[372] Sallanches, 13. September abends
Heute früh wanderten wir von Chamouny fort; noch einmal zeigte der Montblanc, obwohl der Himmel schon mit Hochgewölk bedeckt war, sein weißes Haupt, und kaum war noch eine Zeichnung seiner mannigfaltigen Zacken und Vorsprünge entworfen, so zogen auch schon niedrigere Wolken heran, um ihn zu verhüllen. Wir kamen jetzt dem Glacier Bosson gegenüber, der mit gewaltig aufragenden Eispyramiden gerade vor dem Felsen sich niedersenkt, welche gemeinhin »Les grands Mulets« genannt werden und das Ziel der ersten Tagereise für die Reisenden abgeben, welche den Montblanc besteigen wollen. – Wir stiegen jetzt gegen den Gletscher hinauf. Es ist dies einer von denen, welche im Zurückgehen begriffen sind, und gerade daraus erklären sich die ungeheuern Eisnadeln, welche, wie hohe Tannenbäume aufgerichtet, diesen Gletscher vor andern auszeichnen. Ziemlich weit ging es erst durch Gärten und Wiesen, dann aber kam ein höchst beschwerlicher Weg über eine große Fläche losen Gerölles[372] und über Felsblöcke, welche als breiter Wall den Fuß des Gletschers umringen. Endlich standen wir nahe an jenen Eistürmen, die aus der Ferne schon die Blicke mächtig angezogen hatten; aber wie groß ragten sie nun erst vor uns auf! Dunkelviolettgraues Gewölk zog wogend hinter ihnen vorüber, und wie schön stand die lichtgrüne Farbe dieser Pfeiler, deren Oberfläche von Luft und Wärme kleinmuschelig ausgenagt war, gegen solchen Hintergrund! Manche dieser Massen fürchtet man jeden Augenblick einstürzen zu sehen, und doch stehen sie zum Teil schon seit vielen Jahren. Anhaltendes warmes Wetter und Regen machen sie dann früher oder später zusammenbrechen.
Dietz stieg mit dem Führer noch weiter hinauf, ich setzte mich auf einen Felsblock, hüllte mich in meinen Mantel und fing an zu zeichnen. Eine wunderbare Stille war um mich her; ich sah mich allein diesen gigantischen Massen gegenüber. Um mich her nichts als ödes Gerölle, die Trümmer allmählich sich zerklüftender Urgebirge; nahe die tiefziehenden dunkeln Wolken, einige entfernte Tannen dienten nur, die Höhe der Eistürme anschaulicher zu machen, und vor mir nun die grünlichen Massen des Gletschers, in dessen Innern von Zeit zu Zeit ein dumpfes Krachen und Klirren stürzender Eisstücke hörbar wurde. Lustig flogen dann wohl wieder einige Vöglein über die starrenden Massen dahin, und endlich drängte sich die Sonne durch das Gewölk und ließ für wenig Augenblicke diese reinen Kristalle in ihrer eigensten Natur funkeln. Nur der stärker andringende Regen konnte mich zuletzt von dieser Szene verscheuchen. Ich stieg meinem Begleiter nach; mit Mühe kletterten wir dann seitwärts über die furchtbaren Moränen hinab, und bald gelangten wir über üppige Triften wieder zum verlassenen Fußweg. Es war wohl der letzte Blick, den uns die wahre Schweizer Natur zuwarf.
[373] Genève, 14. September
Auf einem Char à bancs, einer sonderbaren Art bedeckter Droschke, rollten wir nun über die hohe Bogenbrücke der Arve das von Hochgebirgen umschlossene Tal hinab. Alles ist fleißig bebaut, Gärten und Felder bedecken die Berge bis in ihre mittlere Höhe, dann schließen Waldungen sich an, und endlich erheben sich mächtige Felsgipfel zu den obern Regionen der Atmosphäre.
Wir kamen hier an dem schönen Wasserfall d'Arpens vorüber. Aus hohen Kalkfelsen, an ihren Gipfeln von Wolken umhüllt, stürzt sich in zarten Silberschleiern der Bach hernieder, zerteilt sich tiefer unten über großen Felsblöcken in mehrere Silberadern und sammelt sich endlich in einem stärkern Guß. Ein solches Niedergießen aus Wolkenschleiern ist allemal eine herrliche bedeutungsvolle Erscheinung.
Nun immer weiter, nach Cluse, wo das Arvetal gänzlich geschlossen scheint und die Felswände schroffer aneinanderrücken. Vorher schon bei Balme gewahrt man an den Wänden des Kalkfelsens zur Rechten den Eingang einer großen Höhle, wo die Umwohnenden sich mitunter zu Festlichkeiten zusammenfinden.
Ein mehr städtisches Aussehen der Dörfer bezeichnet jetzt das Annähern an eine größere Stadt. Endlich fährt man eine mäßige Anhöhe herab, und Genf wird sichtbar; gegenüber liegt das lang hingestreckte Gebirge der Dôle, und seitwärts breitet zwischen bebuschten Ufern der schöne Spiegel des Genfer Sees sich aus. Genf selbst mit seinen paar alten viereckigen Türmen, übrigens mit starken Wällen und Zugbrücken umgeben, nimmt sich nicht übel aus, ist sehr lebendig von innen, sonst nicht sehr regelmäßig gebaut.
Im »Hôtel aux balances« hatten wir ein mittelmäßiges Unterkommen erlangt, und eben waren die zu Domodossola[374] der Simplonpost aufgegebenen Sachen richtig wieder erobert, als ich im Fremdenbuche unsers Wirtshauses den Namen Nasse lese und sein Hierwohnen erfahre. Wir fanden uns alsbald, doppelt erfreut über so unerwartetes Zusammentreffen!
Lausanne, 16. September abends
Am gestrigen Tage, zu Genf, früh 6 Uhr, ein einsamer Spaziergang längs der Wälle bis zum See. Das Reinliche, Abgeglättete in den Umgebungen der Stadt, in den Toren, Wällen usw. macht in solcher Morgenstille einen guten Eindruck, und man könnte wohl daran Freude haben, wenn nicht eine gewisse Kleinlichkeit doch auf die Länge unangenehm fühlbar würde.
Nachher machte ich einen Gang über die beiden schönen, innerhalb der Stadt gelegenen Terrassen, deren eine auf die Kette des Juragebirges, die andere auf den Genfer See die freie Aussicht gewährt. Zumal die Fläche des Sees war heute schön von schimmernden Farben überlaufen, da ein frischer Ostwind sie bewegte.
Auch Leseinstitut, Bibliothek und Naturaliensammlung wurden mir gezeigt. Die Genfer, seit sie wieder eine Art von Selbständigkeit erlangt haben, geben in diesen Dingen einer eigenen patriotischen Eitelkeit Raum. Ein kleines Paris vorstellen zu können, wäre ihnen ganz angenehm, und sie subskribieren nach Möglichkeit, um die mannigfaltigsten gemeinnützigen Anstalten zustande zu bringen. Auf solchem Wege haben sie in zwei Jahren eine Bibliothek von 9000 Bänden aufgestellt, und ihr Leseinstitut hat bloß durch freiwillige Beiträge 12000 Franken Einkünfte.
So war denn die Zeit des Diners herangerückt, und ich verfügte mich jetzt mit Nasses zu dem eleganten Butini, den ich schon in Dresden kennengelernt und der mich sogleich eingeladen hatte, wo denn aufs zierlichste gespeist und[375] vieles oberflächlich verhandelt wurde. Später versammelte sich bei Butini, dem Vater, eine medizinische Gesellschaft, wo ich noch einige Genfer Ärzte, namentlich Coindet und Maunoir, kennenlernte. Die Einladung des jüngern Butini zum Ball auf heute abend, wo »toute la jeunesse de Genève« zugegen sein würde, hatte ich höflichst abgelehnt, um sofort noch bis Lausanne zu fahren.
Der Weg dahin läuft fortwährend längs des Seeufers, es wehte ein scharfer Nordostwind (die Bise hier genannt) und bewegte die schönfarbigen Wellen zum lebhaftesten Schäumen. Blau, Violett, Purpur und Grün wechselten in den mannigfaltigsten Verbindungen. Die vielen trefflich appretierten, etwas kleinlichen Landhäuser am Wege stimmten zum Aussehen dieser Genferinnen mit ihren langgeschlitzten kleinen Augen und blassen langen Gesichtern; alles gleichsam geborene Gouvernanten.
