In der Jahresversammlung des Vereins für Geschichte und Altertümer des Kantons Uri vom Jahre 1909 wurde auf Anregung des damaligen Präsidenten, Landammann Gustav Muheim, der Beschluss gefasst, die Volkssagen des Urnerlandes zu sammeln, und ein Ausschuss gewählt, dem diese Aufgabe zufiel. Der konstituierte sich auch alsbald unter dem Vorsitze von Staatsarchivar Dr. E. Wymann und wählte den Unterzeichneten zum Schreiber. Mit dieser Konstituierung scheint sich aber die Energie des Ausschusses so ziemlich erschöpft zu haben, wenigstens liefen von dieser Seite keine Einsendungen zu, und der Schreiber blieb der einzige, der sich ans Sammeln machte. Eine zufällig früher von ihm angelegte kleine Kollektion von Sagen mehr geschichtlicher Natur bildete das Nestei, um das sich in der Folge Stück für Stück gruppierte. Da die Arbeit mit der Zeit zu umfangreich wurde und die Kräfte des Vereins überstieg, so entband er sich ihrer im Jahre 1917 und überliess sie dem Unterzeichneten.
In der Tat war kaum einem eine so günstige Gelegenheit vergönnt, das Urner Sagengut einzuheimsen, wie gerade mir. Meine Stelle als Seelsorgsgeistlicher des Kantonsspitals brachte mich in Fühlung mit zahlreichen Leuten der ganzen Gegend, namentlich auch mit alten, deren es vor 1920 ungleich mehr im Hause hatte als heute. Meine Lage war die einer Spinne in ihrem Netz, der die Strömungen und Fügungen des Schicksals die Beute von allen Seiten zutrieben. Überfallen wie die Spinne habe ich zwar meine Opfer, bejahrte Leute und Genesende, nicht und auch nicht ausgesogen. Wo ich aber in freundschaftlichem Verkehr eine Sage, ein Märchen, eine Schnurre herauslocken konnte, habe ich die Gelegenheit nicht verpasst, dabei auch Volkslieder, Sprichwörter, Bauernregeln, Rätsel, Beschreibungen von Spielen mit in Kauf genommen. Sieben auf einen Streich begründeten ja bekanntlich den Ruhm und das Glück des tapfern Schneiderleins.[3]
So ist fast die ganze Sammlung in diesem Hause entstanden; verhältnismässig weniges habe ich in andern Häusern aufgenommen, so in Bürglen, Seedorf, Schattdorf, Gurtnellen, und manches wurde mir von guten Freunden zugetragen, teils mündlich, z.B. von Pfarrer-Resignat Arnold, Rütlipächter Jos. Zgraggen, Tramsekretär Heinrich Gamma, teils schriftlich von Dr. P. Meinrad Regli und Dr. Henggeler in Ursern, Pfarrer Dr. Anton Schmid und Kaplan K. Gisler in Göschenen, Kaplan K. Truttmann auf Urnerboden, Stationsvorstand A. Schaller-Donauer in Sisikon, Fr. Oberst Epp-Schmid in Altdorf, Landwirt Alois Infanger in Bauen. Ihnen und all den geduldigen Erzählern möchte ich hier meinen herzlichen Dank abstatten. Um die Arbeit zu einer möglichst abschliessenden zu gestalten, wurden auch die schon vorhandenen gedruckten Sagensammlungen, soweit sie mir erreichbar, ausgebeutet, so Lütolfs Sagen, Bräuche und Legenden, Herzogs Schweizer Sagen, Abegg, Die Mundart von Ursern, das Schweizerische Archiv für Volkskunde, das Neujahrsblatt von Uri und vor allem Dr. K. Gislers prächtiges und vielgelesenes Buch: Geschichtliches, Sagen und Legenden aus Uri.
Ob ich wohl den gesamten Urner Sagenschatz gehoben? Wenn darunter dessen gegenwärtiger Bestand gemeint ist, so darf man die Frage, nach meiner Ansicht, im Grossen und Ganzen bejahen. Wesentliches, von Varianten also abgesehen, ist wohl kaum mehr zu erobern. Ist aber der frühere Bestand, ich will nur sagen, etwa der vor 20–30 Jahren gemeint, so muss man sagen, dass die Sammlung keineswegs vollständig ist. Ich erinnere mich dunkel, in meiner Jugend Sagen gehört zu haben, die ich in diesen Jahren nur noch mit Mühe, oder in Bruchstücken, oder gar nicht mehr erreichen konnte. Auch habe ich erfahren, dass in dieser Zeit mehrere Hochbetagte gestorben, von denen ich aus guten Gründen vermute, dass sie ganz alte, interessante Sagen mit sich ins Grab genommen. Zwar ist der Sage schon vor hundert Jahren das Totenlied gesungen worden, sie hat sich aber als zäher erwiesen, als man damals geglaubt; doch gegenwärtig geht es mit ihr nach meinen Beobachtungen rasch bergab. Nicht, als ob sie gänzlich verschwinden würde; es werden sich immer wieder Sagen bilden, aber anderer, nüchterner Natur; gelegentlich wird manche alte aufleben und sich umbilden, wie z.B. zur Zeit der Grippe die Sage vom Sennentunsch umgewandelt aufgetaucht[4] ist. Und wie oft kommt es vor, dass alte Leute wieder im Ernst erzählen, was sie in Jungen Jahren geleugnet, verspottet haben.
