IV.

[459] Das Jahr 1826 wurde mir bedeutsam genug eingeläutet durch ein Glückwünschungsschreiben Goethes, welches ich wohl hier wieder aufnehmen muß1, da es mir halb wie ein Zeugnis der Vergangenheit und halb wie eine Bürgschaft der Zukunft erschien und in das Verhältnis des Dichters zu den Naturwissenschaften selbst einen gar lebendigen Blick gestattet:


Herrn Carus und D'Alton2

Zum neuen Jahr


Weimar, 1826


Wenn ich das neueste Vorschreiten der Naturwissenschaften betrachte, so komme ich mir vor wie ein Wanderer, der in der Morgendämmerung gegen Osten ging, das heranwachsende Licht mit Freuden anschaute und die Erscheinung des großen Feuerballens mit Sehnsucht erwartete, aber doch bei dem Hervortreten desselben die Augen wegwenden[459] mußte, welche den gewünschten, gehofften Glanz nicht ertragen konnten.

Es ist nicht zu viel gesagt, aber in solchem Zustande befinde ich mich, wenn ich Herrn Carus' Werk vornehme, das die Andeutungen alles Werdens von dem einfachsten bis zu dem mannigfachsten Leben durch führt und das große Geheimnis mit Wort und Bild vor Augen legt: daß nichts entspringt, als was schon angekündigt ist, und daß die Ankündigung erst durch das Angekündigte klar wird, wie die Weissagung durch die Erfüllung.

Rege wird sodann in mir ein gleiches Gefühl, wenn ich D'Altons Arbeit betrachte; der das Gewordene, und zwar nach dessen Vollendung und Untergang darstellt und zugleich das Innerste und Äußerste, Gerüst und Überzug, künstlerisch vermittelt vor Augen bringt und aus dem Tode ein Leben dichtet. So seh' ich auch hier, wie jenes Gleichnis paßt. Ich gedenke, wie ich seit einem halben Jahrhundert auf eben diesem Felde aus der Finsternis in die Dämmerung, von da in die Hellung unverwandt fortgeschritten bin, bis ich zuletzt erlebe, daß das reinste Licht, jeder Erkenntnis und Einsicht förderlich, mit Macht hervortritt, mich blendend belebt und, indem es meine folgerechten Wünsche erfüllt, mein sehnsüchtiges Bestreben vollkommen rechtfertigt.


Treu, teilnehmend und ergeben

J.W. Goethe


Ich darf wohl sagen, daß noch jetzt, wenn ich diese Worte überlese, mich eine eigene Rührung ergreift. Man ist in der Jugend und so recht mitten in der regsten Tätigkeit des Lebens selbst fast nie reif genug, um gewichtige Worte solcher Art in ihrem ganzen Umfang zu erfassen und zu schätzen. Wende ich dagegen meine Gedanken ihnen recht zu, so ist ihre Wirkung jedenfalls mächtiger und nachhaltiger![460] Zieht man doch in spätern Jahren überhaupt mehr das eigentliche Fazit der Lebensrechnung und stellt vieles da in andern Wert, als man es in der Gegenwart zu beurteilen geneigt war, einiges beträchtlich tiefer, einiges aber auch entschieden höher als sonst. Zu letzterm wird in jedem edeln Gemüt gewiß immer vornehmlich gehören, was uns mit andern bedeutenden Geistern in wahre, reine und bleibende Beziehung brachte, und so auch alles, was uns das Zeugnis gab, daß wir ihnen wirklich etwas gewesen sind, daß wir, daß unsere Bestrebungen, deren so viele der Luftzug der Zeiten stets entblättert und abstreift, doch irgendeinen bleibenden Eindruck dem Wesen einer andern an sich mächtigen und bedeutenden Idee hinterlassen haben. Aus solchen Gedanken allein schreiben sich jene schönen Worte im »Tasso«3 her: »Wer den Besten seiner Zeit genug getan, der hat gelebt für alle Zeiten«, und darauf eben ruht ja nun auch jene obenerwähnte Unsterblichkeit gerade des Subjektivsten der Seele, daß nämlich der Geist des großen Dichters oder großen Philosophen mit so vielen tausend andern Geistern nicht nur für diesmal in nähern Rapport gestellt ist, sondern auch für immer darin erhalten wird.

So geht es daher auch sehr natürlich zu, daß, indem ich in höhern Jahren immer vollkommener die fast inkommensurable Tiefe und Mächtigkeit des Goetheschen Genius erkenne, ich es jetzt auch um so viel mehr schätze und mehr als eigentümliches Glück achte, in irgendeiner Richtung, und sei es auch nur eben eine Nebenrichtung, diesem Geiste ein gewisses Genügen gegeben und hinterlassen zu haben; eine Achtung und Schätzung, deren ich in jüngern Jahren doch immer nur im unvollkommenen Maße fähig sein konnte.[461]

