3. Niederes Schulleben.

(1785 bis 1790.)

[24] Dieser Zeitraum der Flegeljahre bietet gar manche Erinnerung dar, welche bittere Reue weckt, indem ich beim Mangel strenger Aufsicht nicht selbst Kraft genug besaß, den Verlockungen der Trägheit zu widerstehen.

August Heimbach rieth meiner Mutter bei seinem Abgange von Leipzig, mich nun eine öffentliche Schule besuchen zu lassen. Die Nikolaischule stand in guten Rufe, da sie tüchtige Lehrer hatte, nicht überfüllt war (sie zählte noch nicht 200 Schüler) und meist nur von Söhnen aus den gebildeten Ständen besucht wurde. Heimbach selbst führte mich zum Rector [24] Martini, um mich zur Aufnahme daselbst prüfen zu lassen. Er staunte nicht wenig, als dieser am Schlusse der Prüfung erklärte, daß ich nach Quinte gesetzt werden sollte, entgegnete, daß ich seiner Meinung nach eher einen Platz in Tertie verdiene. Bei näherer Ueberlegung mit meiner Mutter fand er jedoch, daß man nachgeben müsse und ich kam Ostern 1785 als Quintaner auf die Schule.

Es war gewiß, daß Martini, vornehmlich weil er an meiner Tracht Anstoß nahm, mir keine höhere Stelle anwies. Meine Mutter nämlich, überhaupt der neuern Zeit angehörend, bewies ihre Aufklärung auch bei meiner Erziehung und kleidete mich unter Anderem, wie damals wenig Knaben meines Alters: nie kam eine Pelzmütze, dergleichen andere Kinder trugen, auf meinen Kopf; ich ging mit bloßem Halse und offener Brust, einem breiten Hemdenkragen (Hamlet geheißen), natürlich herabhängendem Haar, Strohhut und leichter Kleidung. Wiewohl ich nun die wohlthätigen Folgen dieser Tracht noch jetzt in meinem Alter fühle, indem ich die freie Luft genießen kann, ohne mich ängstlich verwahren zu müssen, so schadete mir doch dieses Basedow-philanthropinische Aussehen in den Augen des alten Rectors und ich konnte ihn durch die nun nothwendig gewordene Anlegung von Zopf und Halsbinde um so weniger aussöhnen, da sie einigermaßen illusorisch war und meine Mutter den Zwang solcher Kleiderordnung möglichst minderte: denn anstatt der steifen, hinten zugeschnallten Binde schlang sich ein schmaler Streifen von Batist, vorne mit einer Schleife von buntseidenem Bande zusammengehalten, um meinen Hals, und während das Haar im Nacken sich in ein bescheidenes Zöpfchen mußte zusammenschnüren lassen, durfte es an den Seiten und über die Stirne frei herabhängen.