Gegend Abend erreichten wir Lausanne, eine auf Berg und Tal gelegene, zum Teil elegant und halb italienisch, zum Teil aber auch gewöhnlich und schlecht gotisch gebaute Stadt.
Wir machten noch bei einbrechender Dämmerung einen Gang zum Dome, der hoch über der Stadt inmitten alter Linden liegt. Eine lange bedeckte Treppe führt da hinauf. Die wunderlich verschränkte, ins Breite gezogene, gotische Bauart konnte gerade nicht gerühmt werden, aber hübsch war es doch, wie unter den alten Bäumen in der milden Abendluft Kinder tanzten und sangen und wie von der westlichen Mauer herab die still gewordene Stadt vor dem Spiegel des Sees und unter Abendrot und Abendstern sich ausbreitete.
Yverdon, 17. September
Dieses Yverdon ist ein kleines reinliches Städtchen an den flachen, von Pappelalleen bekränzten Ufern des Neufchâteler Sees. Ich hatte einen Brief an Niederer abzugeben,[376] einen ehemaligen Schüler Pestalozzis, jetzt ihm in vielem entgegen und einem besondern Erziehungsinstitut vorstehend. Es war mir nicht uninteressant, einen Blick in das Treiben der hiesigen Erzieher zu werfen, deren jeder sein eigenes System sich gebildet hat. Niederer nimmt die Aufgabe prosaischer als Pestalozzi, vielleicht aber eben darum erfolgreicher. Ich fand bei ihm auch die Schwester eines Dresdener Erziehers, selbst dort Unterricht gebend, ein stilles, anmutiges, etwas schwärmerisches Wesen, welche eigene magnetische Zustände erfahren und viele Monate auf einer hohen Alpe einsam gelebt hatte. Mein Abend in dieser Familie verging mir demnach ganz angenehm.
Vorher hatte Niederer mich zu Pestalozzi geführt, und auch diese Individualität mir recht deutlich zu machen, war ich bemüht gewesen. Pestalozzi ist jetzt 78 Jahre alt, von kleinem Körper, aber großer Lebendigkeit im Betragen. Sein Äußeres neigt etwas zum Zynismus, der struppichte Bart, die schwarzen Kleider, denen die Bekanntschaft einer Bürste auf alle Fälle erwünscht gewesen wäre, und der Teint der Wäsche ließen auf so etwas schließen. Er verehrte mir seine neueste Schrift über die Erziehungsanstalt, welcher er und sein Schwiegersohn Schmidt vorstehen. Sie ist noch mit ziemlichem Feuer geschrieben. Wie ich höre, pflegt er gewöhnlich vormittags, im Bette liegend, dergleichen zu diktieren. Man sieht es ihm unbedingt an, daß einst eine große Idee in ihm aufgegangen, aber man fühlt auch, daß er ihrer nicht ganz Herr zu werden vermochte. Die Schüler machen sich jetzt aus dem Tuche, das der Meister nicht zum fertigen Mantel verarbeiten konnte, Kleider auf ihre eigene Manier, wie denn dies vielfältig so zu gehen pflegt. Es gibt hier außer Pestalozzis Anstalt, welche gegen 80 Zöglinge zählt, noch drei andere Erziehungsinstitute und auch eine Taubstummenanstalt.
[377] Basel, 21. September
Gestern bei schönem Morgen durch das frische, mannigfach abwechselnde Val moutier. Die Gegend ist hübsch, reich bevölkert und führt uns sofort bis Lauffen, wo zuerst wieder alles deutsch spricht. Ein alter treuherziger Wirt besorgte ein preisliches Mittagsmahl, und vorher wanderten wir um die Mauern des Städtchens, in dessen flachen Stadtgräben die Gemüse aufs beste gedeihen. Die Sonne schien warm, und ich lehnte beruhigt an der Türe eines Kirchleins, wo eben der Kantor die Orgel mit einigen Chorälen zu prüfen suchte. Es war schon wieder das ganze alte liebe deutsche Wesen, das wir nun einmal nicht so leicht vergessen können. Hinter Lauffen bei Zwingen, einem Schlosse mit gewaltigen Mauertürmen, zieht sich das Tal enger zusammen, und so fährt man in immer wechselnder und reizender Umgebung an den Ruinen des Pfäffinger Schlosses vorüber bis zum Schlosse Angerstein.
Weiter hin öffnet sich das Tal völlig in das flach ausgedehnte Rheintal; die Gegend erweitert sich, Weingärten kommen zum Vorschein, an den waldigen Hügeln zur Rechten liegen noch Klöster und viele verfallene Burgen, im Nordosten aber werden zum erstenmal die blauen Berge von Deutschland jenseits des Rheins sichtbar, endlich auch die Türme der Münsterkirche von Basel, und bald rollt der Wagen in die Vorstadt ein. Im Innern erscheint die Stadt groß, aber winkelig, schlecht und ungleich gebaut. Vor den vergitterten gotischen Hallen des alten Rathauses vorüber ging's zum Gasthof der Drei Könige. Ein langer Saal mit vielen Fenstern stößt hier gerade an den Rhein, und vom Altan schaute ich hinaus in seine hohen Fluten, über die Rheinbrücke hin und auf die lang ausgedehnte Stadt und die fernen Berge! Rechts hinauf nach der Brücke bespülen die Wellen den Fuß eines alten, von[378] rötlichen Steinen gebauten Gefängnisturms, der recht wie zu unheimlichen Sagen gemacht aussieht; weiterhin gewahrt man den Brückenturm und fern dahinter die Spitzen der Münsterkirche. Links hinunter strecken sich dann noch lange Reihen von alten Gebäuden, bis sich weiterhin die freien begrünten Ufer nach Hüningen zu öffnen, während von drüben die kleinere Hälfte der Stadt herübersieht und am Ufer eine Reihe tüchtig gezimmerter Rheinschiffe festliegen. Wie das alles so bei sinkendem Abend um mich her gebreitet war, wie unten der alte herrliche Rhein aufrauschend den Wiederkehrenden grüßte – es war mir ganz heimisch zu Sinn!
Wir gingen zur Münsterkirche, deren Bauart manches Schöne zeigt, zumal in dem westlichen Turm und seiner durchbrochenen Spitze. Ein spätes Abendrot, an herrlichem Gewölk verglühend, umschwebte die Spitzen der Kirche, und tiefer erdunkelten bald die Schatten unter den alten Bäumen der sogenannten Pfalz. Die Kirche liegt hoch, und der beschattete Platz hinter dem Chor endigt an einer Brüstung, wo man Fluß, Stadt und Land weithin überblickt. Jetzt verglomm vollends das Licht des Tages an den gotischen Pfeilern, der Strom brauste, die Luft war mild, das Lied der Nibelungen fiel mir ein, und ich glaube, nie fühlte ich mich jener alten wundersamen Zeit näher als eben hier.
Dorf Schlingen zwischen Basel und Freiburg,
21. September abends
Ich war früh in Basel noch im Innern der Münsterkirche. Sie ist eine der ältesten. Ihr Bau ist 1010 angefangen und 1019 beendigt; der Stil ist deshalb etwas unbeholfen, die Gewölbe sind niedrig, die Säulen schwerfällig, und die überall gehäufte rote Bemalung ist höchst barbarisch. Die Treppen der unterirdischen Kirche sahen besonders pittoresk aus, und mitunter gab es auch durch die Schwibbögen[379] hindurch ganz gute Effekte. Das Chor und ein jenem nahe liegender Saal sind die Orte des berühmten Baseler Konziliums im 15. Jahrhundert. Jetzt hatte man dort eine Sammlung von Versteinerungen und Antiquitäten nicht sowohl aufgestellt als untergebracht. Da lag ein altes wunderliches Schwert der heiligen Feme, da waren Bruchstücke altrömischer Fußböden, alte Pickelhauben, Armbrüste und dergleichen. Auch den Promotionssaal der jetzigen Universität fanden wir in der Nähe. Er sah ziemlich ebenso verstaubt aus wie alles übrige. Endlich bestiegen wir den östlichen Turm, dessen Galerie eine schöne Übersicht von Stadt und Umgebung gewährt, nordwestlich die Vogesen, südöstlich die Schweiz und westlich der Jura.