Anfangs bot das Sammeln Schwierigkeiten. Wenn ich die Leute im Allgemeinen nach alten Geschichten fragte, wollten die wenigsten etwas wissen. Erst als ich anfing, aus Sagensammlungen vorzulesen oder, später, aus den inzwischen gewonnenen Schätzen selber mündlich zu erzählen, tauten sie auf und belohnten die aufgewendete Mühe, besonders, wenn es gelang, mehrere Personen gleichzeitig ins Gespräch zu verwickeln. Um Sagen zu gewinnen, sollte man überhaupt nicht fragen müssen. Fragen macht manchen stutzig. Durch Fragen eroberte Sagen werden trocken und kurz erzählt. Drängendes Fragen kann sogar unwahre Angaben zur Folge haben. Am besten ist es, unauffällig, scheinbar ohne grosses Interesse, den Leuten, die spontan untereinander ins Erzählen geraten sind, zuzuhören. Wer aber systematisch eine möglichst vollständige Sammlung schaffen und besonders auch die Varianten erfassen will, kann des Fragens nicht entraten, muss damit wenigstens nachhelfen, nur darf er den Erzähler nicht ermüden, sonst wird er Antworten aufs Geratewohl erzielen. Die Gefahr, angeschwindelt zu werden, wird aufgehoben, wenn man imstande ist, auch ernsthafte Leute oder doch wenigstens viele Erzähler einzuvernehmen, da sich dann ihre Angaben gegenseitig kontrollieren. Zweifelhaftes, wofür man auch gar keine Bestätigung erhält, lässt man liegen. Es ist auch mir – wie schon andern – vorgekommen, dass man sich nachher gebrüstet hat, mir Bären angehängt zu haben. Ich glaube nicht, dass es ihnen gelungen; die guten Leute haben sich eingebildet, ich hätte den Inhalt ihrer Geschichten geglaubt. Zudem, wirklich neue Motive absichtlich zu erfinden, dazu fehlt den meisten die Phantasie. Manche Sagen, die mir nur bruchstückweise erzählt worden, habe ich in einheitliche Fassung gebracht; in der Regel aber habe ich es vorgezogen, sie als Spielarten dem Leser vorzulegen. Interessant und lustig ist es oft zuzuhören, wie der eine die Erzählung eines andern verspottet, als unwahr, unsinnig bezeichnet, selber aber dann mit noch gröberem Geschütz ins Gefecht rückt.
Mehr denn 350 Personen beiderlei Geschlechtes und sozusagen jeder Altersstufe und jeden Standes, vor allem zwar des Bauern- und Älplerstandes, habe ich mit mehr oder weniger Erfolg abgehört, um nicht ein bloss einseitiges Bild der Urner[5] Sagenwelt bieten zu können. Von ihnen ist mehr als ein Drittel unterdessen ins stille Grab gesunken, eingetreten in das Heer der Schweigenden, vor allem aus der alten Garde, die ihre Sagen ernst und oft tief aufgefasst hat und bestrebt gewesen, in deren Innerstes einzudringen, deren Sinn und Lehre im Kern zu erfassen. Mit manchen aus ihnen wären ganze Sagengruppen, ich darf wohl sagen, jahrtausendalte Überlieferungen versunken, wäre es nicht gelungen, sie in letzter Stunde aufs Papier zu bringen und so als Zeugen einstigen Denkens und Glaubens der Nachwelt zu überliefern. Aber auch vom jüngern Geschlecht ist eine hübsche Anzahl den Kniffen und Ränken des beutegierigen Jägers, Tod genannt, erlegen, unter ihnen der kaum zwölfjährige Josef Muheim von Göschenen, der – Gott b'hüet-is darvor! – von einem Herzschlage dahingerafft worden, und der neunzehn Jahre zählende Josef Walker von Flüelen, der als Opfer seiner Arbeitsliebe bei der Holzarbeit zu Tode gefallen. Die Alten müssen, die Jungen können. Sicher bei ebensovielen habe ich nach Sagen angepocht, das Stethoskop angesetzt, ohne aber Leben anzutreffen. Nur so war es möglich, die Sage auch in ihren Spielarten und örtlichen Farblichtern zu erfassen, die wohl für den neugierigen Leser aus dem Volke langweilig sein mögen, dem wissenschaftlich eingestellten Sagenforscher hingegen willkommen sind. Von den Landesgegenden ist wohl das Meiental am wenigsten von mir erreicht worden, das nach meiner Ansicht einerseits recht altertümliche »Sägi« aufgewiesen, anderseits selbe verhältnismässig früh und jäh verloren hat. Wären mir nicht in letzter Stunde die nun achtzigjährige unermüdliche und gläubige Erzählerin Marianna Schmid und der Philolog Dr. P. Meinrad Regli, als Sammler, zuhilfe gekommen, so wäre Hospental fast leer ausgegangen. Den eigentlichen Sagen glaubte ich, die Märchen, Volkslegenden, Witze und Anekdoten beifügen zu dürfen, sie berühren sich oft. Weniger als Sage, Legende und Anekdote hat das Märchen örtlichen Farbenton angenommen. Wohl am besten in Uri haben Gurtnellen, Schächen- und Maderanertal die alte Sage neuzeitlichem Glauben angepasst und deshalb auch länger bewahrt.