Das Vorurtheil Martini's hatte aber schlimme Folgen für mich. Was in Quinte gelehrt wurde, war mir bekannt und langweilte mich; ich war also der Arbeit überhoben und ließ mich gehen; als ich eines Tages ein Pensum nicht auswendig wußte, wurde ich zum Ultimus in Sexte herabgesetzt, wo ich eiligst das Aufgegebene lernte und so noch in derselben Stunde[25] meinen vorigen Platz wieder erhielt, auch bald höher aufstieg. Zu Michaelis war öffentliches Examen. Hierzu ordnungsmäßig mit Haarbeutel und dreieckigem Hute ausgestattet, wollte ich, da ich in diesem ganz ungewohnten Glanze auf offener Straße mich nicht sicher genug fühlte, durch die Durchhäuser mich schleichen; als ich aber im Joachimsthale an die enge Passage nach der Katharinenstraße zu, wo zwei Personen neben einander nicht füglich Platz haben, gelangt war, hielt ich es im Gefühle der Größe meines Hutes nicht für möglich, unbeschädigt durchzukommen und kehrte zurück, um nun meinen Weg auf der Straße muthig zu verfolgen. Das Examen selbst konnte mich nicht in eine gleiche Enge führen und ich wurde darauf nach Quarte versetzt. Doch damit war mir auch nicht geholfen: theils war mir auch hier die Lection noch zu leicht, theils war ich der ernsten Arbeit schon etwas entwöhnt, und da die Lehrart nicht ansprechend genug war, so wurde ich recht herzlich faul. Als ich im folgenden Jahre nach Zerbst zu meinem Onkel kam, fand dieser, daß ich in der Schule gar keinen Fortschritt gemacht hatte, war jedoch mit dem, was ich während meines vierwöchentlichen Aufenthaltes neben seinen Zöglingen bei ihm lernte, zufrieden; da war aber auch der Vortrag der Geographie, Geschichte, Antiquitäten und Naturgeschichte so lebendig und die Erklärung der griechischen und lateinischen Autoren so interessant, daß es eine Freude war, zu lernen. Nach Leipzig zurückgekehrt, erkaltete dieser Eifer sehr bald wieder, da mir die Schule nun um so trockener vorkam. Dasselbe Verhältniß wiederholte sich 1788, als ich wieder einige Wochen in Zerbst war. Belletristische Lectüre und jugendliche Vergnügungen zogen mich an sich, da mir die Art des Schulunterrichtes zu uninteressant war. Unter Anderem wurde auf der Schule die griechische Grammatik auf eine geschmacklose Weise behandelt und die fatalen Verba in μι, die mich schon unter Heimbach mit einem Sturze bedroht hatten, brachten mich jetzt wirklich zum Falle: ich sollte nämlich eines Tages mit einem andern Schüler, Namens Weigel (nachmaligem Buchhändler) im Vor- und Rückwärtsconjugiren eines solchen Verbums »certiren«;[26] mein Gegner übertraf mich an Geläufigkeit, mit welcher er die Aufgabe von der dritten Person Pluralis des zweiten Aoristos im Passivum an bis zur ersten Person Singularis des Präsens im Activum durchführte und wurde über mich gesetzt. Ich fühlte mich tief beschämt, gewann aber nicht die Ueberzeugung, daß ein solcher Mechanismus des Gedächtnisses für das Studium wesentlich sei und da das Interesse für dergleichen Uebungen fehlte, so wurde ich darin immer nachlässiger. Meiner guten Mutter habe ich wohl manchmal Kummer verursacht, wenn sie von den Lehrern, bei denen sie sich nach meinem Fleiße erkundigte, keine erwünschte Nachricht erhielt. Wegen Beschaffenheit der Lehrgegenstände konnte sie mich nicht so streng beaufsichtigen und wenn sie mir mehr Freiheit gestattete, als in dieser Hinsicht gut sein mochte, so geschah dies weniger aus einer zu weit getriebenen Nachsicht, als aus den Grundsätzen, welche sie sich von der Erziehung gebildet hatte. Unter väterlicher Zucht würde ich allerdings mehr gelernt haben. Indeß sind mehrere meiner Mitschüler, die immer pünctlich leisteten, was man von ihnen forderte und wegen ihres regelmäßigen Fleißes als Muster aufgestellt wurden, nachmals nicht in gleichem Maße vorgeschritten, sondern ganz gewöhnliche Menschen geblieben, wie denn überhaupt die strengen Schul- und Prüfungsgesetze besonders der Alltäglichkeit Vorschub zu thun pflegen.