Wir wendeten uns dann zur Stadtbibliothek. Das Merkwürdigste war uns die schöne Reihe von Holbeins Zeichnungen und Gemälden, welche dort aufgestellt sich finden. Wie lehrreich und interessant mußte es mir sein, hier die so höchst charaktervollen Zeichnungen der Porträts vom Bürgermeister Meyer nebst Frau und Tochter zu finden, deren ausgeführte Köpfe auf dem Madonnenbilde zu Dresden ich so oft betrachtet hatte! Es ist außerordentlich, was hier mit einem bloßen Umriß und wenigen schwarzen und rötlichen Schraffierungen ausgedrückt ist! Wer diese Konturen doch einmal unmittelbar mit dem Bildet vergleichen könnte! Auch sein eigenes Bild findet sich hier, von ihm bei noch jungen Jahren in ähnlicher Manier gezeichnet, und die reine, gute, gewissenhafte Seele spricht aus allen Zügen dieser wahren Schweizer Physiognomie. Unter den sonst aufgestellten Ölgemälden Holbeins sind besonders zwei Köpfe des Erasmus von Rotterdam sehr zu beachten. Ferner gedenke ich des ruhig und würdig gehaltenen Christus, wie er vor Pilatus geführt wird, auf einem größern, aus mehrern Abteilungen bestehenden Altarbilde,[380] und außerdem finden sich noch schöne Zeichnungen zu größern Ölgemälden, als da sind: die Familie des Thomas Morus, eine wunderschöne Beterin, eine Schlacht und einiges andere. Seltsam und fast grauenhaft erschienen mir endlich teils ein stilles Klosterzellenfenster, in dem zwei Totenköpfe (natürlicher Größe) liegen, teils ein schauderhafter wahr gemalter, schon von Fäulnis ergriffener Leichnam; beide ebenfalls von Holbein. Die Bibliothek endlich bewahrt auch noch drei Fragmente des berühmten Baseler Totentanzes, von welchem sonst um so weniger eine Spur mehr gesehen werden kann, als selbst die Mauer, an der er sich befand, längst niedergerissen wurde.
Freiburg, 23. September
Gestern früh erfreuten wir uns eines schönen nebeligen Herbstmorgens. Die Gegend zeigt zur Rechten einen Höhenzug, zum Schwarzwalde gehörig, Alleen von Nußbäumen reihen sich auf, und die Dörfer haben ein durchaus wirtliches Ansehen. In einem derselben, wo wir etwas anhielten und an der Kirche hin uns ergingen, rührten mich ein paar Verse an der Kirchhofsmauer über einem Grabe. Sie könnten auf manchem andern stehen! Hier sind sie:
Hier ruhe ich in sanftem Schlummer
Von Sorgen und von Arbeit aus,
Und keine Schlange weckt den Kummer
In meinem kleinen Totenhaus.
Gegen Mittag dann erschien in weiter Ferne der schöne Münsterturm Freiburgs, die Straßen wurden belebter durch viele vom Sonnabendsmarkte heimkehrende Landleute. Die Frauen meist schwarz gekleidet, in kurzen Röcken und mit großen bauschig abhängenden Halstüchern, im ganzen kein schöner Menschenschlag.[381]
Freiburg selbst liegt in der Ebene, nahe am Fuße des Schwarzwaldes; westlich nach dem Rhein hin erhebt sich mit drei vorzüglich bemerkbaren Höhen der Kaiserstuhl, ein merkwürdiges halb vulkanisches Gebirge, und jenseits des Rheins sieht man die Vogesen. Hinter der Stadt liegt der Schloßberg mit einigen Ruinen des alten Freiburger Schlosses und mit gar schöner Einsicht in die Täler des Schwarzwaldes. Umher überall viel Weinbau!
Die Stadt war sonst viel größer im Umfange, wurde aber im 17. Jahrhundert von den Franzosen halb eingeäschert, um das übrige zu befestigen. Herrlich ragt über alles der Münster hervor, bei weitem der schönste, den ich je sah, und sicher einer der trefflichsten, die es gibt. Auch zog es mich zuerst in seine Nähe, ja in sein Inneres. Wie schön und rein steigt der gewaltige Turm immer mehr sich verjüngend und verfeinernd, fast pflanzenartig, zu seiner Spitze auf! Der Blick verliert sich, wenn man davor steht, in der mächtigen Höhe, und gar malerisch ist die dunkelrötliche Farbe des dazu verarbeiteten Sandsteins, von gelblichen Tinten der angeflogenen Flechten hier und da unterbrochen.
Von gleicher Erhabenheit ist das Innere der Kirche, mit den gewaltigen Pfeilern, einfach großartigen Verzierungen, ganz im Sinne des Meißener Doms, und mit seinen schönen Glasmalereien. Das Sonnenlicht warf eben die Schimmer der bunten Scheiben auf den Fußboden und an die gotischen Bögen, und feierliche Stille herrschte in den wohlgeordneten Räumen.
Nach Tische suchte ich den Anatomen Professor Schultze auf, einen lebendigen wackern Mann, mit dem ich manches Wissenschaftliche zu verkehren hatte. Er beeilte sich, meinen Führer bei allen Sehenswürdigkeiten zu machen, und so bestiegen wir denn zuerst den Münsterturm, dessen obere offne geräumige Halle die freieste Umsicht gewährt.[382] Ganz ohne Zwischenspannung erhebt sich über ihr die ungeheuere durchbrochene Spitze der achteckigen Pyramide, in welcher der Turm sich endigt, und frei steigt der Blick von dieser Halle innen bis zum obersten Knauf der Spitze hinan. Sehr einfach und groß sind zugleich die Spitzsäulen oder Nebentürmchen, welche vor den offenen gewaltigen Fensterbögen jener Halle sich erheben, und so hat man überall, wo man hinsieht, den schönen einfachen Sinn und den reinen Stil des alten unbekannten Baumeisters zu erkennen und zu ehren. Auch die an den Ecken der Treppentürme angebrachten kolossalen Evangelisten mit den seltsam genug als Dachrinnen vorliegenden Anachoretenfiguren sind von großer Wirkung.
Herabgestiegen fanden wir dann im Innern des Chors noch manche gar feine gotische Verzierungen und einige merkwürdige Bilder. Namentlich eins zog mich sehr an, ein viergeteiltes schönes Altarbild mit dem heiligen Sebastian, Christophorus, Rochus und zwei Bischöfen, lebensgroß auf dunkelblauem, mit goldenen Sternen besätem Grunde. – So wandelten wir denn hier in den stillen Kreuzgängen noch einige Zeit herum, betrachteten den seltsamen Springbrunnen hinter dem Altar wie die zur morgigen Prozession aufgestellten Heiligenbilder und Reliquien und gingen dann, die wissenschaftlichen Anstalten kennenzulernen.
Abends führte man mich in den Klub der Professoren im »Pfau« ein, wo bei Wein und Tabak allerhand lustiger und politischer Zwiesprach umkreiste.
Heute in Sonntagsfrühe nun nochmals einen Abschiedsgruß dem Münster! Es war festlicher Gottesdienst, das Schiff der Kirche von vielen Menschen erfüllt, wir aber stiegen wieder hinauf auf den im Frühnebel halb verschleierten Münsterturm. Wie ich nun in der großen offenen Turmhalle stand, wie von dort die beiden kleinern[383] Türme durch den Nebel schimmerten, die Sonne den Schatten des gewaltigen Turmes langhin auf den über der Stadt wogenden Duft warf und wie jetzt leichte Nebelwolken durch die Halle selbst zogen und das Sonnenlicht die herrlichsten Farbenspiele an den Pfeilern und Bögen sichtbar werden ließ, es war außerordentlich! Die Wirkung zu vollenden, erklang jetzt Orgelton und Gesang von unten herauf in diese morgendlich duftige Welt, und wen hätte da nicht das lebendigste Gefühl der Andacht durchdringen müssen!
Kehl, 24. September abends
Spät kamen wir gestern von Freiburg hier an, und heute früh sah ich den Münster von Straßburg schon aus meinem Fenster. Wir machten uns bald auf zur Wanderung, um ihn in der Nähe zu begrüßen.