Ich erzähle aber nun weiter, wie in der Nacht vor dem 3. Januar dieses Jahres ich von einem wunderbar schönen Mondschein träumte, ja im Traum davon sprach; als ich aber erwachte, war es mir dann, als sei das eben nur der verlorene Mond aus meinem Märchen gewesen, und ebenso wie wir wohl hören, daß das Volk schon glänzende Träume für üble Vorbedeutung nimmt, während es von geträumten Leichenzügen Freudiges erwartet, so brachte ich damals den Tag in trüber Stimmung und Kopfweh hin, bis endlich abends neue musikalische Elemente, zur Geburtstagsfeier von den Meinigen in heiterer Geselligkeit herangezogen, alles glücklich ausglichen. Diese Elemente waren aber gegeben in dem schon erwähnten Bergmann und dem trefflichen Organisten Johann Schneider, einem Bruder des Kapellmeister Friedrich Schneider in Dessau, ja durch Vater und Großvater einer ganz musikalischen Familie in der Art der Bachs angehörig. Man hatte diesen verdienten Mann von Görlitz hierher als Organist der Hofkirche berufen, und wie er später zugleich durch treffliche Leitung der hiesigen Singakademie und Förderung der edeln Musica auf allen Wegen sich von Dresden aus bis England berühmt gemacht hat, wird noch manchmal Gelegenheit sein zu erwähnen. Wir dankten zunächst Tilesius seine nähere Bekanntschaft, und er hat sich uns von da an fort und fort als treuer redlicher Freund bewiesen.

Der gedachte Abend war das erste Zeichen dieser Art, und Beethovens merkwürdiges und tiefsinniges Werk – die »Adelaide« – wurde mir so durch diesen Gesangesvortrag und Schneiders kunstgerechte Begleitung zum erstenmal in ihrer ganzen Mächtigkeit und Schönheit verständlich. Alle Geistestrübung war danach verschwunden, und der Tag schloß so schön, als der Traum war, mit dem er begonnen hatte.

Nicht aber bloß der Genuß an der Kunst, sondern auch[462] der an schöner Natur von Dresdens Umgegend breitete in diesem Jahre sich vollkommener aus, letzterer dadurch, daß es nun gelungen war, mir auch ein vollständiges Zweigespann nebst Reitpferd zu ermöglichen, wodurch ich denn selbst, bei so viel vermehrter praktischer Tätigkeit, des Schönen mancherlei erreichte. Und es blieb nicht ohne Frucht in meinem Geiste! Ich finde unter alten Papieren mehrere Aufzeichnungen über dergleichen, welche vielleicht als Nachtrag zu meinen Briefen über Landschaftsmalerei dereinst gut zu benutzen sein würden. Eine Stelle solcher Art, geschrieben nach einem Ritt durch die Nadelwälder im Tale der Priesnitz, darf ich wohl ausheben, da die angeschlossenen allgemeinen Bemerkungen auch jetzt noch ihre Bedeutung behalten: »Tausende von Bildern standen heute vor mir! Lichtwirkungen, wie sie kein Maler erreicht, tüchtige reiche Formen massenhaft zusammengedrängter Fichten, Kiefern, Buchen und Felsen, feuchte Moosbekleidung und wunderlichstes Wurzelwerk; ich schwamm durch ein Meer reizender Erscheinungen. Wer mag in solchen Augenblicken noch recht ernsthaft selbst an die besten Landschaftsbilder denken, und wer verstände dann die Künste selbst nicht vielmehr nur als Übergangspunkt zu höherer Erkenntnis, gleich so vielem andern! Wird es mir doch seit einiger Zeit mehr und mehr deutlich, daß was mir in Betrachtung landschaftlicher Natur begegnet, auch vollständig so im Gewahrwerden von Geschichte und Leben sich ereignet. Im Landschaftlichen empfinde ich nämlich längst, wie mich Beschäftigung mit der Kunst und Studium vieler Kunstwerke mehr und mehr dahin geleitet haben, die Natur an sich als ein Bild erfassen zu lernen und in ihr selbst eine Schönheit zu erkennen, welche so unendlich, so bis in die äußersten Tiefen unergründlich ist, daß nichts von wirklichen Bildern ihr irgend verglichen werden könnte. Dasselbe nun[463] begegnet mir jetzt auch in anderer Beziehung! Menschheitleben und Geschichte (obgleich jeder ein Stück davon ist) wird nämlich doch gewöhnlich der Mensch selbst erst spät gewahr; Dichtungen und Kunstwerke, in denen ein erdichtetes Menschenleben abgespiegelt wird, ziehen ihn anfangs viel mehr an, und zwar nicht vergebens! Denn unvermerkt wird der Sinn dadurch geöffnet und der Geist über sich und die Welt aufgeklärt. Allein eben indem sich nun so die Erkenntnis immer weiter entwickelt, schließt sich der Mensch auch wieder mehr an die Natur an, er lernt das Leben, die Geschichte, den Teil derselben zumeist, der ihm zunächst steht, in ihrem innern, wunderbaren Zusammenhange erkennen, er dringt hindurch zur Idee der Schönheit, welche den Kern alles Lebens ausmacht, und wird endlich so durch Lebens- und Geschichtsbetrachtung tiefer angeregt und inniger gerührt, als irgendeine Dichtung ihn rühren konnte, denn von nun an erst erkennt er in Wahrheit den Unterschied zwischen Erdichtetem und Wirklichem, gleich einem Unterschiede zwischen Menschlichem und Göttlichem! – Auf solche Weise ist mir denn auch verständlich geworden (was mich oft selbst überrascht hatte) ein mir jetzt aufgegangenes, so viel lebendigeres Interesse für wahrhaft Historisches (gegenwärtiges wie vergangenes, und zwar Interesse der ganzen Seele) als für irgendein wenn auch höchst vollkommen Erdichtetes.«