Ich verbrachte viel Zeit mit belletristischer Lectüre. Ich las die Gedichte von Geßner, Gleim, Uz, Wieland und Andern; mehr interessirte mich Göthe's Egmont, aber Schillers Räuber rissen mich hin: der hohe, sittliche Ernst, mit dem heißen Blute einer lebenskräftigen Jugend gepaart, er füllte mich mit Begeisterung. Während meines Aufenthaltes in Brehna hatte ich eine zahmere Lectüre, die dafür auch nur fragmentarisch blieb: Grandison, Clarisse, die schwedische Gräfin, Sophiens Reisen waren mir zu langweilig; Werthers Leiden, Siegwart und dem ähnliche Klostergeschichten machten wenig Eindruck auf mich; mehr interessirte mich die Schilderung der Gebrechen des gesellschaftlichen Zustandes im Karl von[27] Karlsberg; dagegen verschlang ich die Ritterromane von Schlenkert, Wächter (Veit Weber), der Naubert, gebornen Hebenstreit (Hermann von Unna u.s.w.).

Der Geist der Ritterschaft spukte auch in meinem und meiner Gespielen Kopfe und der Rudolphsche Kaffeegarten mit der angränzenden Wiese und Waldung wurde der Schauplatz unserer Thaten. Friedrich Treitschke, der sich als entomologischer Schriftsteller bekannt gemacht, auch einige dramatische Arbeiten geliefert hat und als Secretär beim Wiener Hoftheater gestorben ist, spielte hier eine bedeutende Rolle. Er beschäftigte sich damals schon viel mit dem Fange von Schmetterlingen und mit Poesie; indeß ertappten wir ihn einst als Plagiarius, als er ein uns schon bekanntes Gedicht als das seinige vorlas, und überhaupt erkannten wir ihn als Intrigant, der heimlich seine Zwecke verfolgte und uns gern als Mittel dazu gebrauchte, wie er denn von den Balgereien, die er anstiftete, sich weislich fern zu halten wußte. An dem Orden, den er errichtete und der mit Kreuzen gehörig geschmückte Komthure und Ritter nebst Knappen zu Mitgliedern hatte, nahm ich vorzüglichen Antheil; den Bedrängten beizustehen, war eine der ersten Ordenspflichten und ich bestand in diesem Sinne manchen Straus, denn ich war ein beherzter Junge, nahm es, wenn es galt, eine Ungebühr zu ahnden, auch mit viel Größeren, als ich war, auf, wußte durch einige Gewandtheit oft auch den Stärkeren zu besiegen und hielt es für kein Unglück, wenn ich auch einige blaue Flecken oder eine blutende Nase davon trug. Auch machte ich andere phantastische Kindereien mit: bald bildeten wir uns ein, daß sich Räuber im Walde aufhielten, gegen die wir mit mancherlei Zurüstungen und in großer Aufregung auszogen; bald nahmen wir von einer zwanzig Fuß langen, allerdings unbewohnten Insel, die wir in der Parde entdeckt hatten, Besitz und dergleichen mehr.

Bei der Freiheit, die mir meine Mutter ließ, kam ich hin und wieder auch in schlechte Gesellschaft; da ich aber ihre Gemeinheit bald erkannte und von mir fern hielt, so konnten die[28] kleinen Flecken, die an mir hafteten, den durch diese Freiheit gewonnenen Vortheil nicht überwiegen.

