Sechste Familie: Hornthiere (Cavicornia)

[194] Die zweite Hauptabtheilung der Wiederkäuer wird gebildet durch die Hornthiere (Cavicornia), welche nach ziemlich übereinstimmender Ansicht der Forscher eine einzige, jedoch in drei, wie andere wollen, in vier Unterfamilien getrennte, nach außen wohl abgegrenzte Familie bilden. So nahe verwandt die Hirsche den horn- oder scheidenhörnigen Thieren auch zu sein scheinen, so bestimmt unterscheiden sie sich, wie bereits in der Einleitung bemerkt, durch die Gestalt und Beschaffenheit sowie den Bildungshergang ihrer Gehörne, weil deren Entwickelung und Weiterbildung eine stetig fortschreitende ist. »Die Hornthiere«, sagt Blasius klar und verständlich, »haben keilförmig sich verschmälernde Stirnzapfen, welche von der Hornscheide dauernd umschlossen bleiben; der Knochenzapfen wächst vom Grunde aus ununterbrochen nach und dehnt sich dadurch in die Länge, an der Wurzel auch in die Dicke aus. Beim Fortwachsen entwickelt sich auf diesem Knochenzapfen der ganzen Länge nach ununterbrochen neue Hornmasse, für welche die alte vorhandene fortwährend eine fest umschließende Scheide bildet. Auch bei den Scheidenhörnern wird durch die neugebildete Hornmasse die vorhandene ältere vom knöchernen Stirnzapfen getrennt, aber nicht wie bei den Hirschen mechanisch abgeworfen, indem die kegelförmige Gestalt der Berührungsfläche und die feste Umhüllung der alten Hornscheide das Abfallen verhindern. Eine Wiederkehr nach gewissen Zeiträumen, wie bei den Hirschen, scheint auf den ersten Blick nicht zu bestehen; doch zeigt jeder Jahreszuwachs eine schärfere Abschnürung auch äußerlich am Horne durch wellenförmige Verengung und sogar durch mechanische, oft tief in die Hornmasse eindringende Ablösung der Schichten verschiedenen Alters. Auch ist nicht zu verkennen, daß der Grad des Wachsthums der Hornmasse nicht im Verlaufe des ganzen Jahres ein gleichmäßiger ist. Der Jahreszuwachs nach dem Alter ist ebenfalls abwechselnd; die Länge der neu hinzutretenden Jahresringe wird mit dem Alter immer kleiner.« Zur anderweitigen Kennzeichnung der Familie mag dienen, daß alle zu ihr gehörigen Thiere nur im Unterkiefer Schneidezähne haben, acht an der Zahl, oder, wie andere wollen, sechs Schneide- und zwei Eckzähne, und außerdem in jedem Kiefer oben und unten sechs Mahl- oder Backenzähne besitzen, daß ferner die Schädelknochen an den Kopfseiten vor dem Auge dicht und undurchbrochen sind, der Huf ziemlich plump und breiter als die Dicke der Zehen ist, die Behaarung gleichmäßiger als bei den Hirschen zu sein pflegt und Haarwülste an den Hinterläufen nicht oder doch nur ausnahmsweise vorhanden sind.

Abgesehen von dem Gebiß und dem Gehörn läßt sich übrigens etwas allgemein gültiges von den Hornthieren nicht sagen. Ihr Leibesbau ist außerordentlich verschieden, da die Familie ebensowohl plumpe und massige wie überaus leichte und zierliche Gestalten aufweist. Die Gestalt der Hörner und der Hufe, die Länge des Schwanzes, Haarkleid und Färbung schwanken in weiten Grenzen; Thränengruben sind vorhanden oder fehlen; die Nasenspitze ist behaart oder nackt: kurz es ergeben sich bei genauer Betrachtung der hierher zu zählenden Thiere die verschiedensten und durchgreifendsten Unterschiede.