Neben der zur Hälfte abgebrochenen soliden Brücke führt jetzt eine lange bewegliche Schiffbrücke an der in ihrer Mitte postierten ersten französischen Schildwache vorbei auf französischen Boden. Wie verschieden waren diese trüben Wellen, die wir hier überschritten, von den bläulich schimmernden Wogen des Rheinfalls!
Der gewaltig aufragende, in der Nähe immer lichter und schöner erscheinende Münster war unser Leitstern. Endlich über die die Stadt durchströmende Ill an einem Kai neben großen zweimastigen Rheinschiffen hin zum Münsterplatz! Die erste sich darbietende südliche Seite des Doms ist mit einem wenig geratenen Portale des Chors verunziert, ich hielt mich indes sogleich an die Schönheit der vordern Hauptmasse und fand bald der nordwestlichen Ecke gegenüber den Standpunkt, welcher mir den Urgedanken des ungeheuern Baues am reinsten offenbarte. Einheit und unübersehliche Mannigfaltigkeit, das Ungeheuere der Masse und die höchste Zierlichkeit des einzelnen; vollkommene Zweckmäßigkeit der Grundverhältnisse[384] und passendste Einfügung der untergeordneten Glieder, das möchte es etwa zunächst sein, was hier insbesondere rühmend anerkannt werden soll. Indes sind dergleichen Gegensätze am Ende immer nur Zeichen, in denen der Verstand sich über ein solches die ganze Seele bewältigendes Gefühl Rechenschaft zu geben versucht; im wesentlichen verhält er sich doch stets zum Kunstwerk wie der Mensch überhaupt zur lebendigen Natur; er kann wohl töten und in einzelne Teile zerlegen, aber nicht beleben, nicht die Teile wieder zum Ganzen einigen.
Ich konnte es nicht erwarten, den ganzen Bau erst zu umgehen, ich trat sogleich in seine Hallen! Der erste Eindruck herrlich! Das düstere Licht der gemalten Fenster, die schönen Verhältnisse der Kreuzgänge und ihrer Pfeiler zum Hauptschiff; es ist höchst erhaben! Dann aber fällt das Auge auf manches Störende, und nicht alles ist so wie im Dom zu Freiburg ein Guß und eine Harmonie. Besonders nachteilig wirkt das Chor mit seinem ungeschickten, lang viereckigen Mittelfenster; wie man sagt, der älteste Teil des ganzen Gebäudes. Auch das Unreinliche der Seitenwände und des Fußbodens stört, und der alte im Geschmack Ludwigs XIV. geputzte Portier ist auch nicht eben gemacht, diesen Eindruck zu verbessern.
Lange Wendelstiegen führen zum Turme hinauf. Man gelangt zuerst auf die Plattform, von wo aus die beiden Türme sich erheben sollten. Den Platz des südlichen, nie begonnenen Turmes bedeckt nun das kleine Haus des Turmwächters und Turmwirtes; denn wie die Tische und Bänke zeigen, scheint man hier nicht bloß an geistige, sondern auch an leibliche Genüsse sich zu halten. O Erwin von Steinbach! Darauf war dein Plan wohl nicht abgesehen! Es liegt etwas bitterlich Komisches darin, daß dieser sitzengebliebene Turm immer doch noch eine brauchbare Weinstube abgegeben hat![385]
Sonst ist die Aussicht von dieser Plattform freilich sehr schön; Stadt und Land, Rhein und ferne Gebirge breiten sich zu einem großen freudigen Panorama umher, neben dem Umschauenden aber steigt der ungeheuere Spitzkegel des eigentlichen Turmes mit seinen unendlichen Zieraten und den durchbrochenen Korallengewinden vergleichbaren Treppen in die höhern Regionen hinauf!
Wohl ist man, die Herrlichkeit dieses Wunderbaues anzuerkennen, durchaus genötigt, fühlt aber unbedingt die hohe Einfachheit des Freiburger Münsters überschritten und gesteht sich zuletzt wieder einmal: daß auch hier weniger mehr gewesen sein würde.
In der Halle unter dem Münsterturme (dessen Kegel überhaupt innerlich nicht frei, sondern durch mehrere Gewölbe geschlossen ist) haben sich viele Namen zusammengefunden. Unter andern las ich denn auch Goethes Namen mit einer ganzen Reihe früherer Genossen unter der Jahreszahl 1776.1 Wir stiegen in einem der vier Treppentürmchen bis dahin, wo das weitere Fortsteigen, frei an der Spitze hinauf, durch ein Eisengitter gewehrt wird. Höchst künstlich winden sich diese Treppen um ihre Spindel herum und hinauf! Eins dieser Türmchen hat sogar eine doppelt übereinander hinlaufende Treppe. Schöne Durchsichten ergeben sich bei diesem Steigen durch das überall luftig geöffnete Gebäude des Turmes auf die gegenüberliegenden Treppentürme und die bald mit Heiligen, bald mit Tiergestalten verzierten Galerien. Lästig dagegen war mir einigermaßen der auf dem Kirchendache über dem Chore angebrachte Telegraph, von dem uns versichert wurde, daß er morgen bei hellem Wetter den Erfolg[386] der Pariser Lotterie verkünden würde. Also abermals das Negative dem Positiven eng zur Seite!
Wieder herabgekommen auf die Plattform, mußte man noch einen Blick in das schön gebaute Werk der Turmuhr werfen und gab sich dann an das Herabsteigen, welches von solcher Höhe hinunter nicht eben schnell zu beenden ist.
Da standen wir nun wieder vor der übergewaltigen Masse der Hauptfront und nahmen jetzt noch manches einzelne in nähere Betrachtung; so zunächst die Heiligengestalten an den drei Portalen. Gewiß ist hier die Skulptur hinter der Architektur zurückgeblieben, die Gestalten sind oft verrenkt, hart und geradezu unrichtig, und doch fühlt man einen innersten Kern durch, welcher seine Wirkung auf das Gemüt nie verfehlt. Es ist die Innigkeit einer frühern einfach christlichen Welt, welche aus diesen Zügen spricht und, wenn sie auch im Bildwerk nicht zu ihrer vollen Blüte sich erschließen konnte, es doch ahnen läßt, daß diese Blüte, hätte sie sich je entfaltet oder sollte sie sich jemals noch wirklich entfalten, eine ganz andere und vielleicht doch eine höhere als die der griechischen Skulptur gewesen sein würde.
Geht übrigens der Stil dieser Gotik selbst in dem besten Teile des Münsters unleugbar über die reine Mitte zwischen roher Einfachheit und höchster Künstlichkeit hinaus, so darf dagegen von dem nördlichen, später gebauten Portale des Chors in Wahrheit gesagt werden, daß es in Künstelei völlig untergegangen sei. Die Spitzbogen treten hier mit doppelter Biegung nach außen hervor, höchst willkürlich sind viele Bögen geradezu abgebrochen (man findet deren im großen auch im Innern des Münsterturms), und andere Stäbe steigen von dem abgebrochenen wieder empor; kurz, alle Verzierungen sind geradezu ins Unmäßige gehäuft.
Auch die Statuen dieses Portals sind offenbar schlechter[387] als die des vordern, und so wird solch ein Werk, das durch mehrere Jahrhunderte geht, immer zugleich geschichtlich, für den mit den Zeiten sich ändernden Kunstgeschmack der untrügliche Maßstab. Von dem Münster gingen wir zur St.-Thomas-Kirche, wohin Pigalles Denkmal für den Marschall von Sachsen uns zog. Die Kirche ist einfach gotisch, mit Schiff, Chor und zwei Seitengängen, ziemlich im Sinne des Meißener Doms geordnet. Das Grabmal selbst fand ich besser, als ich erwartet hatte. Groß, wohl ausgeführt und an gutem Orte aufgestellt, wirkt es im ganzen imponierend, und der Grundgedanke spricht sich leicht und deutlich aus. Die Gestalt des Marschalls schreitet ruhig und fest dem geöffneten Sarge zu, von welchem Frankreich ihn zurückzuhalten sich vergeblich bemüht. Unter dem Denkmale umschließt eine enge Gruft den mächtigen steinernen Sarkophag des Helden.
