. Der Vojewode entschied: »Das Füllen ist unter dem Wagen gefunden worden, so gehört es auch dem, dem der Wagen gehört!« Das hörte Siebenjahr mit an, konnte nicht an sich halten und sagte ihrem Manne, daß er ungerecht richte. Der Vojewode geriet in Zorn und verlangte die Scheidung. Nach dem Mittagessen sollte Siebenjahr wieder zu ihrem Vater zurückfahren. Doch während des Essens machte sie ihren Mann ganz betrunken. Er trank sich voll und schlief ein. Da befahl sie, den Schlafenden in den Wagen zu legen, und fuhr mit ihm zu ihrem Vater. Dort wachte der Vojewode auf und fragte: »Wer hat mich hierhergebracht?« – »Ich habe dich hergefahren«, sagte Siebenjahr, »wir machten ja aus, daß ich mitnehmen dürfe, was mir das Liebste sei. Da nahm ich nun dich mit!« Er staunte über ihre Klugheit, versöhnte sich mit ihr und kehrte nach Hause zurück: und sie lebten fortan glücklich und in Frieden.

Fußnoten

1 Der Vojevode ist in dem älteren Sprachgebrauch der Befehlshaber einer Stadt und des dazugehörigen Landkreises.

Quelle:
Löwis of Menar, August von: Russische Volksmärchen. Jena: Eugen Diederichs, 1927, S. 270-276.
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