V.

[348] Genua, 23. August


Endlich angelangt in diesem fernen Ziel, suche ich zunächst noch einige der Eindrücke der Reise festzuhalten. Wir fuhren hierher mit einem Vetturin über Voghera und die Bocchetta. Bis zur letztern war der Weg wenig interessant, aber auf diesem Gebirgspasse sprangen wir aus dem Wagen, um frei und allein der ersten Aussicht nach dem Mittelländischen Meere uns zu erfreuen.

Die Straße fällt nun steil abwärts. Lange Züge von Maultieren strichen an uns vorbei, regiert von Treibern mit bunten Hemdärmeln und langen, rotstreifigen Zipfelmützen, die zu den sonneverbrannten Gesichtern recht verwegen standen. Noch einmal wurde jetzt in einem Dorfe gehalten und die Ungeduld, Genua zu sehen, auf die Probe gestellt. Der Vetturin fütterte lange, und wir konnten eben nur vor der Osteria auf- und abgehen, wobei die hohen Buchsbaumgebüsche der Gärten uns ergötzten. Endlich gewahrte ich in einem Mauerwinkel neben allerhand Unrat einen ziemlich hohen Baum von neuer Form, ich trat näher, hob abgefallenes Laub auf – es war ein Lorbeer! – An den nächsten Villen, welche meist mit den buntesten Farben bemalt sind, fanden wir dann diesen poetischen Baum noch in Menge. Dabei fielen uns neben den Landhäusern die freien erhöhten Tennen auf, welche, mit einer niedern Mauer umgeben und mit Marmorplatten belegt, zum Dreschen, vielleicht auch zum Rösten des Getreides, des Mais usw. benutzt werden.

Schon nähern wir uns nun den Vorstädten Genuas, wir fahren in eine lange Allee, biegen um eine Ecke und siehe da, das Meer! Der Weg führt jetzt längs einer schönen Häuserreihe (der Vorstadt San Pietro di Arena) und dem Strande hin, so daß volle Muße gegönnt ist, diese Prachterscheinung zu begrüßen. Es war ein milder, ruhiger[349] Abend, die See fast ganz abgeglättet, nur ein stilles Wallen über der weiten schönen Fläche verbreitet, welche im reinen Grün des Chrysopras den schönsten Gegensatz bildete zu dem an den Wolken spielenden Rot der untergehenden Sonne. Auf diese Art sah ich doch die Ostsee nie; die Farbe des Mittelmeeres ist in ihren Abstufungen gegen die Luft gemilderter und das Grün wunderbar intensiv. Der Strand war übrigens sehr lebhaft, viele Boote und größere Fahrzeuge (Feluken) waren auf den Sand heraufgezogen; in der Ferne lag ein Zweimaster vor Anker, und jetzt kamen wir dem schlanken, hohen Pharus nahe, welcher kühn von einer weit ins Meer vorspringenden Marmorklippe emporsteigt; der Wagen rollte über eine Zugbrücke und an mächtigen Basteien vorüber, bog nun beim Leuchtturm um eine Ecke, und mit einemmal lag der große halbmondförmige Hafen, umschlossen von Genuas Palästen und den dahinter aufsteigenden Apenninen vor uns. – Ja, es verdient mit Recht den Beinamen »Superba«, dieses Genua! Welch kolossaler Halbkreis, und von welchen Zyklopenmauern getragen! Die Spitzen der Zweimaster, welche unter dem Pharus bei den Quarantänegebäuden vor Anker lagen, blieben noch haustief unter den Brustwehren der Straße! Dann diese Masse großer massiver Gebäude, auch der Farbe nach wohltätig ins Auge fallend, mit ihrem gelblichen oder rötlichen Ton und ihren flach zulaufenden Dächern mit blaugrauem geschnittenem Kalkstein gedeckt! – Größe, Üppigkeit, Hochmut spricht aus allen Zügen dieser Anlagen!

Längs der mit Schießscharten durchschnittenen, hier und da mit Kanonen besetzten Hafenmauer, am Palast Doria vorbei, gelangten wir endlich zu dem stark befestigten innern Tor, wo wir die Pässe abgeben mußten, und fuhren dann noch durch eine Reihe von Palästen, an die Strada Lomellina, in welcher der uns bezeichnete deutsche Gasthof[350] liegt. – Allerhand Gesindel drängte sich herbei, unsere Habseligkeiten zu tragen, denn wenige Straßen Genuas sind fahrbar, die meisten eng, und zwischen hohen Gebäuden verstatten sie nur allenfalls einem belasteten Maultier den Zugang. So auch die Straße Lomellina, wo in dem Palazzo Cambiasso ein Schweizer, namens Gebner, wirtschaftet, bei diesem wohnen wir denn in einem wahrhaft fürstlichen Gebäude, zwar im vierten Gestock (das dritte Gestock ist hier das beliebteste ungefähr wie bei uns das erste, und zwar der reinen Luft wegen), aber in alle Wege trefflich. Fensterbrüstungen und Türgewände von weißem Marmor, die steinernen Fußböden, die roten Tapeten sowie die Möbel, alles geschmackvoll. Unwillkürlich gedenkt man der großen Tage der genuesischen Republik Fiescos und am meister immer Schillers, der wunderbar auch hier uns vorleuchtet wie in der Schweiz.


