Lund (Mormon arctica)

[627] Einer der merkwürdigsten Vögel des Meeres ist der Lund, auch Wasserscherschnabel, Buttelstampfe, Pflugscharnase, Goldkopf, Brüderchen, Polarente genannt (Mormon arctica, fratercula, polaris, glacialis und Grabae, Alca arctica, labradorica und canagularis, Fratercula arctica und glacialis, Lunda arctica, Ceratoplepharum arcticum), Vertreter der Sippe der Larventaucher (Mormon), ein mittelgroßer, kurzhälsiger und dickköpfiger Vogel mit höchst auffallend gestaltetem Schnabel. Dieser hat, von der Seite gesehen, eine dreieckige Gestalt, ist an der Wurzel höher als an Stirne und Kinn, seitlich außerordentlich zusammengedrückt, hinten mit einer wulstigen Haut, welche sich auch am Mundwinkel fortsetzt, umgeben, vorn mehrfach gefurcht, nicht besonders spitzig, aber sehr scharfkantig. Am dreizehigen Fuße, welcher ziemlich große Schwimmhäute besitzt, fallen die starken, seitlich gebogenen Nägel auf. Der Flügel ist klein, schmal, hinten mit abgerundeten, kurzen Spitzen, der sechzehnfederige Schwanz sehr kurz, das Kleingefieder oben dicht, derb und glatt anliegend, unten länger und pelzartig, überall zerschlissen. Beachtenswerth erscheint auch noch die Umgebung des Auges, an dessen nacktem Lide unten eine knorpelartige, längliche, wagerecht stehende, oben eine dreieckige, senkrecht stehende Schwiele sich anschließt. Der Oberkopf, ein Halsband und der Ober rücken sind schwarz, die Wangen und die Kehle aschgrau, die Untertheile weiß, seitlich grau oder schwärzlich. Das Auge ist dunkelbraun, der Augenring korallroth, die Schwiele aschgrau, der Schnabel an der Spitze blaß korallroth, in den Furchen lichter, an der Wurzel blaugrau, im Mundwinkel orangegelb, der Fuß zinnoberroth. Junge Vögel unterscheiden sich durch den niederen Schnabel und die minder lebhafte Färbung des Gefieders. Die Länge beträgt einunddreißig, die Breite zweiundsechzig, die Fittiglänge siebzehn, die Schwanzlänge sechs Centimeter.

Der Lund bewohnt die Nordsee, den nördlichen Theil des Atlantischen Weltmeeres und das Eismeer bis zum achtzigsten Grade nördlicher Breite, findet sich dementsprechend an den europäischen Küsten ebensowohl wie an den asiatischen und amerikanischen, wird jedoch im Norden des Stillen Meeres durch eine verwandte Art vertreten. Auf Helgoland brüten einige Paare; weiter nach Norden hin wird er häufiger, und im Eismeere tritt er in wirklich unschätzbarer Menge auf, während des Sommers alle geeigneten Brutplätze zu hunderttausenden und Millionen bevölkernd. In Südgrönland soll er nicht häufig sein, weiter nach Norden hin jedoch zahlreicher werden. Auf der europäischen Seite des Meeres bildet er den Haupttheil der Bevölkerung aller Vogelberge. Man kann nicht annehmen, daß er wandert, obwohl er im Winter sich öfters in südlicheren Gegenden zeigt; denn streng genommen streicht er nur von seinem Brutplatze nach dem hohen Meere hinaus und von diesem wieder nach den Vogelbergen zurück. Dabei kann es allerdings vorkommen, daß er, weiter und weiterstreifend, bis in sehr südliche Gegenden, beispielsweise bis ins Mittelländische Meer, sich verirrt.

