Weidenbohrer (Cossus ligniperda)

[376] Vornehmlich in dem Baume, von welchem der Weidenbohrer (Cossus ligniperda) seinen deutschen Namen erhalten hat, aber auch in Obstbäumen, Rüstern, Pappeln, Erlen, Eichen und Linden, wohin gerade das eierlegende, ziemlich träge Weibchen verschlagen wurde, lebt seine Larve. Sie findet sich meist einzeln oder nur in geringer Anzahl in einem Baume, kommt aber auch ausnahmsweise in größeren Mengen vor. In den Anlagen um Göttingen rottete man im December 1836 drei je fast einen Fuß im Durchmesser haltende Trauerweiden aus, in welchen beim Zerklüften des Holzes hundert Raupen gefunden wurden. Hinter der Rinde einer Eichenstubbe traf ich einmal im März neun rosenrothe Raupen eben derselben Art, welche etwa 13 Millimeter maßen und aus Eiern vom Juli des vorangegangenen Jahres abstammten. Sie saßen nahe bei einander und waren noch nicht in das Holz eingedrungen. Die Gänge, welche sie später bohren, verlaufen in der Regel mit der Längsaxe des Baumes; sie verbindende Querzüge scheinen nur dadurch entstanden zu sein, daß eine neue Straße angelegt wurde, oder, wenn sie nach außen führen, zum Fortschaffen der Auswürfe zu dienen. Die Raupe wächst bei der holzigen Kost, welche wenig Nahrungsstoff bietet, sehr langsam und ehe sie daher ihre volle Größe von durchschnittlich 9 Centimeter Länge und fast 2 Centimeter Breite erlangt hat, vergehen mindestens zwei Jahre. Weil sie gesundes Holz ebenso wie mürbes angreift, so stattete sie Mutter Natur mit sehr kräftigen Freßzangen, bedeutender Muskulatur – die berühmte Anatomie der Weidenbohrerraupe von Peter Lyonnet weist 4041 Muskeln nach – und mit einem ätzenden Safte aus, welchen sie auch demjenigen in das Gesicht spritzt, welcher sich mehr mit ihr zu schaffen macht, als sie vertragen kann. Die rosenrothe Farbe des Jugendkleides vertauscht sie in vorgerückterem Alter mit einer schmutzigen Fleischfarbe an den Seiten, am Bauch und in den Gelenkeinschnitten, während sich die Rückenfläche der Ringe braun, Nacken und Kopf schwarz färben. Zur Verpuppung begibt sie sich in die Nähe des Ausgangsloches und spinnt ein Gehäuse. Gelangt sie bei ihrer Unruhe vor der Verpuppung tief genug, daß sie die Erde erreicht, so fertigt sie von solcher ein Gespinst; lebt sie dagegen in einem schwachen Stamme, welcher für jenes zu eng sein würde, so enthebt sie sich gänzlich der [376] Vorarbeit und nimmt mit dem nackten Gange als Todtenkammer fürlieb, wenn sie es nicht vorzieht, herauszugehen und unter dem ersten besten Steine ein Obdach für die Puppenruhe zu suchen. Die braune, auf dem Kopfe schnabelartig zugespitzte Puppe mißt etwa 40 Millimeter, fast deren 13 in der größten Breitenausdehnung und wird durch die Borstenkränze an den scharfen Rändern der Ringe ungemein rauh. Je näher die Zeit ihrer Vollendung heranrückt, desto unruhiger wird sie, bohrt gegen das vorn nicht feste Gehäuse, durchbricht es und schiebt sich zur Hälfte aus demselben heraus, ja, sie verläßt es ganz, wenn es dem Flugloche etwas entfernter lag. Sie muß fühlen, daß mindestens ihr Kopf von der freien Luft angehaucht wird. Nach kurzer Ruhe stößt der nach weiterer Freiheit ringende Falter gegen den vorderen Theil, und die dünne Schale spaltet sich in der gewöhnlichen Weise. Die Beine kommen mit dem Kopfe und den Fühlern zunächst zum Vorscheine, jene fassen Fuß, und der schwerfällige Körper wird nachgezogen. Die gefalteten, dickrippigen Flügel wachsen in derselben kurzen Zeit, wie bei anderen Faltern, nur bedürfen sie länger der Einwirkung von Luft und Wärme, um durch Verdunstung der überflüssigen Feuchtigkeit die gehörige Härte und Festigkeit zu erlangen. Mit anbrechender Nacht erst scheint dem Erstandenen das Leben zu kommen, er umschwirrt seine Geburtsstätte, besonders das Gesellschaft suchende Männchen, und freut sich des geflügelten Daseins, welches durch seine Kürze für das lange Höhlenleben nur einen spärlichen Ersatz bietet. Am Tage sitzt er mit dachförmig den Hinterleib verbergenden Flügeln in bockender Stellung, d.h. durch Naheaneinanderbringen der vorderen Beine wird der vordere Körpertheil von der Unterlage, dem Baumstamme, abgerückt, von dessen Rinde er sich kaum unterscheiden läßt. Seine Vorderflügel und der in dieser Stellung nur sichtbare Mittelleib sind durch zahllose geschlängelte Linien und Flecke in allen Schattirungen von Braun, Grau und Schwarz wie fein marmorirt; Scheitel und Halskragen zeichnen sich durch gelbgraue Färbung aus. Die Hinterflügel sind braungrau und dunkeln vor dem Saume undeutlich. Der ebenfalls graue, weißlich geringelte Hinterleib endigt beim Weibchen mit einer vorstreckbaren Legröhre, damit es seine Eier tief zwischen die Rindenritze hineinschieben könne. Der Mangel der Nebenaugen, eine in die Mittelzelle eingeschobene Zelle, zwei freie Innenrandsrippen der Vorderflügel, drei der hinteren, welche auch Haftborsten haben, und zwei Sporenpaare an den Hinterschienen bilden die Hauptmerkmale der Gattung, welche noch einige, aber seltenere Arten aufzuweisen hat, wie die Sippe noch verwandte Gattungen.

Quelle:
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Neunter Band, Vierte Abtheilung: Wirbellose Thiere, Erster Band: Die Insekten, Tausendfüßler und Spinnen. Leipzig: Verlag des Bibliographischen Instituts, 1884., S. 376-377.
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