Von meinen Landschaftsbriefen ließ ich übrigens in diesem Jahre die ersten Proben im Kunstblatt des »Morgenblatt« abdrucken, dasselbe, welches auch meinen Aufsatz über die Eigentümlichkeit der Augenform in den Bildern der altitalienischen Künstler bekanntgemacht hatte, und man sieht also, das Interesse an der Kunst war fortwährend in mir lebendig und produktiv genug, obwohl ich für längere Zeit gerade damals meine nächsten künstlerischen[464] Freunde entbehren mußte, da Dahl auf einige Zeit wieder nach Norwegen gegangen war und Friedrich ebenfalls bald nach Rügen abreiste.

Überhaupt! Was hätte mir denn den frischen freien Herzschlag des Lebens erhalten sollen unter so viel schweren praktischen Lebensaufgaben, welche mühselig genug oft auf mir lasteten, wenn es nicht, nebst dem reinen Äther wissenschaftlichen Strebens, das Element der Kunst und Poesie gewesen wäre, das mir nie ganz ausging, so karg mir oft die Zeit zugemessen blieb! Von Musik wirkte daher in jener Zeit namentlich so auf mich eine große und schöne Aufführung von Mozarts Requiem, zum Besten der Griechen, in der Neustädter Kirche; in der Poesie erhob mich Dante fortwährend, als über dessen Inferno ich einen eigenen großen Plan aufgezeichnet hatte, auf den ich noch später zurückkommen werde; und in Beziehung auf eigentliche Lebensdichtung war mir jetzt zuerst Cervantes deutlicher aufgegangen, dessen »Don Quichote« wir abends zusammen lasen und über dessen innere Signatur ich aus jener Zeit noch ein geschriebenes Blatt finde, welches ich um so weniger hier unterdrücken will, da die hier berührte Seite gerade seltener aufgefaßt worden ist:

»Was an diesem Dichter so insbesondere erbaut, ist die tiefe Einsicht in das wunderliche Treiben des Menschen bei der nichtsdestoweniger durchaus fühlbaren innern Freudigkeit und schönen Geistesgesundheit. In Wahrheit, wir Deutschen treiben uns oft, nach dem Vorbilde der Engländer, so gern mit milzsüchtigen Vorstellungen um; und wenn Schiller uns vorsagt: ›Wer erfreute sich des Lebens, der in seine Tiefen blickt‹, so machen wir gern ein recht tiefsinniges Gesicht und sagen Amen, anstatt daß wir uns zu der Erkenntnis durcharbeiten sollten, daß eben nur der das Leben wirklich im höhern Sinne verstehen und bewältigen kann, dem sich ein hellerer Blick in die unendlichen[465] Tiefen und Fernen des Lebens erschlossen hat und dem, wie durch bunte Kirchenfenster das Sonnenbild, so der ewige Urquell aller Seligkeit durch alles bunte Gewirr hindurch stets gegenständlich bleibt, dergestalt, daß ihm alle diese vergänglichen Bilder jetzt nur um so lieber werden, weil er nun erkennt, daß sie an sich selbst die Gleichnisse zu einer Wahrheit sind, die er jetzt noch nicht in ihrer ganzen Reinheit zu erfassen imstande ist. Ich glaube, ich hätte diesen Cervantes unendlich lieben können, als Mensch, so gesund und aufrichtig kommt er mir überall vor; auch kann man ein merkbares Reiferwerden des Dichters in den spätern Teilen des Buchs, welche geraume Zeit nach den erstern verfaßt sind, keineswegs verkennen. Diese seine Freudigkeit, sein Gefühl für sittliche Schönheit und dabei doch diese Lust am Leben haben mir zu den mannigfaltigsten Betrachtungen Anlaß gegeben. Dann aber die hohe Weisheit in Auffassung dieses Don Quichote selbst! Liegt nicht die ganze Torheit des Menschengeschlechts hier auf das heiterste abgespiegelt? Wer wäre nicht, wenigstens zu irgendeiner Zeit einmal, ebenso im Falle gewesen, nur bis auf einen gewissen Punkt vernünftig zu sein, sobald aber dieser Punkt berührt wurde, gleich mit irgendeinem Mambrins-Helm dazustehen? Und wie tiefsinnig gedacht erscheint überhaupt die ganze Geschichte des edeln Ritters von La Mancha!«