Noch enthält die Kirche andere Monumente, so wie von Koch und Oberlin. Namentlich Kochs Denkmal, von Ohmacht gearbeitet, zeigt in der sitzenden weiblichen Gestalt eine reine und edle Art der Behandlung.
Ehe wir die Kirche verließen, führte uns der Sigrist noch in ein dumpfiges Nebengewölbe, mehr ähnlich einer Gruft als einer Kapelle, um uns zwei unter Glasdecken in hölzernen Särgen verwahrte Leichen sehen zu lassen, welche, völlig ausgetrocknet, durch ihre über drei Jahrhunderte sich erstreckende Dauer merkwürdig werden. In der Revolution waren nämlich hier alle Grüfte durchwühlt, die Erbbegräbnisse zerstört und die Gebeine der adeligen und fürstlichen Personen zerstreut worden. Hierbei wurden denn auch diese Särge erbrochen, durch Zufall aber blieben die Leichen unversehrt. Das eine ist ein Graf von Nassau, eine tüchtige Mannesgestalt, dessen Gesichtszüge noch wohl kenntlich sind; auch der deutsche dunkelbraune Rock, die breiten Schuhe mit hohen Absätzen und kleinen[388] Schnallen sowie die großen Schlaghandschuhe sind gut erhalten. Die andere Leiche ist dem Namen nach unbekannt, es scheint eine junge Dame hohen Ranges gewesen zu sein. Aus blauem, wohlerhaltenem reichbesetztem Seidenkleide und über dem Ordenskreuze ragt der fast nackte Schädel hervor, und noch blitzen an den kleinen vertrockneten, aber gut erhaltenen Händen goldene Ringe. Der wunderlichste Mißklang von Pracht und Verwesung, über welchen viele Hamletmeditationen sich anstellen ließen.
Freudenstadt, 25. September abends
Unser Weg von Kehl nach Tübingen führte nun über den Schwarzwald. Wir hielten Mittag in Obenau und erfuhren vom Wirt bei dieser Gelegenheit manche Beispiele von Betriebsamkeit der Schwarzwälder. Bekanntlich werden unzählige Wanduhren hier herum gefertigt; indes versteht man auch wohlklingende Spieluhren zu bauen; der Wirt selbst hatte eine solche und amüsierte uns damit, während in der stillen, geräumigen, ausgetäfelten Oberstube die durch Regenwolken dringende Sonne eben ihre ersten Strahlen in die runden Scheiben warf, die Uhr ein etwas schwermütiges Rondo recht gut ausführen zu lassen. Ferner fänden sich Leute, welche mit besonderer Geschicklichkeit in gläserne Hohlkugeln allerhand sparriges Geräte hineinzubauen wissen, und zumal habe ein kleiner buckeliger Kerl die wunderlichste Fertigkeit besessen und zum Beispiel ein kleines Faß von ein paar Zoll Länge, innerhalb einer solchen Kugel, durch die enge Öffnung derselben in ganz kurzer Zeit aus seinen Teilen zusammenzusetzen und wieder auseinanderzunehmen gewußt. Auch hier verweisen somit diese einförmigen Täler und weiten Nadelwälder den Menschen mehr auf sich selbst und bringen ihn hierbei zu ähnlichen grillenhaften Beschäftigungen. Daß Geisteskrankheiten in diesen Gegenden[389] viel vorkommen, ist eine bekannte Sache und fließt unbedingt aus gleicher Quelle.
Gegen Abend, nach überschrittener Gebirgshöhe, kamen wir nach diesem Freudenstadt, welches von Friedrich I. von Württemberg mit weitaussehenden Plänen einst zu einer Handels- und Bergstadt gegründet worden war. Die Anlagen wurden aufs größte gemacht, mit hohen Toren und Festungsmauern wurde nicht sparsam umgegangen, freie Plätze wurden abgesteckt, Warenhäuser erbaut, Brunnen mit Standbildern aufgerichtet, und es fehlte zu einer tüchtigen Stadt nur eben die Menschenzahl und der lebendige Verkehr. Schon der Dreißigjährige Krieg verwüstete dann vieles von den gemachten Anlagen, und wenn auch die spätern Generationen sich nun wieder ziemlich wohnlich dort eingerichtet haben, so ist der Ort doch nie wirklich in Aufnahme gekommen, und selbst der Markt ist wieder bereits halb zu Feld und Garten geworden. Was sonst noch von alten Anlagen besteht, verrät überall den schlechten Geschmack aus dem Anfange des 17. Jahrhunderts. Das sonderbarste Werk jedenfalls ist die Kirche; sie fällt schon von außen auf, weil sie aus zwei rechtwinkelig zusammenstoßenden Flügeln gebaut und an beiden Enden mit einem Turme verunziert ist. Jetzt erzählte uns also ein redseliger Bürger, daß der eine Flügel den Männern, der andere den Weibern bestimmt sei, Altar und Kanzel aber lägen eben in der Spitze des Winkels beider Flügel, so daß dadurch erreicht werde, daß die Männer nicht die Frauen und diese nicht die Männer sehen könnten, wohl aber beide Teile den Pfarrer sehen und hören müßten. O weiser Baumeister!
Heilbronn, 29. September abends
Es ist schon 10. Uhr vorbei, und eben erst langen wir von Stuttgart an, doch wird sich bei einer erquicklichen Tasse[390] Tee noch manches von dort nachtragen lassen. Von der Reise, hierher ist so nichts aufzuzeichnen, was nur zum kleinsten Gedichte Stoff gäbe.
Also was Stuttgart angeht, so gelang es mir gestern nach Tisch, Dr. G. Jäger aufzufinden, und dieser treffliche intelligente Mann und Arzt hatte denn die Güte, uns sogleich das königliche Naturalienkabinett im alten Schlosse zu öffnen. Die Schädel der hirnarmen Kinder, deren Geschichte Jäger später bekanntgemacht hat, waren mir in aller Hinsicht das Wichtigste, und ich konnte die Sammlung nicht verlassen, ohne sofort durch Dietz den einen derselben zeichnen zu lassen. Die Kleinheit der Schädel ist entsetzlich.
Wie denn nun soviel möglich alles und jedes betrachtet worden, schickten wir uns an, noch einen Spaziergang nach Cannstadt zu machen, denn gern hätte ich mir selbst dort ein paar Stücken fossilen Elfenbeins zugeeignet, von dem wir auf der Sammlung so große Massen gesehen hatten. Dr. Jäger, welcher die bei Cannstadt gefundenen Elefantenknochen beschrieben hat, machte uns starke Hoffnung, dergleichen zu finden.
Der Weg dahin führt durch den königlichen Park, welcher durch ein Tor in der Fassade des wenn auch nicht im reinen Stil, doch in einem großen Sinne erbauten neuen Schlosses eröffnet wird. Besonders die mit Blumenvasen reichverzierte Rückseite des letztern nimmt sich gut aus, und ihr gegenüber ist an einem weiten Bassin eine Gruppe zweier kolossaler Frauengestalten von Dannecker auch sehr tüchtig ausgeführt. Man sieht dort die Nymphe des Neckar (in Beziehung auf Schiller angemessenerweise mit der Lyra im Arm) auf ihre Urne gelehnt, welche von einer andern weiblichen Gestalt (wir nahmen sie für die Wahrheit) bekränzt wird. Besondere Wege für Fußgänger und Wagen umgeben das Bassin, alles mit Blumen und[391] Bäumen anmutig verziert, die hohen Talwände des Neckargrundes erheben sich dahinter, und das Ganze machte somit, selbst heute bei dem trüben Wetter, einen signorilen und vergnüglichen Eindruck. Hier sahen wir auch die Überreste der ehemals so reichen königlichen Menagerie in zwei schwarzen Schwänen mit ihren roten, weißgebänderten Schnäbeln, wie sie auf der Spiegelfläche des klaren Gewässers, unter allerhand anderm ausländischen Geflügel, ruhig ihre Kreise dahinzogen.
Hinlänglich ermüdet, kamen wir erst spätabends nach Stuttgart zurück, setzten heute früh zuvor unsere Studien auf dem Naturalienkabinett fort und wendeten uns dann zu der merkwürdigen Sammlung alter Gemälde bei den Gebrüdern Boisserée.