Auf meiner Reise nach Lappland traf oder unterschied ich den Lund erst in der Nähe der Lofoten. Das erste, was mir an diesem Vogel auffiel, war sein für mich ungemein überraschender Flug dicht über den Wogen dahin, als wenn er sich nicht von denselben erheben, sondern nur auf ihnen fortrutschen wolle. Der Vogel gebraucht dabei die Flügel ebensoviel als die Füße und schiebt sich rasch von Welle zu Welle, etwa wie ein halb fliegender und halb schwimmender Fisch, schlägt mit den Flügeln und mit den Füßen fortwährend in das Wasser, beschreibt einen Bogen nach dem anderen, den Wogen sich anschmiegend, und arbeitet sich, anscheinend mit großer Hastigkeit, aber noch größerer Anstrengung, weiter. Der Schnabel durchschneidet beim Fliegen die Wellen, so daß auch der Flug lebhaft an den des Scherenschnabels erinnert hat. Einmal emporgekommen, fliegt der Lund geradeaus, unter schwirrender Bewegung seiner Flügel und zwar so schnell dahin, daß der Schütze im Anfange immer zu kurz schießt. Im Schwimmen gibt er gewiß keinem Mitgliede seiner Familie oder Zunft etwas nach. Er liegt leicht auf den Wellen oder versenkt sich nach Belieben unter die Oberfläche, taucht ohne ersichtliche Anstrengung und ohne jegliches Geräusch und verweilt bis drei Minuten unter Wasser, soll auch bis in eine Tiefe von sechzig Meter hinabtauchen [628] können. Auf festem Boden geht er trippelnd und wackelnd, aber doch überraschend gut, erhebt sich auch vom Sitze aus sofort in die Luft oder fällt fliegend ohne Bedenken auf den festen Boden nieder; sitzend ruht er gewöhnlich auf den Sohlen seiner Füße und dem Schwanze oder legt sich selbst platt auf den Bauch nieder. Wie seine Verwandten bewegt er Kopf und Hals auch bei ruhigem Sitzen ohne Unterlaß, gerade als ob er etwas suchen müsse oder verschiedenes sorgfältig anzusehen habe. Seine Stimme unterscheidet sich nur durch die Tiefe von dem Knarren der verwandten Vögel, am wenigsten von der des Tordalk; sie klingt tief und gedehnt, wie »Orr, orr«, zuweilen auch, laut Faber, wie die Laute, welche ein schläfriger Mensch beim Gähnen hervorbringt, im Zorne knurrend, nach Art eines kleinen, böswilligen Hundes.