Dieser Sommer war es nun auch, in welchem mir die interessante Entdeckung der Zirkulation der Blutflüssigkeit in den Insekten gelang, welche ich späterhin durch eine eigene Schrift, mit schönen Tafeln aus gestattet, bekanntmachte. George Cuvier erfuhr dadurch gewissermaßen die Erfüllung einer frühern Erwartung, denn man findet in seinen trefflichen »Leçons d'Anatomie comparée« eine Stelle, welche zeigt, wie emsig, jedoch vergeblich, er nach dem Phänomen eines solchen Blutlaufs gesucht hat,[466] und er war es daher jedenfalls auch, der es veranlaßte, daß mir das Institut de France bald nach dem Bekanntwerden jener Schrift, in Anerkennung dieser Entdeckung, die große goldene Preismedaille mit meinem eingravierten Namen zugehen ließ, als wodurch dasselbe denn um so mehr seine völlige Unparteilichkeit beurkundete, da ich jene Schrift weder ihm noch Cuvier selbst zugeschickt hatte. Das schöne Phänomen dieses Blutlaufs, welches namentlich in gewissen im Wasser lebenden Insektenlarven deutlichst hervortritt, konnte ich natürlich nun auch den im September in Dresden zusammenkommenden Naturforschern und Ärzten unmittelbar vorlegen; es erregte auch dort nicht geringe Aufmerksamkeit und vermehrte die Zahl interessanter Vorträge, welchen diesmal hier zuerst ein glänzenderes Auditorium und eine größere äußere Feierlichkeit bereitet wurde.

Die Regierung hatte nämlich auf Antrag Seilers einen der größern Säle des Landhauses zu den öffentlichen Sitzungen gewährt. Die königlichen Prinzen wohnten einigen Versammlungen bei, und den in großer Anzahl herbeigekommenen fremden Gelehrten wurde ein Festmahl auf dem Linckeschen Bade bereitet, zu welchem die Gesellschaft auf geschmückten, mit Böllerschüssen begrüßten Gondeln hinausfuhr. Das Ganze bekam so einen größern festlichen Charakter, ohne doch an innerm Gehalt zu verlieren. Späterhin haben diese Versammlungen dagegen nicht nur immer mehr ins Äußere sich verloren, sondern sie haben zugleich eine solche Menge anderer Versammlungen, Stiftungsfeste, Zweckessen und dergleichen nach sich gezogen, daß man jetzt zuweilen versucht wird, mit Hamlet zu sagen:


Meines Dünkens ist's ein Gebrauch,

Wovon der Bruch mehr ehrt als die Befolgung.
[467]

Nach und nach wurde es endlich wieder stiller um mich her, die Tage wurden kürzer, die Abende länger, und ich kam noch vor Ablauf des Jahres dazu, meine erste ausführliche Lektüre des Dante zu vollenden und mit ihr die Aufzeichnung des schon erwähnten Plans des Inferno in Form einer großen gotischen Fensterrose. Man sieht auf ihm genau die ganze Wanderung des Dichters; alle merkwürdigen Momente und alle bedeutendem Personen, die im Laufe des Weges angetroffen werden, finden sich nach den einzelnen Gesängen sorgfältig eingezeichnet, und umher in den gotischen Zieraten, welche die Rose umgeben, stehen die leitenden Himmelszeichen und leuchten das geheimnisvolle Dreigestirn und Viergestirn sowie das Geburts- und Todesjahr Dantes und der Beatrice.

Ist doch überhaupt das eine eigene und mächtige Nebenwirkung, die dieser wunderbare Geist auf jeden ausübt, der sich dem ernsten Studium seines Werks hingibt, daß früher oder später dadurch überall der Trieb geweckt wird, auf irgendeine Weise produktiv gegen ihn sich zu verhalten! Dies nur ist es denn, was die vielfachen Übersetzungsversuche veranlaßt, dies ist es, was so viele darüber geschriebene Kommentare und Auslegungen bedingte, dies, was so manchen Künstler, von Michelangelo an bis zu Koch, Flaxman und Pinelli, veranlaßte, seine gedankenhaften Gestalten durch Zeichnungen oder Bilder zu verwirklichen, und dieser Drang war es also auch, der jenen Plan schuf, den ich später lithographieren und manchen Dantophilen habe zukommen lassen.

Auch mit Tieck führte dieser Winter mich öfter zusammen, ich hörte ihn mit höchster Laune und Anmut Goethes »Mitschuldige« vorlesen und verdankte es ihm, den »Julius Cäsar« in Szene gesetzt zu sehen und so zum erstenmal dieses gewaltigen Werkes ganze dramatische Wirkung zu erfahren. Mehr und mehr fühlte ich jetzt das[468] volle Gewicht der geistigen Persönlichkeit Tiecks, die, wenn irgendeine, so vollkommen den Beinamen einer »attischen« verdiente, und oftmals zürnte ich mit mir selbst, daß ich immer noch durch die früher berührten Gründe so vielfach mich abhalten ließ, seinen Salon zu besuchen, wenn auch sonst meine Arbeiten den Abend mir eben freigelassen hatten. Etwas lag übrigens hierbei vielleicht doch auch in der großen Verschiedenheit unserer Naturen! Ein gewisses Negatives, Ironisches, auch wohl Krankhaftes, Anti-Goethisches konnte mir, dem die durchaus positive, klar gegenständliche und gesunde Richtung des letztern im Blute lag, nie ganz und gar homogen sein, und so nahe wir uns daher auch späterhin kamen und so sehr er bis ans Ende ein lieber, verehrter Freund mir geblieben ist, so blieben doch immer Gegenden übrig, in denen wir uns nicht ganz verstanden.