Ein Wort über den Charakter meiner Erzähler, zu denen ich jene Personen nicht rechne, die mir Sagen für die Sammlung nur referiert haben. Unter ihnen prangt eine stattliche Anzahl ehrwürdiger Alter und auch junger intelligenter Leute von intaktem Lebenswandel; dann aber tritt auch eine Reihe[6] von leichterer Art auf, Sonderlinge und Originale, lustige Fabulanten, die lieber mit dem Munde als mit den Händen schaffen, Typen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, ihren unauslöschlichen Durst mit Waffen geistig-flüssiger Natur zu bekämpfen, denen es nicht gelungen, die steilen Höhen menschlicher Ethik und Intelligenz zu erklimmen. Dass die Sammlung in einem Krankenhaus entstanden, hat natürlich auf die Auswahl der Erzähler einen grossen Einfluss ausgeübt.
Inhaltlich sind die Grosszahl der Sagen Aberglaube, oft allzu krasser. Doch wird nicht jeder mit der gleichen Schärfe ihn beurteilen, mit der gleichen Strenge über ihn zu Gerichte sitzen, der Wissenschaftler am allerwenigsten. Wie oft ist er, ursprünglich wenigstens, nur die Umhüllung an sich gesunder Anschauungen, Aberglaube nur, weil man mit der Zeit den alten Sinn vergessen, in ihm nur mehr den tötenden Buchstaben statt des lebendig machenden Geistes erfasst hat. Ähnliche Erscheinungen trifft man ja überhaupt im Sagenreiche. Was mich am meisten verblüfft, ist, dass ich im Verlauf meiner Nachforschungen auf Personen gestossen bin, die noch ernstlich im Hexenwahn befangen waren, sich selben nicht einmal ausreden liessen; ihre Reihe lichtet sich. Auch betreffs Aberglauben habe ich nichts, was mir zugekommen, beschönigt oder verheimlicht, sondern gesammelt und dem Sagenforscher unterbreitet, schlicht und ehrlich, wie es eines aufrechten Urners Art ist.
Es war mein Bestreben, die Erzählungen so zu bieten, wie ich sie gehört, ihren Inhalt aber möglichst klar und richtig darzustellen, habe sie demgemäss nicht ausgeschmückt, sondern schmucklos – vielleicht etwas zu trocken – und schriftdeutsch abgefasst. Die Stücke in der Mundart, nehme ich an, seien manchem willkommen, doch bin ich in der Schreibart noch unsicher, hoffe aber, es im zweiten Bande besser zu machen.
Meinen herzlichen Dank entbiete ich der Schweizerischen Gesellschaft für Volkskunde, die meine Sammlung aufgenommen hat, und besonders Herrn Dr. Hanns Bächtold-Stäubli, der sich ihr mit grosser Mühe und Arbeit gewidmet, sie gesichtet, geordnet und korrigiert hat, dessen steter Hilfe und unermüdlicher Geduld mir unbeholfenem Menschen gegenüber ich volle Anerkennung zolle.
Altdorf, im Oktober 1926.
Josef Müller.[7]
Die Schweizerische Gesellschaft für Volkskunde hat die schöne auf drei Bände zu je 20 Bogen berechnete Sagensammlung aus Uri mit Freuden in ihre »Schriften« aufgenommen und legt hiermit den ersten Band dem Publikum vor; denn der Sammler, Herr Pfarrer Josef Müller, hat es nicht nur verstanden, die Sagen in echt volkstümlicher, anschaulicher Weise wiederzugeben (manche von ihnen sind kleine Schmuckstücke der Erzählungskunst), sondern er hat auch aus dem kleinen Kanton Uri eine Sammlung zustande gebracht, die mehrere Tausend Nummern zählt! Damit hat er eine Vollständigkeit erreicht, wie sie kein anderes grösseres oder kleineres geographisches Gebiet bisher besitzt; ein neuer Beweis dafür, wie unendlich reich unsere Schweiz an Sagen ist.
Der zweite Band wird in etwa Jahresfrist erscheinen.
Im dritten Band werden ausser dem Rest der Sagen die Anmerkungen mit vergleichender Literatur und das alphabetische Sachregister folgen.
Für die Herausgabe ist der Unterzeichnete verantwortlich. Er dankt hier auch herzlich Prof. E. Hoffmann-Krayer, der ihm dauernd mit Rat und Tat zur Seite gestanden und die Korrektur mit gelesen hat.
Basel, im Oktober 1926.
Hanns Bächtold-Stäubli.[8]
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