Ich habe tagelang mit Lunden in innigster Gemeinschaft gelebt, daß heißt sie auf den Vogelbergen so eingehend wie möglich zu studiren gesucht, und ich muß sagen, daß mir die Beobachtung viel Freude gewährt hat. Unter den mir bekannten Gliedern der Familie halte ich den Lund für den muntersten und klügsten. Wenn er ruhig vor seinem Loche sitzt, ist man allerdings geneigt, ihn mit Faber für langweilig und einfältig zu halten, und wenn man erfährt, daß er angesichts eines Menschen, welcher seinen Brutberg besucht, anstatt in das Meer zu fliegen, nur in die kurze Nisthöhle kriecht, an deren Ende sich knurrend zur Wehre stellt, hier aber auch, ohne eigentlich an Flucht zu denken, sich ergreifen läßt, hält man sich für berechtigt, ihn sogar dumm zu schelten. Eine solche Ansicht wird noch wesentlich unterstützt, wenn man einen gefangenen, wie ich es gethan habe, vom Brutberge wegführt und wenige hundert Schritt vom Meere auf ebenem Boden freiläßt; denn hier zeigt sich der Vogel so verblüfft, daß er die Bedeutung seiner Schwingen gänzlich zu vergessen scheint, sich in die Luft werfen läßt und eben nur wieder zum Boden herabflattert, nicht aber daran denkt, dem nahen Meere zuzufliegen, daß er erbost jedem sich nahenden Menschen entgegentritt, Hunden wohl seinen Mann steht, sich jedoch auch durch sie nicht zum Fluge bewegen läßt. Solche Ansichten ändert man, falls man denselben Vogel verfolgt, wenn er sich in seinem Elemente befindet und jede seiner Begabungen zur Geltung bringen kann. Vorsichtig oder scheu im gewöhnlichen Sinne des Wortes zeigt sich der Lund allerdings auch dann noch nicht, aus dem ganz einfachen Grunde, weil es in seiner Heimat keinem Menschen einfällt, ihn vom Boote aus zu befehden; aber er wird vorsichtig, sobald er sich verfolgt sieht, und schließlich, wie ich zu meiner Ueberraschung erfahren mußte, außerordentlich scheu. Einen klugen Vogel will ich ihn nicht nennen, einen dummen lasse ich ihn schelten. Gegen seinesgleichen bekundet er die in seiner Familie übliche Geselligkeit und Verträglichkeit. Es mag sein, daß zwischen den Lunden mehr Zänkereien vorkommen als zwischen den Lummen: ich aber habe davon nichts gesehen, sondern immer nur bemerkt, daß auch unter jenen das beste Einvernehmen herrschte. Im Falle der Noth freilich weiß sich der Lund seines scharfen Schnabels mit Erfolg zu bedienen; er aber hat auch mehr als jeder andere Bergvogel Veranlassung zum Beißen, da er in seiner Höhle dem Eindringlinge nothwendigerweise Widerstand leisten muß. Alle Lunde, welche ich aus ihren Höhlen hervorzog, bedienten sich ihres Schnabels mit vielem Geschicke und erstaunlichem Nachdrucke, und jener, welchen ich etwas fern vom Meere freiließ, wies einen großen Bauernköter, welcher sich unvorsichtig näherte, so entschieden zurück, daß der Hund fortan durch kein Zureden mehr zu einem erneuten Angriffe auf den kleinen Vogel zu bewegen war.

Die Nahrung besteht in kleinen Krustenthieren und kleinen Fischen; mit letzteren füttert er seine Jungen groß. Welchen besonderen Dienst ihm sein merkwürdiger Schnabel beim Fangen seiner Beute leistet, vermag ich nicht zu sagen, zerbreche mir auch den Kopf darüber nicht, sondern begnüge mich mit der Voraussetzung, daß er ihn geschickt zu gebrauchen weiß. Auf den Brutbergen soll er zuweilen grüne Pflanzentheile fressen, Blätter des Löffelkrautes z.B.; nach eigener Beobachtung vermag ich hierüber nichts zu sagen.