So kam also das Jahr 1827 heran, in welchem der Gang meines Lebens abermals eine so folgenreiche Umänderung erfahren sollte.

Allerdings mochte ich nämlich damals mit Recht zu den beschäftigtsten Ärzten Dresdens mich zählen dürfen. Schon früher habe ich mehrere fremde Familien genannt, die mich zu Rate zogen und empfahlen; ebenso aber waren es jetzt auch manche der ersten hiesigen, zum Hofe in naher Beziehung stehenden Häuser, welche jene Entdeckung teilten und nützten: Das gräflich Einsiedelsche und Vitzthumsche Haus, die Familien derer von Könneritz, des Grafen Bose und derer von Löwenstern, einer Familie Ungern-Sternberg und andere gehörten namentlich dahin, und vor allem habe ich dabei einer trefflichen, durch Herzensgüte und damals auch noch durch große Schönheit ausgezeichneten Frau zu gedenken, welche drei Dezennien hindurch bis zu ihrem Tode meinem Hause eine sehr treue und verehrte Freundin geblieben ist und schon zu jener[469] Zeit sich mir überall förderlich erzeigte. Es war die Gräfin Ernestine von Einsiedel, geborene von Warnsdorf und Gemahlin des königlichen Obermundschenk Grafen Heinrich von Einsiedel. In diesem Hause, dem neben manchen andern Gütern auch die Standesherrschaft Reibersdorf bei Zittau gehörte, war, wie in dem gräflich Bünauschen (wo einst Winckelmann als Bibliothekar lebte) und in dem des damaligen Oberhofmarschalls von Racknitz, noch aus früherer Zeit eine Neigung vorhanden, durch Bücher- und Kunstsammlungen zu glänzen, eine Neigung, welche späterhin unter dem sächsischen Adel mehr und mehr erloschen ist. Die Mutter des Grafen Heinrich hatte auf dem schönen Schlosse zu Reibersdorf eine reiche Bibliothek, vorzüglich aber jene prächtige Kupferstichsammlung gegründet, welche freilich später durch üble finanzielle Verhältnisse des ältern Sohnes Georg zerstreut werden mußte und aus welcher seltene Blätter in viele öffentliche und Privatsammlungen übergegangen sind. Ein gewisses Interesse für dergleichen war indes von hier aus doch dem Stamme eingeimpft geblieben und wirkte auch zum Teil noch späterhin in der Familie weiter, so daß denn selbst hierdurch die Berührungspunkte sich vermehrten, mittels welcher wir uns gegenseitig allmählich näherkamen. Noch mehr aber brachte mich vielleicht die Beziehung zu einem andern Hause recht unmittelbar in die elegantesten Gesellschaftskreise, zu einem Hause, welches in den Jahren 1825–29 in Dresden viel Aufsehen machte und so viel auf mich und in gewisser Beziehung auch für mich gewirkt hat, daß eine etwas nähere Erzählung davon hier wohl nicht umgangen werden dürfte. – Wer nämlich in jenen Jahren in Dresden lebte, wird sicher sich eines Barons von Malzahn erinnern, der zum Unterschiede von vielen dieses Namens der Rosenfarbene genannt wurde. Ein welterfahrener, im Reiten,[470] Jagen, Schießen und Spielen wohlgeübter schlanker Mann, in den Hauptstädten Europas viel verweilend und in London, wo er die Tochter eines reichen Brauherrn geheiratet, nun mit einem großen Vermögen ausgestattet, hatte er sich endlich in Dresden niedergelassen, und außer dieser seiner Frau lebte noch eine Schwester derselben, Miß Tomson, sowie die Witwe seines vor einigen Jahren schnell verstorbenen Bruders – ein besonders feines und angenehmes Wesen, in seinem Hause. Als ich das erstemal dort eintrat, fand ich mich in einem reichen Salon, eine lange, weißgekleidete Engländerin von schöner Bildung lehnte an einer Harfe; die Baronin, welche nächstens niederkommen sollte und welcher zunächst mein Besuch galt, empfing mich mit einer gewissen Feierlichkeit, während jene angenehme Witwe (man nannte sie vorzugsweise »die Schwägerin«), mit leichter Arbeit beschäftigt, fein und anmutig zu mir aufblickte, sich bald in das Gespräch mischte und nicht verfehlte, mich sogleich besonders zu interessieren. Von diesem Tage an wurde ich nach und nach zum täglichen Besucher; die Baronin gebar nicht lange darauf einen Knaben; etwas zu klagen hatte fast jedermann, ich speiste nicht selten dort, nahm an manchen Abendgesellschaften teil, sah den Zufluß der eleganten Welt, welche den Damen den Hof machte, lernte den Baron und manche seiner Abenteuer näher kennen und bewegte mich bald auf diesem glatten Parkett ziemlich mit eben der Leichtigkeit, die nicht selten das einzige Erbteil oder mindestens das einzige Geschick und Talent ist, welches viele von denen auszeichnet, für die schon durch die Geburt dieser Boden als alleinige Lebenslaufbahn angewiesen ist. Eben hier begab sich denn auch unter meinen Augen jene Wette, welche den Beinamen des Rosenfarbenen veranlaßte, indem der Baron sich vermessen hatte, einen vom Hut zum Schuh ganz[471] rosenfarbenen Anzug acht Tage unausgesetzt auf Markt und Straßen so zu tragen, daß demungeachtet kein Auflauf dadurch veranlaßt werden sollte, was er denn auch geschickt vollführte und allerdings so die Wette zu gewinnen wußte. Indem ich nun alle diese Dinge beobachtete, manche Nutzanwendungen daraus für mich ableitete und zuweilen wohl auch die sonderbarsten Gedanken darüber mir aufbaute, kam ich mir doch mitunter vor wie Faust, wenn Mephisto zu ihm sagt:


Mein Freund, das lerne wohl verstehen,

Das ist die Art mit Hexen umzugehen.


Daß ich bei alledem das Hohle und Frivole des Treibens einer nur sogenannten großen Welt, welche doch eigentlich klein und eng genug ist, schnell so weit überblicken konnte, um stets mit wahrer Lust in mein Haus und mein stilles Studierzimmer zurückzukehren, wird man mir wohl ohne weiteres glauben. Übrigens wurde ich nun auch eben auf diesem Felde jetzt wieder stark in Anspruch genommen! Meine »Gynäkologie« war in Österreich nachgedruckt worden, und eine neue vermehrte Auflage wurde dringend notwendig, zugleich stieg die Frequenz meiner Entbindungsanstalt so sehr, daß mir mehr und mehr der Wunsch auftauchte, von ihr, die doch wissenschaftlich jetzt wenig Neues mir darbot, endlich mich auch »entbinden« zu lassen; kurz, ich war oft so überhäuft, daß die wenigen einzelnen Stunden, wo aus Malerei und Musik Erfrischung und neue Kräftigung erwachsen konnten, mir immer mehr als ein besonders erwünschtes Geschenk erscheinen mußten. –

Ich hatte mit Goethe auch in diesem Jahre mannigfaltigen brieflichen Verkehr. Das zweite Heft meiner großen anatomischen Erläuterungstafeln war ihm übersendet worden, in welchem die Wirbelbildung, namentlich mit Hilfe[472] der aus Berlin zurückgebrachten osteologischen Zeichnungen, durch alle Tierklassen und alle Regionen des Tierlebens in vielen Beispielen verfolgt wurde, und ich freute mich jetzt, in seiner Antwort zu lesen: »Höchst erwünscht erschien mir Ihr zweites Heft, indem es eine wissenschaftliche Augensalbe enthält, die mich klarer und frischer in die Tierwelt hineinsehen macht, nachdem ich dieses Frühjahr und Sommer über veranlaßt worden, auf das ewige Bilden und Umbilden der Pflanzenwelt meine Aufmerksamkeit zu erneuen.« Er fügte noch bei: »Persönliche Gegenwart und eine freilich nicht vorübergehende Unterhaltung über diese Gegenstände würde mich schneller dahin führen, wohin zu gelangen ich kaum hoffen darf. Indessen geschieht ja das viele Gute, Treffliche, wenn ich es auch nicht in seinem ganzen Umfange mir zueignen kann.«

Leider ließ ich auch diese Aufforderung zu einem wiederholten Besuche in Weimar, als zu sehr eingesponnen in meine damaligen Arbeiten und Verhältnisse, unbeachtet und kam denn so nie wieder zu ihm.

Nicht minder ging mir jetzt, namentlich durch Tiecks Lesen, manches tiefere Verständnis über Shakespeare auf. Meine Betrachtungen über den innern Grundgedanken des »Lear«, wonach das ungeheure Schicksal desselben wesentlich aus der steten Übereilung dieses Geistes sich entwickelt, ließ Tieck zuerst in seinen »Dramaturgischen Blättern« abdrucken, indem er demselben seine eigenen Betrachtungen über Hamlet und das durchaus Retardierende und daher Unheilbringende dieses Charakters anfügte, während mir dagegen letzteres Stück bald darauf ebenfalls Veranlassung gab, über seinen tief geheimnisvollen und so ganz besonders organischen Gang wieder andere Bemerkungen aufzuzeichnen, denen später über »Macbeth«, »Heinrich IV.« usw. noch verschiedene Aufsätze[473] nachfolgten, welche hier und da wohl von Freunden nicht ohne Zustimmung gelesen worden sind, ihren größten Nutzen und tiefste Bedeutung aber doch eigentlich in ihrer subjektiven Seite fanden. Dies ungestörte und ungeteilte Abrollen solchen Stücks durch einen Mann wie Tieck, der so genaue Kenntnis mit so hochgebildetem Geiste vereint, wird mir für immer ein wichtiges und nachhaltiges Phänomen bleiben. Diese Heinriche sind nun doch auch an sich höchst wunderbare Werke! Keine irgend besondere und befangene leidenschaftliche Stimmung des Dichters läßt darin entfernt sich spüren, und immer nur fühlt man, über dem Ganzen schwebend, eine höchst freie, tüchtige, edle und sittlich schöne Seeleneigentümlichkeit, welche somit der eigentliche Lichtäther wird, durch welchen alle diese so gegenständlichen Farben bedingt werden. Ich habe Ähnliches wohl immer davon geahnt, nie aber war diese Art der Verklärung historischer Begebenheiten mir so deutlich erschienen, bevor ich solche Werke auf solche Weise vorgetragen gehört hatte!