Die Söhne der Schwester meiner Mutter, die etwas jünger als ich waren, standen unter einer strengeren Zucht und wurden bloß von Hauslehrern unterrichtet. Da ich nun weiter vorgerückt war und mich schon freier in der Welt bewegte, so schlossen sie sich an mich an und fügten sich mehr oder weniger meiner Leitung. Der ältere, Philipp Hänsel, der jetzt Stadtgerichtsrath in Leipzig ist und ausgezeichnete Kenntnisse besitzt, griff Alles im Sturme an und betrieb jede Beschäftigung mit Leidenschaft: wie er eine Zeit lang in alle Kirchen lief und zu Hause einen guten Theil des Tages über predigte; dann in einer andern Periode keine Parade und keinen Zapfenstreich versäumte und bis zum Unteroffizier herab das Personal des Leipziger Militärs namentlich kannte; dann wieder lauter Criminalprocesse spielte und, in Ermangelung anderer Delinquenten, Fliegen in großen Schaaren enthauptete und aufs Rad flocht, – so stürzte er auch über Romane und Schauspiele her, bemächtigte sich, sie durchfliegend, zuerst ihres Hauptinhaltes, um dann in demselben Maße, in welchem sich die Hitze allmälig legte, immer mehr in die Einzelnheiten einzugehen, und mit gleicher Heftigkeit warf er sich späterhin dem Studium der alten Classiker in die Arme. Gustav Hänsel unterschied sich von seinem feurigen Bruder durch mehr Ruhe und Tiefe; feinsinniger, eroberte er sein Wissen nicht wie jener mit stürmender Hand und bei gleicher Energie des Charakters bewies er dieselbe mehr in ausdauerndem Festhalten an dem, was er bei seinem eindringenden Verstande als wahr und bei der Lebendigkeit seines Gefühls als gut erkannt hatte. Er ergab sich mir mit mehr Innigkeit und so wurde der Grund zu einer Freundschaft gelegt, die in unseren Mannesjahren eine höhere Bedeutung gewann. Mit beiden Brüdern trieb ich nun allerhand: bald tummelten wir uns im Rudolphschen Garten um, zogen auf der Wiese gegen die Saracenen aus oder fielen auch als Raubritter in ein Möhrenfeld ein; bald schrieben wir alle drei neben einander Ritterschauspiele oder Robinsonaden und lasen[29] wenn wir des Schreibens überdrüssig waren, unsere Werke einander vor; der Ueberdruß an der Ausführung pflegte aber frühzeitig einzutreten, so daß nicht selten von den Schauspielen nur die hochklingenden Namen der Personen und von den Abenteuern des Seefahrers nur die Abbildungen der verschiedenen Situationen zu Tage kamen.

Mein Onkel, der 1785 die Stelle eines Erziehers im Hause des Kaufmanns Schindler in Zerbst angenommen hatte, bemühte sich auch von da aus, auf mich zu wirken. Die Briefe, die er an mich schrieb, geistreich und heiter, athmen herzliche Liebe und väterliche Sorge; außer guten Rathschlägen, freundlichen Aufmunterungen und ernsten Mahnungen enthalten sie auch milde Zurechtweisungen, wie ich denn namentlich zu meiner Beschämung es getadelt finde, daß ich ihm in meinen Briefen zu viel Neuigkeiten gemeldet und zu wenig über meine Fortschritte geschrieben hatte, wovon ich freilich, leider! auch nicht viel zu berichten haben mochte. Eben so liegen seine Briefe an meine Mutter vor mir, in welchen seine Liebe gegen uns Beide auf eine rührende Weise sich ausspricht.

Er hatte durch seine geistige und sittliche Kraft wie auch durch sein Talent, dieselbe im geselligen Leben auf eine geschmackvolle Weise zu bethätigen, sich in seinem neuen Wirkungskreise Achtung und Vertrauen in hohem Grade erworben, und da er von mir gesprochen hatte, wie es seine väterliche Zuneigung mit sich brachte, so wünschte man am Ende im Schindlerschen Hause mich kennen zu lernen, worauf er es unstreitig angelegt hatte. Um ihn und unser Verhältniß zu charakterisiren, setze ich eine Stelle aus dem Briefe an meine Mutter her, worin er sie überredete, mich nach Zerbst reisen zu lassen.