Da der Lund überall unter den Lummen und Alken brütet und wahrscheinlich nirgends eigene Ansiedelungen bildet, gilt alles über das Brutgeschäft der Verwandten gesagte auch für ihn. Um [629] die Mitte des April oder im Anfange des Mai, je nachdem der Schnee früher oder später schmilzt, nähert er sich den Bergen und sucht nun baldmöglichst seine alte Bruthöhle wieder auf oder gräbt sich eine neue. In dieser Hinsicht unterscheidet er sich von den Lummen und Alken; denn niemals wohl legt er sein Ei auf freiem Boden ab. Nicht alle graben selbst Nisthöhlen, weil jede Felsenritze oder dunkle Spalte, welche sich findet, zunächst benutzt wird, und erst die Noth sie zu eigener Arbeit zwingt: so wenigstens hat es mir erscheinen wollen. Auf den Nyken brüteten sehr viele Lunde unter großen Blöcken oder Steinen, nicht wenigere in den Klüften, Spalten und Ritzen der seitlich abfallenden Felswände; aber freilich für die Menge der Vögel gab es auf den Bergen der natürlichen Brutplätze nicht genug, und deswegen war die dünne Torfschicht, welche sie bedeckte, überall durchwühlt. Die Löcher haben, was den Durchmesser anlangt, Aehnlichkeit mit Kaninchenhöhlen, sind aber selten lang, in den meisten Fällen vielmehr so kurz, daß man den brütenden Vogel vom Eingange aus hinten sitzen sieht. Beide Geschlechter scheinen am Baue der Höhle zu arbeiten; ich habe ebensowohl Männchen als Weibchen beim Graben gefangen. Zu ihrer Arbeit benutzen sie den Schnabel und die Füße, in welcher Weise, kann ich jedoch nicht sagen, weil sie zu graben aufhören, wenn man ihnen sich nähert. Während sie scharren, sind sie mit Torferde so eingestäubt oder richtiger eingeschmiert, daß man die Farben ihres Gefieders kaum noch zu erkennen vermag; allen Schmutz aber entfernen sie, noch ehe sie zum Brüten schreiten. Jedes Pärchen legt bloß ein einziges Ei von verhältnismäßig bedeutender Größe oder etwa siebzig Millimeter Längs- und fünfundvierzig Millimeter Querdurchmesser. Seine Schale ist grobkörnig und uneben, seine Färbung ein reines Weiß, welches jedoch durch den Torfboden sehr bald gilblich und später bräunlich gefärbt wird. Beide Eltern brüten, wie viele Zeit, ist mir unbekannt, man sagt ungefähr fünf Wochen lang. Das Junge kommt in einem langen und dichten Dunenkleide von kohlschwarzer und lichtgrauer Färbung zur Welt, piept in den ersten Tagen seines Lebens sehr kläglich, schreit später kräftiger, lernt aber das knarrende »Orr« der Alten erst, wenn es ausgeflogen ist. Es scheint ziemlich langsam zu wachsen, demgemäß auch über Monatsfrist in seiner Höhle verweilen zu müssen; denn erst, wenn es vollkommen flügge geworden ist, verläßt es diese und stürzt sich unter Führung seiner Alten in das Meer. Beide Eltern schleppen ihm meilenweit Atzung herbei und setzen sich rücksichtslos Gefahren aus, wenn sie glauben, dadurch das geliebte Kind zu schützen, vertheidigen es auch nöthigenfalls mit wüthenden Bissen. Beide hängen mit wärmster Zärtlichkeit an der Brut, und selbst das Männchen nimmt alle Mühen der Erziehung gern und willig auf sich und füttert, wenn es sein Weibchen verlor, allein das Junge groß. Nimmt man dem Pärchen das Ei, so legt es ein zweites, und nimmt man dieses, auch wohl ein drittes, gewöhnlich in dieselbe Höhle. Fängt man beide Eltern vom Neste, so finden sich andere, welche das Ei bebrüten oder die Jungen erziehen.

Die Besitzer der Vogelberge rauben den Lunden regelmäßig das erste Ei, falls sie dasselbe erlangen können, lassen aber gewöhnlich das zweite den Eltern zum Ausbrüten und holen sich dann, grausam genug, das Junge, bevor es flügge wird, um es zu verspeisen oder für den kommenden Winter einzusalzen. Für längere Gefangenschaft nimmt man Lunde oder Alken überhaupt aus dem einfachen Grunde nicht aus, weil sie sich nicht halten, oder richtiger, weil man nicht im Stande ist, ihnen das nöthige Futter zu schaffen. Die Jagd im Meere ist niemals ergiebig, weil diese Vögel, wenn sie sich verfolgt sehen, so tief schwimmen, daß man bloß den Kopf und Hals als Zielpunkt hat, demgemäß mit seinem Schrot schießen muß und deshalb erst auf mehrere Schüsse einen erhält. Niemals habe ich gesehen, daß diejenigen, auf welche wir schossen, sich fliegend vom Wasser erhoben; alle suchten sich vielmehr durch Untertauchen zu retten. Angeschossene und flügellahme Lunde tauchten noch tief und anhaltend.


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Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Sechster Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Dritter Band: Scharrvögel, Kurzflügler, Stelzvögel, Zahnschnäbler, Seeflieger, Ruderfüßler, Taucher. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1882., S. 627-630.
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