Eine andere Begegnung ferner, welche wieder für meine künstlerische Tätigkeit nicht ohne Folgen blieb, war die mit dem russischen Staatsrat Joukowsky, dessen Bekanntschaft schon vor mehrern Monaten ich in einer Petersburger Familie gemacht hatte, welche zu meiner ärztlichen Klientel gehörte. Herr von Joukowsky, in Rußland als Gelehrter und Dichter, insbesondere auch als Übersetzer Schillers bekannt, war vom Kaiser Nikolaus zum Erzieher des jungen Kronprinzen Alexander bestimmt, und durch das Gemütvolle seines Wesens und seine vielseitige Bildung hatte hier alsbald eine nähere Berührung zwischen uns sich ebenfalls ergeben. Er besuchte mich darauf, sah meine Bilder, und vorzüglich eins, wo die drei Könige aus Morgenland in frühem Tagesgrauen dem geheimnisvollen[474] Sterne nachziehen, es wirkte so nachhaltig auf ihn, daß er mich ersuchte, ihm ein ähnliches zu malen, nur sollte hier im Vordergrunde eine einzige Jünglingsgestalt gesehen werden, welche dem heranbrechenden Tage mit Gottergebenheit und Vertrauen entgegenblickte. Das Bild sollte dem jungen Kronprinzen bestimmt sein und symbolisch ihm eine Andeutung seiner Zukunft aussprechen.

Dieser Antrag kam mir denn allerdings zuerst seltsam genug vor, und ich wollte mich anfänglich durchaus nicht dazu verstehen, vieles Ungenügenden meiner Arbeiten mir nur zu gut bewußt. Er ließ indes nicht ab, er legte eine Summe in Gold voraus, und ich mußte ihm denn versprechen, in einiger Zeit das Bild zu senden. Nach und nach erwärmte mich der Gegenstand. Umgeben von aufblühenden Lilien, zunächst vor einem Riff schroffer Felsen, und darüber hinausblickend auf eine weite, von erstehendem Tageslicht erleuchtete Ferne, trat die Gestalt des ritterlichen Jünglings, auf den Kreuzgriff seines Schwertes gestützt, allmählich dunkel und wirksam auf der Leinwand hervor; im ganzen erschien das Bild keineswegs unbedeutend, und im September war es denn so weit gediehen, daß ich es endlich wirklich fortsenden konnte.

Ja, das Bild sollte noch weiter wirken, denn er zeigte es in Berlin dem Kronprinzen von Preußen (nachmaligen König Friedrich Wilhelm IV.), und dieser gab darauf den Auftrag, für sich jene drei Magier mit dem Stern von mir zu akquirieren, und somit sah ich auch dies Bild bald von mir scheiden, hatte aber doch die Beruhigung, hierbei zu erfahren, daß auch diese meine geistigen Nebensprossen irgendeinmal und irgendwie zu einem Resultat und Endziel gediehen waren.

Im September war es denn endlich auch, daß zwei neue[475] glückliche Gestirne mir aufgingen, das eine, das leuchtendste, sollte 24 Jahre meines Lebens mit wunderbaren Strahlen mir verschonen, aber auch mit tiefstem Kummer mich und die Meinigen umnachten durch sein frühes Scheiden: es war die Geburt eines lieblichen Mägdeleins (am 11. September), welches wir Eugenia nannten; das andere war gegeben in der Berufung zum königlichen Leibarzte, wodurch eine wichtige Änderung aller meiner Verhältnisse, das Aufgeben der Professur und der Direktion der Entbindungsanstalt, dagegen die so nahe Beziehung zu einem alten, hochverehrten Königshause bedingt wurde, dem ich fortan alle die besten Früchte meines ärztlichen Wissens zu widmen verpflichtet sein sollte. Von dem ersten Gestirn, solange es zu unserer Freude über dem Horizonte stand, wird in den folgenden Blättern noch manchmal die Rede sein, von dem zweiten muß ich hier doch sagen, wie sehr sein Aufgang mich überraschte. Man hatte mir so viel von der strengen Etikette des Hofs und manchem Beschwerlichen im Dienste der Leibärzte erzählt, daß, so sehr ich auch gerade damals entschlossen war, nicht lange mehr meine Professur zu behalten, und so sehr ich auch den unerwarteten und ehrenvollen Beweis eines großen Vertrauens der höchsten Personen des königlichen Hauses zu schätzen wußte, doch anfangs zweifelte, ob ich wohl auch meinem innern Wesen nach allen diesen Anforderungen hinreichend zu entsprechen imstande sein werde. Indes nach einem langen Gespräch mit Kreysig, ihm, dem alle diese Hofverhältnisse aus langer Erfahrung bekannt waren, ja der zuletzt als vieljähriger Arzt des Ministers von Einsiedel wissen konnte, inwiefern die nächste Zeit manche Veränderungen herbeiführen werde und daß namentlich von dem strengen Zeremoniell und der steifen Etikette der vorigen Regierung manches schon nachgelassen sei, entschied ich mich für[476] die Annahme und darf wohl sagen, daß ich diesen Entschluß, auch nach Ablauf eines Vierteljahrhunderts, nicht zu bereuen Ursache gehabt habe.