Genua, 24. August


Es war das erstemal, daß ich an einem südlichen Meere mich befand, und mein erster Gang früh trieb mich daher sogleich auf den Fischmarkt in eine der engen, heißen Straßen, nicht allzuweit von der Börse und vom Hafentor. Nichtachtend Hitze, übeln Geruch und schmutziges, bettlerisches Volk, durch welches man sich drängen mußte, stachen mir die wunderlichen Formen der stacheligen Rochen, meergrauer Haie, brauner Meeraale, grüner Hornhechte, Tintenwürmer, Seeigel und hundert anderes, eben aus dem Meere und frisch, in die Augen, worüber ich zu Hause aus Büchern, Abbildungen und Spirituspräparaten mühsam mich hatte belehren müssen. Es war ein wahres Fest! Immer hatte mir bisher die Totalanschauung gefehlt; ich hätte alles auf einmal in mein Zimmer transportieren mögen! Da lagen auf den langen Tafeln der Fischer neben den sonderbar gestalteten Fischen die großen,[351] schön gesprenkelten Hummer, die schlanken Squillen und Garnelen, die seltsamen Muscheln; daneben saßen Kleinverkäufer mit Eimern voll Austern, und ein Kerl beschäftigte sich, mit einem Messer Seeigel aufzubrechen und die gelben Eierstöcke herauszunehmen, welche zum italienischen Salat beliebt sind, wobei er denn oft grausam das schöne Zahngestell zerbrach, welches unter dem Namen der Laterne des Aristoteles mir lange bekannt war.

Wir richteten nun allmählich unser Leben ein; wir essen um 2 Uhr in einem schönen kühlen Saal, aber ich muß dies ändern, denn man verliert zu viel Zeit bei dem langen Tafeln, wo die verschiedensten Idiome sich kreuzen. Abends, nach Rücksprache über anzuknüpfende Fischerbekanntschaft mit unserm gefälligen Schweizerwirt, machen wir einen Spaziergang zum Hafen. Diese ganze Natur wirkt eigen auf mich! Ich erkenne die Schönheit dieser Gegenden, aber ich fühle mich ihr fremd, und die künstlerische Anregung fehlt mir noch ganz. Sie würde übrigens unter diesem Himmel gewiß nicht lange schweigen.

Genua selbst steht mir offenbar über allen bisher gesehenen italienischen Städten trotz der so schmalen und engen kleinern Straßen. Selbst die Einwohner machen einen bessern Eindruck, namentlich die Frauen in ihren langen Batistschleiern, welche von Vornehmen und Geringen getragen werden.


Genua, 26. August


Gestern hatten nun unsere Arbeiten an den angekauften Fischen begonnen, um ein tüchtiger, hübscher, junger Fischer schleppt nun fleißig neue, zum Teil lebende Seetiere herbei. Mit einem Hai wurde der Anfang gemacht, und Dietz bekam genug zu zeichnen, während ich sezierte und selbst skelettierte. Es gab fortwährend Neues und Interessantes! Besonders beschäftigt mich die Farbengebung und[352] bei Lebenden der chamäleonartige öftere Farbenwechsel bei den Tintenwürmern, besonders den Moschuspolypen; auch erhielt ich frische Kalmar und Seeigel. Den einen großen Kalmar hatte ich angefangen zu zergliedern und ließ ihn zur Nacht auf einer zinnernen Schüssel mit Meerwasser ausgebreitet. Es war sehr warm, Fäulnis begann, und in der Nacht erwachte ich von einem hellen Lichte (ich schlafe gern im Dunkeln), das von der Schüssel ausstrahlte. Es war der Kalmar, der so stark phosphoreszierte! – Am Morgen kam der Wirt sehr höflich in mein Zimmer und fragte, ob es mir nicht gefällig wäre, weiter oben ein einsameres Zimmer in Beschlag zu nehmen. Hier in der belle Etage (vierter Stock) beklagten sich die Nachbarn über den Geruch. Wir zogen also aus in die sechste Etage, wo es einsam und sehr hell, aber grimmig heiß ist.