Bekanntlich ist aber vom Könige von Württemberg mit schöner Uneigennützigkeit diesen Herren ein besonderes Gebäude zum Aufstellen ihrer mit großer Mühe und Kenntnis gesammelten Bilder eingeräumt worden, obwohl bisher die Sammlung selbst noch ihr Privateigentum blieb. Hier nun geben die Besitzer wöchentlich einigemal Fremden und Einheimischen eine Art von Ausstellung, und es wäre dies vielleicht noch dankenswerter, wenn der Kunstfreund dabei seiner stillen Beschauung noch etwas ruhiger sich überlassen bleiben könnte.
Die Eintrittszimmer zeigen eine sehr symmetrische Verzierung der Wände und Anordnung der Mobilien. Regelmäßig sind Abgüsse der Vischerschen Apostel und die Tafeln vom Dom zu Köln zwischen Steindrücke nach Bildern ihrer Sammlung geordnet, und auf Marmortischen ausgelegt, erfreuen besonders höchst zierlich in Holz geschnitzte Basreliefs von Albrecht Dürer, deren eins die Himmelskönigin auf dem Sichelmonde stehend (wie man sie auch in Kupfer gestochen von ihm kennt), und zwar in ganz trefflicher Arbeit, darstellt. Durch die[392] offenen Türen gewahrt man außerdem im hintersten Bibliothekzimmer noch ein die Perspektive schließendes vergoldetes Tabernakel, und alles verkündigt somit die Neigungen der Besitzer aufs deutlichste.
Es erschienen nun einige Damen und Herren, man hörte von Kunstsinnigkeit, Gemütlichkeit und dergleichen sprechen und wurde alsbald in das erste Stock des Gebäudes geführt, wo sich denn die Sammlung in einer Reihe von Zimmern sehr eigentümlich aufgestellt findet. Es ist nämlich Sorge getragen, in halbverfinsterten Zimmern, welche fast wie zu theatralischen Vorstellungen mit Reihen von Stühlen und Bänken besetzt sind, die Bilder immer ins hellste Schlaglicht zu stellen, und wenn man nun erwägt, daß stets nur ein oder einige Bilder zugleich gezeigt und so Aufmerksamkeit und Auge aufs höchste konzentriert werden, so läßt sich eine heftige Wirkung auf reizbare Gemüter allemal unfehlbar erwarten. Überdies ist die Gefälligkeit, Unermüdlichkeit und Ausdauer der Besitzer höchst rühmenswert, denn es ist nichts Kleines, allwöchentlich mehreremal diese Demonstrationen und Aufstellungen zu wiederholen. Ihre Aufmerksamkeit geht so weit, daß wir beim Fortgehen noch besonders dringend und höflich erinnert wurden, ja keine Geschenke an die Türsteher und Aufwärter zu machen, indem es diesen Leuten durchaus untersagt sei, dergleichen anzunehmen.
Was nun von dem, was ich sah, mich vornehmlich erfreut hat, sei hier nach der Reihe der Zimmer kürzlich aufgezeichnet.
Erstes Zimmer. Drei Bilder von Schoreel, einem Brabanter Maler aus Vincis Zeit und noch nach ihm lebend. Er war von geistlichem Stande, wurde in Rom hoch geehrt, und König Franz I. suchte ihn nach Frankreich zu ziehen. Man sieht selten Bilder von ihm, aber immer steht er würdig dem Leonardo da Vinci gegenüber.[393]
Diese drei Bilder haben einem Altar mit zwei Flügeltüren zugehört. Man sieht auf dem mittlern, größern den Tod der Maria und auf den Seitenbildern die Familie, welche die Bilder im frommen Glauben gestiftet hat. Rechts Mutter und Tochter mit ihren beiden Schutzheiligen, links Vater und Sohn mit ihren Patronen. Besonders die schönen, kräftigen, reinen Züge der Köpfe, die unendliche Ausführung und der Reichtum der Gewänder, die glatte, höchst saubere Behandlung und der ganz ungeschwächte Glanz der reinsten Farben haben sich mir tief eingeprägt.
Zweites Zimmer. Wieder drei Bilder von einem Altar. Ein großes mittleres und zwei kleinere hohe Seitenbilder, alle drei von Johann von Eyck. Das mittlere zeigt die Anbetung der Könige, ist reich an Figuren und mancherlei Nebenwerken und von einer Ausführung, welche auch bei minderm Gelingen, schon inwiefern sie von der tiefen Ruhe und liebevollen Ausdauer der Künstlerseele Zeugnis gibt, äußerst ergreifend genannt werden darf. Die charaktervollen Bildnisse von Karl dem Kühnen und Philipp dem Guten, welche mit eingewoben sind, dürfen dabei nicht übergangen werden. Die Seitenbilder enthalten den Engelsgruß an Maria und die Darbringung Christi im Tempel. Das erstere ist mir besonders lebhaft im Gedächtnis geblieben. Man sieht ein stilles, wohlgeordnetes Jungfrauenzimmer. Maria, eine gar zarte Gestalt, kniet an einem Betpult, und links im Bilde schwebt eine wunderschöne Engelsgestalt heran, das Haupt von goldenen, zierlich gescheitelten Locken umwallt. Die schöne Zeichnung dieses Gesichts, die herrliche Ausführung des rosenfarbenen, goldgesäumten Gewandes und die sauberste Ausführung der in Regenbogenfarben glänzenden Schwingen; man kann nichts Lieblicheres sehen!
Drittes Zimmer. Ein großes Bild von Lukas von Leyden.[394] In einer offenen Galerie sitzt Maria und vor ihr Lukas, der Evangelist, sie malend. Durch die Säulen der Halle sieht man hinaus in eine weite Landschaft. Ein herrliches helles Tageslicht zeichnet dieses Bild besonders aus, und ebenso ist, außer vielem andern, der Kopf des Lukas von höchstem Verdienst.
Viertes Zimmer. Nächst einem schönen männlichen Kopf von Holbein wurden uns hier drei sehr verdienstliche kleinere Bilder von Hemmlink gezeigt. Das mittlere, wieder eine Anbetung der Könige, aus welcher mir namentlich eine schöne, ritterliche, kniende Figur und ein niedlicher Mädchenkopf im Gedächtnis geblieben sind. Das zur Rechten, den Christophorus darstellend, wie er das Jesuskind durch das Wasser trägt, sodann das zur Linken, Johannes in der Wüste, welcher auf dem roten Buche des Evangeliums das Lamm trägt. Vorzüglich das erstere ist von mächtiger Wirkung, und man vergißt leicht die räumliche Kleinheit des Bildes über der geistigen Größe der Auffassung. Der Kopf des Christuskindes wie der des Christophorus sind besonders ausgezeichnet. Eben hebt sich die Sonne über dem bewegten Meere herauf, und wenn auch Felsen und Meereswogen an sich manches Steife und Unnatürliche haben, so ist doch immer die Klarheit der im Vorgrunde anspielenden Wellen bewundernswert. Auch an dem Johannes erfreut die edle männliche Gestalt und die unendliche Ausführung des berasten Vordergrundes mit seinen Büschen und Blumen.
Fünftes Zimmer. Ein großes Bild von Lukas von Leyden. Vier heilige Frauen mit ihren Attributen sind wie vor einem hellen Teppich stehend gemalt, doch so, daß über dem Rande des Teppichs sich eine Aussicht in weite Ferne eröffnet. Mit großer Kunst und bis auf hohen Grad der Täuschung ist das Abstehende der Figuren herausgebracht, und ebenso sind die Köpfe zum Teil sehr schön.[395] Zu Füßen der einen Heiligen sieht man ein Ungeheuer sich winden, an dessen Augen der alte Meister besondern Fleiß gewendet hat. Es sind wirklich feuersprühende Tigeraugen, mit Tennerscher Ausführlichkeit dargestellt. Es fällt mir dabei ein, daß schon die eine Heilige auf dem Bilde von Schoreel ein kleines Ungeheuer neben sich hatte, welches wunderlicherweise an einer Laterne heraufklettert, die die Heilige trägt. Von ihr erzählt nämlich die Legende, daß sie die Kranken und Leidenden vielmals in der Nacht besuchte und pflegte; hierbei nun bewies sich der Teufel in Gestalt eines kleinen Drachen geschäftig, sie in ihrem Werke zu stören und ihr das Licht auszublasen, obwohl vergeblich. Eine kleine Geschichte, die sich ein Arzt immer besonders zu Nutz und Frommen gesagt sein lassen darf.