Am 22. September wurde ich der königlichen Familie in Pillnitz vorgestellt, Kreysig hatte es eingerichtet, daß in einem Wagen er und seine Frau und ich und Francke hinausfuhren, und noch manche eigene Gedanken über Abhängigkeit und Freiheit regte es mir da an, als wir an der Gondel hielten und die sechs in gelb und blauer Fischerlivree gekleideten Ruderer uns hinüberbrachten, wo an der alten großen Treppe fast venetianischen Stils man hinaufsteigt zu dem sogenannten Wasserpalais, damals der Wohnung des Königs Anton und seines Bruders, des ebenfalls hochbejahrten Prinzen Max. Wir traten in das hübsche, später so lange Jahre von mir bewohnte Zimmer der Leibärzte, und ich und mein neuer Kollege, wir wurden dann durch Graf Vitzthum nach und nach zu sämtlichen Herrschaften geführt und ihnen vorgestellt. Noch lebte damals die Gemahlin des Königs, Königin Therese, eine feine und trotz ihres nur einen Auges doch wohl ziemlich klar sehende Frau. Der alte König selbst war einfach, humoristisch und herzlich; er hoffe, uns nicht viel zu tun zu geben, meinte er, und so waren alle unsere Präsentationen in etwa einer halben Stunde abgetan.

Dies ganze Pillnitz mit seinem damals noch sehr einförmig dekorierten Garten, die Stille, die überall herrschte, die meistens kleinen einfachen Zimmer, in welchen wir die fürstlichen Personen trafen, alles hatte mir einen eigenen Eindruck hinterlassen, und ich, der ich das erstemal in dergleichen eingeführt wurde, schrieb darüber an Regis: »Ein solcher Hof ist, wie sich manche die Sonne denken, äußerlich weithin leuchtend, innerlich dunkel und still.«[477]

So mußte ich denn nun vor allen Dingen Veranstaltung treffen, meine bisherige Dienstwohnung zu verlassen. Glücklicherweise fand sich ein geräumiges Lokal in einem Eckhause an der Moritzstraße und Landhausgasse, in welchem wir die zweite Etage bezogen, und freilich hatte ich nun statt der frühern reizenden Aussicht nach der Elbe nur einen Blick frei in den Hof des Landhauses, aber dafür hatte ich auch das Perpetuum mobile einer Entbindungsanstalt und nicht mehr am Hause, und die Plage, zum zwanzigsten und dreißigsten Mal die Anfangsgründe der Hebammenkunst vorzutragen, war von jetzt an von mir genommen, dafür aber meinem Nachfolger, Professor Haase aus Leipzig, einem etwas jüngern Koätaneus von mir, übergeben, was denn alles auch erfrischend und erhellend einwirkte.

Meine neue Stellung hatte nebenbei zur Folge, daß ich nun zugleich als Hof- und Medizinalrat in das damalige Kollegium der Landesregierung eintrat, welches unter Vorsitz des Kanzlers von Werthern, wie für die meisten übrigen Verwaltungszweige, so auch für die Medizinalangelegenheiten die höchste Behörde bildete. Gerade also dreizehn Jahre nach unserm Einzuge in Dresden, nämlich am 2. November, wurde ich hier eingeführt, und auch dies durfte ich jetzt als merkwürdig für mein inneres Leben betrachten, indem der Einblick in die innern organische Verhältnisse der Regierung eines Landes doch nie verfehlen wird, einem empfänglichen Geiste das Getriebe des Lebens der Menschheit im ganzen hier und da durchsichtiger zu machen und ihm zu lehren, das Große im Kleinen sowie die Wirkung des Kleinen auf das Große überall genügender zu verstehen und zu erfahren.

1

Teils in meiner Schrift »Goethe, zu dessen näherm Verständnis«, teils von ihm selbst in den »Naturwissenschaftlichen Heften« früher mitgeteilt.

2

Vater des jüngern Professors Eduard D'Alton in Halle, meines getreuen Mitarbeiters an den spätern Heften der großen Erläuterungstafeln für vergleichende Anatomie. Der Vater hatte sich durch seine trefflich gezeichnete Anatomie des Pferdes, seine Skelettafeln der Pachydermen und Raubtiere usw. berühmt gemacht.

3

Stehen im Prolog Schillers zu »Wallensteins Lager«. (Anmerkung des Herausgebers.)

Quelle:
Carus, Carl Gustav: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. 2 Bände, 1. Band. Weima 1966, S. 459-478.
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Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

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Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

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