Genua, 28 August


Wir machten abends wieder unsern Spaziergang am Hafen. Es war hohes Abendwasser und trübe, man sah daher wenig Leben im Meere. Heute brachte der Fischer einen lebenden, etwa fußlangen Zitterrochen (Roja Torpedo). Das Tier war schon matt, gab aber doch, wenn man mit Daumen und drittem Finger es zugleich oben und unten an den elektrischen Organen berührte, einen empfindlichen Schlag. Nach dem Tode präparierte ich sofort die ungemein starken Nerven der elektrischen Organe, und Dietz mußte sie sogleich zeichnen. – Ferner erhielt ich seltene Seeigel, an denen mir die Beobachtung der Bewegung der Stacheln interessant war, und eine der großen nackten Seeschnecken, hier »Asini marini« genannt (Aplysia depilans), deren Anatomie George Cuvier so schön geliefert hat. Ebenso bekam ich einen großen lebenden Seestern, woran die sich bewegenden Fühlerreihen und das dem Tiere merkwürdig leichte Umstülpen des Magens[353] nach außen mir reichlich zu beobachten gab, desgleichen schöne Seeanemonen (Actinia), eine große lebende Krabbe, die ein paarmal entschlüpfte und pfeilschnell auf dem Fußboden umherrasselte, und dergleichen mehr.


Genua, 31. August


Wir arbeiteten in all diesen Tagen fleißigst, denn die Abreise steht bevor und es gibt zu tun, einen guten Teil der gesammelten Sachen in großen Gläsern unter Spiritus zu verwahren und alles in eine große Kiste zu verpacken, welche einem Spediteur übergeben werden soll, wobei uns Herr Mojon mit Rat und Tat beisteht. Manche dieser Präparate, welche ich nach sechs Wochen richtig im Landtransport nach Dresden erhielt, kamen hier teils in die königliche Naturaliengalerie, teils in die Sammlung der Chirurgisch-Medizinischen Akademie.

Beiläufig bemerkte ich auch gar wohl die tristen politischen Zustände des Landes und hörte Viviani viel klagen, denn es schien im Werke, die Universität ganz aufzuheben, an welcher er bisher tätig war. Bereits war das schöne Universitätsgebäude, ein Marmorpalast mit Kollonnaden und Freitreppen, zur Kaserne genommen, so daß Viviani, der noch dort wohnt, von der Soldateska viel zu leiden hatte.

Endlich mußten wir doch auch suchen, noch einiges von der Stadt zu sehen. Die Hauptkirche San Lorenzo mit ihrer Bekleidung von schwarzem und weißem Marmor ist wohl reich genug, aber in einem üppig modernen Stil, der mich kalt läßt. Auch den Palazzo Durazo sollten wir sehen, der außerhalb der Stadt liegt und eine leidliche Naturaliensammlung enthält. Man kommt am Pharus vorbei, durch die Vorstadt San Pietro di Arena, und findet ein mehr elegant als wissenschaftlich aufgestelltes Kabinett. Mehr jedoch ist die Aussicht zu loben Es ist etwas[354] Köstliches, auf so eine Marmorbalustrade gelehnt über duftende Gärten und Laubgänge von Orangen nach dem blaulichen Meere hinauszuschauen, wie es donnernd seine weiße Brandung im heitersten Sonnenlicht über den lang hingestreckten Strand ergießt, und dabei noch auf der andern Seite den Rückblick nach den Apenninen als Zugabe.

Wollen wir abends nach dem Arbeiten uns etwas Bewegung machen, so ziehen wir meistens die prächtige Strada nuova vor, wo Palast an Palast sich reiht. Man blickt da durch die mächtigen Tore in geräumige Hausfluren, wo Kolonnaden sich hinziehen und Freitreppen sich erheben und wo große Ampeln in der regungslosen Luft ruhig und weithin schimmernd brennen, so daß jeder Palast überraschende Effekte einer Art gewährt, welche Dekorationsmalern zum Studium und zur Nachbildung nicht genug empfohlen werden könnte. Eine Serenade in einer kleinen Nebenstraße machte das Bild einer italienischen Nacht vollständig.

Abschied von all diesen Herrlichkeiten nahmen wir gestern gegen Abend durch einen Spaziergang zum Thomastor hinaus, vorbei am Leuchtturme wieder gegen San Pietro di Arena hinaus, um noch einmal an dem Anblick des eben lebhaft bewegten Meeres uns zu erfreuen. Schon an dem Felsen des Pharus schäumte die Brandung gewaltig auf, ohne doch zu hindern, daß badende Knaben von dem Bollwerk des Quarantänegebäudes in die auf flachem Sande heranrollenden Wogen hineinsprangen. Wie wir nun aber selbst dicht am Strande waren, wie in unabsehlicher Breite die mächtigen Wogen anrollten und donnernd ihren Schaum gegen uns herauffluteten, da erst war uns recht wohl, und wir warfen uns auf den feuchten Sand nieder, um uns recht satt zu sehen an dem großen Phänomen, das ich vielleicht sobald nicht, ja vielleicht nie wiedersehe.

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 348-355.
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