Sechstens folgte eine Reihe Zimmer mit vielen Gemälden, welche ausführlich zu betrachten keine Zeit gegönnt wurde; kaum konnte ich die von Goethe besprochene schöne Veronika mit dem Schweißtuche und dem byzantinisch dargestellten braunen Antlitz Christi etwas näher ins Auge fassen. Auch fiel mir eine niedliche Madonna in hübscher Landschaft von Dirk von Harlem, eine schöne figurenreiche Kreuzigung und eine alte Landschaft, eine wahre Inkunabel dieser Kunst, mit wunderlichen, kleinlich ausgeführten Bäumen im Vorübergehen auf.
Siebentes Zimmer. Hier zeigte man uns noch ein Bild von Hemmlink, die Aufsammlung des Manna in der Wüste durch die Israeliten. Ein gar seltsames Bild, wo der Maler mit der Kostümierung der Israeliten sich viel gemüht und all diese Leute in die absonderlichsten Kleider gesteckt hatte. Übrigens naivste Motive und die lebendigste Auffassung.
Achtes Zimmer. Ansprechender war in diesem Zimmer der Christuskopf von demselben Meister. Er ist lebensgroß[396] und von bewundernswerter Ausführung; im Charakter freilich zu weich gehalten.
Und hiermit beschloß man die Aufstellung, und wir nahmen Abschied von einer Sammlung, welche man für die alte deutsche Kunstgeschichte allerdings eine der wichtigsten nennen darf. Gewiß bleiben bei allen diesen Bildern die meist geradezu von zwei Seiten angenommene Beleuchtung, die allzu schreienden Farben und die einfachen Verzeichnungen große Unvollkommenheiten, allein der Geist innigster Liebe, die unerschöpfliche Sorgsamkeit und die überall durchleuchtende Reinheit und Treue des Gemüts machen das alles vergessen und sichern ihnen immer einen hohen Rang in der Reihe der Kunstwerke. – Bekanntlich sind diese Bilder später nach München verkauft worden und finden sich dort in der Pinakothek. So wie sie damals einzeln in gewählter Beleuchtung gezeigt wurden, sieht man sie jetzt freilich nicht mehr.
Dorf Hehlfeld zwischen Bamberg und Bayreuth,
4. Oktober mittags
Über Heilbronn, Weinsberg und Dirzbach (wo wir übernachteten) kamen wir am 1. Oktober gegen Abend nach Würzburg. Bis kurz vorher war der Weg immer uninteressant; vor Würzburg aber öffnet sich ein herrliches Tal, unendliche Weinberge in sanft gesenkten Linien treten hervor mit einzeln vorstehenden Kalkfelsen, und inmitten nun das große prächtige Schloß sowie am Fuße des Schloßberges die weithin gelagerte Stadt mit zahlreichen Kuppeln und Türmen gewährte den reichsten Anblick.
Man fährt durch ein stattliches Festungstor in die Stadt und gelangt über die mit Bildsäulen reichverzierte Mainbrücke, an mehrern Kirchen vorbei, zum »Adler«, wo wir uns indes nicht besonders quartiert fanden. Die Stadt nimmt sich auch von innen gut aus und erinnert in vieler[397] Hinsicht an Bamberg; besonders fiel eine gewisse Helligkeit und Rundung der Gesichter ihrer Bewohner auf, denen man es wohl anmerkt, daß edler Wein hier ein auch dem Volke eröffnetes Gut ist.
Ich ging noch diesen Abend zu Doutrepont, welcher mich äußerst befreundet empfing. Er ist Medizinalrat und Direktor des Entbindungshauses, vielfach praktisch beschäftigt und von sanfter, Vertrauen erregender Gemütsart. Hier erfuhr ich, daß ich sehr zu guter Stunde eingetroffen sei, da vor kurzem ein großer Transport brasilischer Naturalien für Wien unter der Aufsicht des Dr. Pohl angekommen sei, welcher morgen schon wieder abgehe. Da Pohl diesen Abend bei Döllinger sein werde, so verwies mich Doutrepont an diesen und begleitete mich selbst zu ihm. Wieder machte ich denn hier persönliche Bekanntschaft mit einem Manne, der durch seine den meinigen oft begegnenden Arbeiten mich längst interessiert hatte! Hofrat Döllinger ist ein starker, wohlausgebildeter Mann von vieler Tätigkeit und nicht ohne ein gewisses lebenslustiges Wesen, was denn auch im Wissenschaftlichen die Regsamkeit des Geistes unterhält. Außer Pohl und dem Wiener Hofgärtner, den Mitgliedern der naturhistorischen Expedition, die zugleich mit der kaiserlichen Prinzessin nach Rio de Janeiro abging, fanden sich noch einige Freunde Döllingers ein, und wenn es auch nicht zu vielen wissenschaftlichen Erörterungen kommen konnte, so brachten wir doch bei trefflichem Wein einen ganz vergnügten Abend zu. Dieser Dr. Pohl hat übrigens wahrscheinlich auf lange seine Gesundheit durch die Reisen in Brasilien zerrüttet; besonders waren ihm Leberleiden gekommen infolge der großen überstandenen Hitze. Manche interessante Notiz verdankte ich ihm, auch versah er mich mit brasilischem Brotsurrogat, einer Art von Kleie aus der geriebenen und getrockneten Maniokwurzel, welche,[398] so wie sie ist, trocken auf den Tisch geschüttet und mit Behendigkeit während des Essens in den Mund geworfen wird; nebenbei erzählte er viel von dem merkwürdigen Stamme der Botokudos. Zwei derselben, Mann und Frau, hat er mitgebracht, und bei der Ankunft in Europa haben sie zu drei sich vermehrt, indem die Frau zu Gorkum in den Niederlanden, wo das Schiff anlegte, niedergekommen ist. – Die Mannigfaltigkeit und den Reichtum brasilischer Natur hörte ich hier zum erstenmal von Augenzeugen und Kennern in vielen Zügen hervorgehoben.
Wir hatten übrigens kaum unsere Betrachtungen beendigt, als die brasilischen Reisenden sich ebenfalls wieder einfanden, um den Frauen des Hauses treffliche Schmuckkästchen vorzuzeigen. Pohl hatte sie dort eingekauft, um Gelder vorteilhaft anzulegen, und er mag sich damit schwerlich verrechnet haben. Die Halsbänder, Armbänder, Kämme und Diademe, mit gelben und weißen Topasen von besonderm Feuer oder mit trefflichen Amethysten besetzt, gewährten in den zierlichen, mit Seide gefütterten Maroquinkästchen eine köstliche Augenlust, von welcher die Damen sich sichtbar mit schwerem Herzen trennten.