Wie die äußere Gestalt, ändert auch die Lebensweise der Hornthiere mannigfaltig ab. Fast über die ganze Erde sich verbreitend, bewohnen sie in vielen Arten alle Gürtel der Breite und Höhe und alle Gebiete oder Gefilde, von der öden Wüste an bis zu dem in tropischer Fülle prangenden Walde, von der sumpfigen Ebene an bis zu den gletscherbedeckten Gebirgen hinauf. Weitaus die meisten leben gesellig, nicht wenige in starken Herden, einige wenigstens zeitweilig in Scharen, welche höchstens noch von den durch Nager gebildeten übertroffen werden können. Entsprechend ihrer verschiedenen Gestalt bewegen sich die einen plump und schwerfällig, die anderen im höchsten Grade behend und gewandt, und im Einklange mit ihren Aufenthaltsorten schwimmen einzelne[194] ebenso gut, als andere klettern. Fast ausnahmslos sind auch die höheren Begabungen wohl entwickelt: die Hornthiere zeichnen sich durch scharfe Sinne, nicht wenige durch Verstand aus, obwohl gerade unter diesen Thieren auch geistig sehr wenig befähigte Mitglieder gefunden werden. Ihre Vermehrung ist eine erhebliche, obschon sie meistens nur ein einziges, seltener zwei, in Ausnahmsfällen drei und höchstens vier Junge gleichzeitig zur Welt bringen. Letztere unterscheiden sich in ihrer Entwickelung wie in ihrem Wachsthume nicht von denen anderer Wiederkäuer. Sie kommen in sehr ausgebildetem Zustande zur Welt und sind bereits nach wenigen Stunden, spätestens nach einigen Tagen im Stande, ihren Eltern auf allen, oft den gefährlichsten und halsbrechendsten Wegen zu folgen. Bei vielen Arten währt das Wachsthum mehrere Jahre, bei den meisten sind die Jungen bereits nach Ablauf des ersten Lebensjahres wieder fortpflanzungsfähig, und gerade hierdurch erklärt sich das verhältnismäßig außerordentlich rasche Anwachsen eines Trupps oder einer Herde dieser Thiere.

Für den Menschen haben die Hornthiere eine viel höhere und wichtigere Bedeutung als alle übrigen Wiederkäuer, mit alleiniger Ausnahme der Kamele. Ihnen entnahmen unsere Vorfahren die für die Menschheit wichtigsten Nähr- und Nutzthiere; ihnen danken wir einen wesentlichen Theil unserer regelmäßigen Nahrung wie unserer Kleiderstoffe; ohne sie würden wir gegenwärtig nicht mehr im Stande sein, zu leben. Auch die noch ungebändigten, unbeschränkter Freiheit sich erfreuenden Arten der Familie sind durchgehends mehr nützlich als schädlich, da ihre Eingriffe in das, was wir unser Besitzthum nennen, uns nicht so empfindlich treffen wie das Gebaren anderer großer Thiere, und sie durch ihr fast ausnahmslos schmackhaftes Wildpret, durch Fell, Haare und Horn den von ihnen dann und wann angerichteten Schaden wenigstens so ziemlich wieder aufwiegen, im großen ganzen sogar überbieten. Fast sämmtliche wildlebende Hornthiere zählen zum Wilde, nicht wenige von ihnen zu Jagdthieren, welche der Weidmann den Hirschen als vollkommen ebenbürtig an die Seite stellt. Außer dem Menschen hängen sich viele andere Feinde an die Fährte der Scheidenhörner; mehr noch aber als alle Gegner zusammengenommen beschränken Mangel, Hunger und infolge dessen sich einstellende Seuchen ihre Vermehrung.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Dritter Band, Erste Abtheilung: Säugethiere, Zweiter Band: Raubthiere, Kerfjäger, Nager, Zahnarme, Beutel- und Gabelthiere. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1883., S. 194-195.
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