»Ich habe Dich hier im Hause als Mutter von einer Seite geschildert, daß Du mit Ehre und Reputation Deinen Fritz uns nicht verweigern kannst, ohne in der guten Meinung und Achtung, die man für Dich hat, gewaltig zu sinken. Sie ist eine zärtliche Mutter, sagte ich, zärtlich wie nur immer eine Mutter gegen ihren einzigen Sohn, der ihr Alles ist, sein kann.[30] Aber ihre Zärtlichkeit ist nicht Schwachheit: sie ist von Vernunft geleitet. Weit entfernt vor bloß möglichen Gefahren zu zittern, ist sie vielmehr stark genug, ihren Sohn sich manchen Beschwerlichkeiten aussetzen zu sehen, durch die sein Körper fest und stark, seine Gesundheit gesichert wird, und wodurch seine Manieren immer mehr sich von denen des Muttersöhnchens, des Stubenhockers, entfernen.«

Diese Vorstellungen verfehlten ihre Wirkungen nicht, und ich wurde im Herbste 1786 richtig nach Zerbst geschickt. Eine von der Leipziger Messe zurückkehrende Kürschnerin hatte den Auftrag, mich unbeschädigt dahin zu führen. Mittags ausgefahren, übernachteten wir in Delitzsch, wo der Wirth sich nicht wenig über den winzigen Gast wunderte, für den von Zerbst aus ein eigenes Zimmer sammt übriger Bewirthung bestellt war. Am Abende des folgenden Tages kamen wir am Thore von Zerbst an, und während der Wagen vom Visitator untersucht wurde, schallte mir aus der Dunkelheit die wohlbekannte Stimme entgegen: »ist er da?« Es war der Onkel, der mit seinen zwei Zöglingen mir entgegen kam. Sie nahmen mich in Empfang und führten mich, da die Schindlersche Familie gerade an einem Pickenick in einem benachbarten Garten Theil nahm, dahin. Hier sah ich mich mit einem Male in einem hell erleuchteten Saale unter einer großen Gesellschaft von Herren und Damen, und ging nun von Hand zu Hand, denn »der kleine Neffe des Herrn Koch« war ein willkommener Gegenstand der Unterhaltung für die Damen, die dabei den »Herrn Koch« selbst viel mehr im Auge haben mochten. So ungemein freundlich, wie die erste Aufnahme gewesen war, blieb nun auch der ganze Aufenthalt in Zerbst, da ich hier Alles fand, was ich nur wünschen konnte. Das Schindlersche Haus war eines der angesehensten in der Stadt; die ganze Einrichtung und Lebensweise hatte den Charakter der Behaglichkeit und der Fülle, während die verständige Ordnung und Maaßhaltung gleichsam die Sicherheit des Besitzes verbürgten. Der Anstand und die feine Sitte, die hier herrschten, flößten mir Achtung ein, und dabei machte das mir überall entgegentretende[31] Wohlwollen, daß ich mich in dieser mir neuen Umgebung sogleich sehr wohl befand. Der Hausherr, wohl beleibt und mit bedächtiger Langsamkeit sich bewegend, hatte die ganze Gravität eines seine Bedeutung fühlenden reichen Kaufmanns der damaligen Zeit. Seine Gattin, eine geborne Schlegel aus Hannover, war dagegen voller Geist und Leben, heiter und liebreich, die Schöpferin der geschmackvollen und höchst saubern Einrichtungen im Hause, die stets sorgsame Pflegerin der Ihrigen, der belebende Mittelpunkt einer feinen Gesellschaft. Die Tochter vom Hause, die damals etwa fünfzehnjährige Karoline, zog durch Schönheit und Freundlichkeit mich an, während sie durch höhere Bildung und jungfräuliche Zartheit mir Achtung gebot. Darauf folgte Wilhelm, der nur um einen Tag älter als ich, an Kenntnissen aber mir in ungleich höherem Maaße überlegen war, übrigens ganz mit mir übereinstimmte, und mit welchem ich eine innige Freundschaft knüpfte. Ich erinnere mich noch, wie wir einige Jahre später in Brehna, wo wir zusammengekommen waren, beim bevorstehenden Abschiede weinend einander im Arme lagen, und der Großvater, dem solche Zärtlichkeit ein Greuel war, hereinbrummte: »Habt Ihr nicht bald genug gedahlt?« – In Zerbst theilte ich mit ihm seine Lehrstunden, und lernte hier ungleich mehr als in meiner Leipziger Schule, und, was noch wesentlicher war, ich gewann mehr Geschmack am Lernen, da durch die Behandlung meines Onkels Geschichte und Geographie einen neuen Reiz für mich erhielt, selbst die trockne Grammatik genießbarer wurde, Naturgeschichte, Archäologie und Literargeschichte aber, in die ich hier zuerst eingeführt wurde, mich lebhaft interessirte. Ich wetteiferte mit meinem Freunde, und mein Onkel war mit mir zufrieden. Wie nun die Lehr- und Arbeitsstunden mir wahre Freude machten, so wurde auch die Zeit der Erholung auf das Fröhlichste verlebt. Im obersten Stockwerke des Hauses war ein Zimmer mit einer Naturaliensammlung, welche öfters zu unserer Unterhaltung diente; auf dem anstoßenden großen Bodenraume war ein recht hübsches Theater errichtet, und oft luden wir Karolinen nach dem Mittagsessen ein, ein Schauspiel[32] anzusehen, wozu wir eine Stunde vor dem Essen den Plan gemacht und die Probe gehalten hatten. Unter unsern Altersgenossen waren die beiden Söhne des als Rationalist, beredter Kanzelredner und moralischer Schriftsteller bekannten Consistorialraths Sintenis uns die liebsten, von denen besonders der ältere, Fritz, durch sein Feuer sich auszeichnete.