Was mich betraf, so ging ich jetzt mit Döllinger, um die Botokudos zu sehen. Sie waren noch auf dem Schiffe, welches sie den Rhein und Main herauf hierher gebracht hatte. Der Mann ist 19, die Frau 21 Jahre alt, ihr Kind vier Wochen. Bekanntlich zeichnet es die Leute dieses Stammes aus, daß in Unterlippe und Ohrläppchen große hölzerne Pflöcke getragen werden, und man liest wohl dergleichen so hin, ohne es sich mit voller Lebendigkeit vorzustellen; dagegen die Verunstaltung des Menschenantlitzes nun hier in der Natur zu betrachten, war nun doch ein anderes und gab wirklich ein eigenes peinliches[399] Gefühl. Der Mann mit seinem dumpfen, tierischen Wesen lachte mich beiläufig etwas aus, als ich seinen Kopf der Schädelform halber genau befühlte, doch war es immer als eins der ersten Zeichen seiner Perfektibilität anzuerkennen, daß er schon pantomimisch zu verstehen geben konnte, man möge ihm etwas schenken. Übrigens hat er es freilich noch nicht zur Erkenntnis des konventionellen Geldwertes gebracht, sondern er hebt bloß die Münzen auf, die ihm gefallen, und wirft die andern weg. Sein Bau ist groß und stark, die Farbe ins Kupferbraun, das Haar spießig, schwarz und glänzend, die kleinen Augen sind schief einwärts geneigt, die Backenknochen stark und hervorstehend. Der Pflock, den er in der Unterlippe trug, maß gut seine zwei Zoll im Durchmesser und glich ziemlich einem Faßspunde. Wenig kleiner waren die Pflöcke in den Ohrläppchen. Pohl sagte mir, daß sie mit dem Durchbohren dieser Teile im vierten Jahre anfangen, nach und nach immer stärkere Hölzer einlegen und es endlich so weit treiben, bis sie Pflöcke von drei bis vier Zoll Durchmesser einbringen, wobei indes zuweilen die Lippe platzt und nun in Form zweier Lappen herabhängt. Natürlich hindert sie diese Verunstaltung im Essen und Trinken, sie trinken aus hohlen Bambusstäben und müssen alles von der Seite in den Mund stecken, ertragen aber diesem Putz zuliebe gern all dergleichen Beschwerden, doch am Ende ganz wie der gebildete Europäer, der sich ebenfalls vielfach die größte Gêne auflegt, nur um einer Mode und vorgefaßten Meinung genugzutun. Pohl war zu Rio de Janeiro einmal unter einem Haufen von einigen fünfzig solcher Botokudos gewesen und meinte, dergleichen bleibe immer eine fatale Situation, zumal wenn man sich ihres starken Appetits auf Menschenfleisch erinnere. Es war dieser Trupp aber nebst einigen Weibern in die Nähe von Rio geschickt worden, um der Gesandtschaft[400] eine Probe zu geben, daß man jetzt auch diese Nachbarn wirklich zu zähmen anfange; gegenwärtiges Paar hatte man dabei aufs geratewohl aus dem Haufen herausgegriffen und dem Kaiser in Wien bestimmt. Was die Frau betraf, so war sie ganz besonders häßlich, sonst dem Manne ziemlich ähnlich. Sie trug etwas kleinere Pflöcke. Das Kind war bis jetzt noch von gewöhnlicher heller Farbe und zeigte wenig Abweichendes in der Bildung.
So denn über die großen Rheinschiffe wieder herauskletternd, gingen wir zu den bereits auf Wagen geordneten Tieren. Viel war davon nicht sichtbar, und noch weniger war Muße zu genauer Betrachtung vergönnt. Ein fünf Fuß langer Alligator und eine große lebende Riesenschildkröte waren uns indes doch zugänglich und besonders interessant.
Endlich noch ein Besuch der ärztlichen Anstalten. Ich ging zuerst nach Doutreponts Entbindungshause und dann zum Orthopädischen Institut von Heine. Dieser Heine ist ein bejahrter, aber noch sehr tätiger Mann, von kleinem, magerm, aber gewiß dauerhaftem Körperbau; er war lange schon als geschickter Arbeiter chirurgischer Instrumente berühmt, nun aber hat er, ohne eigentliche wissenschaftliche Vorkenntnis und bloß selbst erfinderisch und unverdrossen, sich Apparate ausgedacht, verkrümmten Gliedern, besonders durch Anwendung der Federkraft, wieder ihre natürliche Richtung zu geben. Die Regierung unterstützt ihn, und in den Zimmern eines ansehnlichen Gebäudes werden jetzt seine Kranken in bester Weise verpflegt, auch fehlt es nicht an Badeanstalten und einem hübschen Garten, worin die Kranken der Luft genießen können, indem einige umhergehen, andere auf künstlichen Stühlen, in ihre Maschinen eingespannt, sich selbst umherfahren. Ist etwas zu tadeln, so ist es, daß zu wenig ärztliche Beratung bei der Behandlung stattfindet, da doch[401] die meisten solcher Formänderungen stets auf innern Übeln beruhen und daher keineswegs allein durch äußere Gewalt bekämpft sein wollen.
Es wurde mir denn auch das Bett gezeigt, auf welchem die Prinzessin Schwarzenberg gelegen und allmählich so viel Kräfte gesammelt hatte, daß endlich es ihr möglich wurde, dem »Stehe auf und wandle« des Fürsten von Hohenlohe Folge zu leisten. Ein Vorfall, der dem guten Heine, in dessen Abwesenheit der Fürst die Anstalt besucht hatte, damals zu besonderm Verdrusse gereichte.
Ich aß jetzt noch bei Doutrepont, und nach Tische besahen wir schließlich das große, schön gebaute Juliusspital, welches im 16. Jahrhundert begründet und im 17. in dieser opulenten Form aufgeführt wurde. Es ist auf zirka 300 Kranke der Stadt und Umgegend und auf einige bloß Verpflegte (sie nennen sie Pfründner) berechnet. Schönlein, Textor und Müller leiteten hier ärztliche, wundärztliche und psychische Klinik.
So war denn nun in geringster Zeit das meiste hier gesehen, und am 3. Oktober früh fuhren wir gen Bamberg ab. – Bei Dettelbach (in dessen Nähe der Spessart anfängt sowie auch der Odenwald zwischen Würzburg und Wertheim liegt) setzt man auf einer Fähre über den Main. Die Gegend ist durchaus wohl angebaut, und vor Dettelbach finden sich noch die größten Weinberge. Mittags kamen wir nach Ebenach, sonst ein übermäßig reiches Kloster, in dessen Hofe die äußerst opulent verzierte Kirche noch erhalten ist. Sie wurde im 13. Jahrhundert durch Gertrud, Gemahlin des römischen Königs Konrad, erbaut und zeigt von außen den gotischen Stil, obwohl nicht ganz rein. Leider hatten dann in der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Mönche sie im Innern im überladenen neuen Stile ausgebaut, und kaum war somit alles umgeschaffen, kaum waren alle die Vergoldungen, Marmorwände und erhabenen[402] Arbeiten beendigt, so wurde das Kloster aufgehoben, und die Kirche wurde, was sie noch ist, die Pfarrkirche eines mäßigen Sprengels. Alles hat daher jetzt ein höchst verlassenes Ansehen, die Vergoldungen und Arabesken sind dick bestäubt, die drei Orgeln werden kaum einigemal des Jahres noch gerührt, statt goldener und silberner Altargeräte gleicht die Verzierung des mächtigen Altars der einer Dorfkirche, still brennt in den verödeten Räumen die Ewige Lampe, und ein ärmlicher Sigrist dominiert nun allein in all dieser vergänglichen Pracht. Nebenbei sieht man auch eine Menge Gemälde, meistens neuitalienischer Meister und ohne besondern Wert, aber alles zerfällt immer mehr!
Durch hügelige waldige Gegend endlich kamen wir ziemlich spät nach Bamberg und übernachteten wieder im Gasthof »Zum Lamme«, wo wir auf der Hinreise so gut aufgenommen gewesen waren. – So hatten wir also den Zyklus der Reise geschlossen und hofften einigermaßen, daß man hier doch auch uns wiedererkennen, ja uns vielleicht mit einiger Freude aufnehmen werde, aber – niemand erkannte uns wieder. So schnell verschwindet immer der Mensch aus dem Gedächtnis der Menschen.
Am 7. Oktober kehrten wir über Bayreuth, Plauen und Chemnitz nach Dresden zurück. Meine Ankunft war nicht fröhlich. Schon mein Freund Weiß (Amtsphysikus in Freiberg) hatte es übernommen, dort auf manche traurige Ereignisse, welche während meiner Abwesenheit begegnet waren, mich vorzubereiten, und so geschah es, daß ich die wenigen Meilen von Freiberg nach Dresden in der peinlichsten Stimmung zurücklegte. Ähnliche vorbereitende Notizen, hier am äußern Tore für mich niedergelegt, steigerten diese Unruhe nur noch mehr; ich sprang vom Wagen und wußte kaum zu sagen, wie schnell ich den Weg nach dem bekannten Hause zurückgelegt habe.[403] Da ich auf das Schlimmste gefaßt war, so mußte mir freilich, wie ich die Meinigen fand, noch über Erwartung scheinen! War ich doch nun wieder unter ihnen und konnte selbst auf weitere Hilfe denken!
1 | 1776 war Goethe nicht in Straßburg. Das Datum zeigt das Stiftungsjahr der Tafel an, die u.a. zusammen mit Goethe die Namen Schlosser, Ziegler, Lenz, Herder und Lavater verzeichnet. (Anmerkung des Herausgebers.) |
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