[401] Die Eiche, welche bekanntlich mehr Schmetterlingsraupen ernährt als irgend ein anderes Gewächs, wird stellenweise von einer höchst interessanten und sonderbaren Raupe heimgesucht, die, wenn irgend eine, es mit Recht verdient, als giftig verschrieen zu sein. Ihre langen, weißbespitzten, unter dem Mikroskope oben mit Aestchen versehenen Haare enthalten so viel Ameisensäure, daß sie auch auf weniger empfindlicher Haut ein entsetzliches Brennen und Jucken hervorbringen. Es fehlt nicht an Beispielen, wo sie, in das Innere menschlicher oder thierischer Körper gelangt, die bedenklichsten Entzündungen der Schleimhäute hervorgerufen und bei Vernachlässigung den Tod herbeigeführt haben; Rinder zeigten vollständige Tollwuth. Der Träger dieser gefährlichen Brennhaare findet sich im Mai und Juni und wird von der sonderbaren Gewohnheit, mit seinesgleichen in gewisser Ordnung zum Fraße auszumarschiren und von den Weideplätzen ebenso geordnet wieder in das Nest zurückzukehren, Processionsraupe genannt. Dieselbe kommt im Mai aus den Eiern, welche das Weibchen im Sommer zuvor in Häufchen von einhundertundfunfzig bis dreihundert Stück der Rinde eines Eichenstammes anklebte, untermischt mit graubraunen Haaren aus seiner filzigen Afterspitze, in ähnlicher Weise, wie wir es bei den verschiedenen Porthesia-Arten kennen gelernt haben. Von der Anzahl der Eier hängt die Größe der Gesellschaft ab, welche nicht nur während ihres etwa sechswöchentlichen Raupenlebens, sondern auch bei der Verpuppung in der innigsten Gemeinschaft bleibt. Nur bei sehr großer Häufigkeit kann es vorkommen, daß mehrere Gesellschaften, welche auf ihren Wanderungen zusammentreffen, sich zu einer vereinigen. Gleich am ersten Abende ihres Geburtstages ziehen sie, bei geringerer Anzahl eine hinter der anderen im Gänsemarsche, bei größerer in keilförmiger Anordnung, eine voran, die nächsten Glieder paarweise, dann zu dreien, vieren usw. nach der Baumkrone, um an den Blättern, deren Oberseite sie im ersten Anfange nur bewältigen können, wie alle sehr jungen Raupen, ihre Nahrung zu suchen. Wie sie hier reihenweise geordnet schmausen, so kehren sie nach der Mahlzeit in demselben geordneten Zuge nach einer geschützten Stelle des Stammes zurück, am liebsten an Astgabeln oder ziemlich tief nach unten. Hier richten sie sich häuslich ein, sitzen dicht gedrängt beisammen, wenn sie größer geworden sind, nicht bloß neben-, sondern auch aufeinander, und spinnen ein lockeres Gewebe über sich. Im Anfange wird der Standort öfters gewechselt, später hingegen bleibt er unverändert, und das Gespinst wird durch die abgeworfenen Häute und den theilweise hängen bleibenden Koth immer dichter und bekommt das Ansehen unserer Zeichnung (Fig. d, S. 402); aus einiger Entfernung könnte man es für einen beulenartigen Auswuchs des Stammes halten. Aus diesen Gespinstballen werden die Brennhaare durch den Wind verstreut, fallen auf das Gras, welches vom Viehe abgeweidet wird, oder gelangen, in der Luft umherfliegend, den Holzarbeitern, welche in der Nachbarschaft bewohnter Bäume ihr Frühstück usw. verzehren, in den Magen. Mit anbrechender Dunkelheit verlassen die Raupen ihr Nest, an welchem man unten ein Loch als Aus- und Eingang bemerken kann, um ihre Straße aufwärts zu ziehen, und dies wiederholt sich allabendlich mit Ausschluß der auf eine jedesmalige Häutung fallenden zwei Krankheitstage. Manchmal sieht man sie auch bei Tage auf dem [401] Boden hinziehen, vielleicht irgendwie und hauptsächlich aus Futtermangel genöthigt, ihren Baum und ihr Nest zu verlassen. Der Zug gewährt dann einen höchst überraschenden Anblick; wie ein dunkles Band, eine Schlange, windet sich derselbe dahin und kommt nur langsam von der Stelle.
Die Raupe (Fig. a) hat einen breit blauschwarzen Rücken mit rothgelben Wärzchen, welche die Haarsterne tragen, und weißliche Seiten. Erwachsen 39 bis 52 Millimeter lang, begeben sich alle auf den Grund des Nestes und bereiten Reihen von Gespinsten (Fig. b), welche mit einem ihrer Enden unter rechtem Winkel auf der Stammoberfläche stehen und fest mit einander verbunden sind. Sie erinnern in ihrer Vereinigung an die gedeckelten Zellen der Bienen. In jeder Zelle ruht eine dunkel rothbraune Puppe (Fig. b), deren Bauchringel scharfe Ränder haben.
Im Juli und August, sobald es des Abends zu dämmern beginnt (nach acht Uhr), kommen die Schmetterlinge aus jenen hervor, deren Männchen durch baldiges Davonfliegen ihre Wildheit zu erkennen geben. Ich habe die Thiere oft genug erzogen, merkwürdigerweise im Freien aber kein einziges zu Gesichte bekommen. Das schlichte, bräunlichgraue Gewand läßt auf dem Vorderflügel einige dunklere Querlinien, besser beim dunkleren und schärfer gezeichneten Männchen (Fig. c) als beim Weibchen, erkennen; den gelblichweißen Hinterflügel kennzeichnet eine verwischte Querbinde, sieben Rippen spannen ihn, und eine Haftborste vereint ihn im Fluge mit dem vorderen, welcher von zwölf Rippen durchzogen wird. Bei beiden Geschlechtern tragen die Fühler bis zur Spitze zwei Reihen Kammzähne, die Hinterschienen nur Endsporen; von einer Rollzunge ist nichts zu bemerken. Die Art verbreitet sich im südlichen und nordwestlichen Deutschland, in der Ebene mehr als im Gebirge, und erreicht nach Speyer bei Havelberg ihre Polargrenze.
Buchempfehlung
Schon der Titel, der auch damals kein geläufiges Synonym für »Autobiografie« war, zeigt den skurril humorvollen Stil des Autors Jean Paul, der in den letzten Jahren vor seiner Erblindung seine Jugenderinnerungen aufgeschrieben und in drei »Vorlesungen« angeordnet hat. »Ich bin ein Ich« stellt er dabei selbstbewußt fest.
56 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.
390 Seiten, 19.80 Euro