Da mein Freund Wilhelm recht innig an mir hing, und die übrigen Glieder der Familie auch sehr gütig gegen mich gesinnt waren, so baten sie in einem gemeinsamen Schreiben meine Mutter um die Einwilligung, daß ich ein Vierteljahr länger, als ausgemacht war, in Zerbst bleiben dürfe. Dabei bot der Onkel in seinen Briefen alle Beredtsamkeit auf, um die Gewährung meiner Mutter zu erlangen. Als Alles vergeblich war, schrieb er ihr unter Anderem:

»Nun endlich kann ich Dir einen Brief schreiben, der Deinen Schmerzen Linderung geben wird: morgen bringe ich Fritz nach Dessau, setze ihn, so viel mir möglich, wohl verwahrt auf die Post, und schicke ihn auf gut Glück nach Holzweißig; ich wünsche, daß Alles gut gehen und Du ihn glücklich wieder bekommen mögest. Am letzten Posttage schrieb ich Dir ab sichtlich nicht: ich war ärgerlich über die mir überspannt vorkommenden Aeußerungen von Muttergefühl in Deinem Briefe; aber ich ward unwillig, als ich die Briefe las, die Du an Fritz selbst geschrieben hattest. Wie kann eine Mutter wie Du gegen ihre Sohn, sei er auch der einzige, sei er auch ein Sohn von Verstand und vom besten Herzen, wie kann sie sich so bloß geben? Verlangt die Mutter bloß Gegenliebe, und will sie nicht auch auf Achtung und kindliche Ehrfurcht Ansprüche machen? Wie ist dies aber möglich, wenn sie ihm die ganze Größe ihrer Liebe, ihrer Schwachheit zeigt? Aber merke wohl, liebe Schwester! nicht daß Du einen solchen Grad von mütterlicher Liebe gegen Fritz fühlst, nicht dies ist es, was ich an Dir tadle: ich schließe von meiner Liebe für ihn sehr leicht auf den Grad der Deinigen; nur die Aeußerung derselben gegen Deinen Sohn will mir nicht gefallen« u.s.w.

Dieselbe Scene wiederholte sich, als ich das zweite Mal[33] in Zerbst war, und zwar in noch stärkern Zügen. Ich erwähne diese Aeußerungen nicht bloß, weil die Erinnerung an mein Jugendglück mir so theuer ist, sondern auch, weil mancher Zug in meinem spätern Leben dadurch erklärt wird.

Quelle:
Burdach, Karl Friedrich: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig 1848, S. 24-34.
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