[536] In den November fällt denn noch ein Ereignis, das für die Gestaltung unsers fernern Lebens so wichtig geblieben ist, wie es eben irgend die äußere Form für das innere Wesen nur werden kann: es war der Ankauf der hübschen gartenumgebenen Villa aus dem Nachlaß der Familie Globig in der östlichen Vorstadt Dresdens. Dies Haus war damals in einem sehr verwilderten Zustande. Der letzte Besitzer und Bewohner, Präsident von Globig, war längere Zeit schon erblindet gewesen, nur obenhin waren selbst die durch einige bei der Dresdener Schlacht hier hereingeworfenen Kanonenkugeln verursachten Zerstörungen ausgebessert[536] worden, ein Seitenflügel war überhaupt noch gar nicht heraufgebaut gewesen, und ein Spekulant, der die Gesamtbesitzung vor mir kaufte und große Gartenflächen davon abtrennte, hatte noch weniger an Wiederherstellung gedacht, sondern war nur auf baldigsten Wiederverkauf mit Gewinn bedacht gewesen. Bei alledem fand ich mich überrascht von dem innern Baustil, namentlich von der Anlage der Treppe, ja noch mehr davon, daß an der Gartenseite über der schönen Bogentür zu den in den Garten führenden Stufen den übrigen in Stukko ausgeführten Attributen der Künste auch eine große aufgesetzte Palette beigegeben erschien, über welche die Schlange der Hygieia sich hervorringelte, so daß es wirklich ganz wie eine Hindeutung auf meine eigenen Bestrebungen aussah. Mir selbst jedoch in solchen Kaufangelegenheiten weniger vertrauend, holte ich erst den Rat der Freunde ein und gedenke noch mit Rührung, daß, sowie die Familie von Einsiedel, auch der treffliche von Lindenau selbst die Güte hatte, alles durchzusehen und mich mit Rat und Beistimmung zu unterstützen. Das Haus ist unmittelbar nach dem Siebenjährigen Kriege und auf dem Grunde von Brandstätten, als welche jener Krieg den größten Teil der Pirnaischen Vorstadt zurückgelassen hatte, im Jahre 1764 durch Frau von Schönberg, Gemahlin jenes Herrn von Schönberg, erbaut worden, welcher den sächsischen Hof zum letztenmal als Minister bei der noch von Goethe beschriebenen Kaiserkrönung Josephs II. in Frankfurt a.M. repräsentierte. Vor dieser Ehe war genannte Frau von Schönberg mit einem Grafen Bünau verheiratet, und ein Sohn aus dieser Ehe verband sich nun mit einer Gräfin Cosel, einer Enkelin jener Cosel, welche auf Stolpen endigte, aus welcher Ehe denn vier Töchter erwuchsen, deren älteste, eine vermählte Frau von Globig, dies Haus von ihrer Stiefmutter späterhin erbte.[537]
Ich erfahre übrigens als Beitrag zur Geschichte jener Zeit noch, daß Frau von Schönberg, die Erbauerin des Hauses, nach dem Tode auch ihres zweiten Gemahls geraume Zeit hindurch diese Besitzung bewohnend, häufig hier große Gesellschaften im Garten und Gartensalon veranstaltete und wie anders damals denn all dergleichen noch eingerichtet zu sein pflegte. Indem es nämlich Brauch war, sehr zeitig zu Mittag zu speisen (in früherer Zeit war die Mittagstafel selbst des Hofes schon früh 10 Uhr), so begannen dagegen die Abendgesellschaften bereits um 5 Uhr nachmittags, allwo denn die Gäste sich an kleinen Tischen im Garten oder Salon verteilten, meistens spielten und dann ziemlich einfach soupierten. Mitunter wurde auch wohl musiziert oder eine kleine Komödie aufgeführt. Noch hängt in unserm obern Salon das Porträt dieser Dame vom Hause, eine Kopie eines alten Familienbildes, welche wir der kunstgeübten Hand einer später uns so lieb und wert gewordenen Freundin, Ida von Lüttichau, verdanken, und manchmal haben wir wohl bei dem Blick auf dies vorhundertjährige Kostüm und eigenen kapriziösen, altaristokratischen Ausdruck dieses Gesichts unsere Betrachtungen gehabt über eine so ganz vorübergegangene Zeit. Scheint es doch zuweilen, als müßte selbst das Klima im vorigen Jahrhundert noch ein anderes gewesen sein, denn den großen Salon, worin auch damals die Gesellschaft zusammenkam und längere Zeit weilte, fand ich noch mit Steinplatten gepflastert, wie es jetzt etwa nur in Italien gut ertragen zu werden pflegt und selbst für kalte Sommerabende sich bei uns nicht mehr eignen will: Außerdem war dieser Raum für kältere Jahreszeit kaum mit einem kleinen Kamin versehen, während wir ihn jetzt in solchen Tagen, nachdem er durch hölzerne Fußboden geschützt ist und wohl noch mit Teppichen reichlich belegt wird, mittels viel kräftiger Heizung kaum hinreichend zu erwärmen[538] vermögen. – So verging denn also jener Winter im Bauen, Ausmessen, Einteilen, Einrichten, Ausschmücken des Hauses, im Ordnen eines neuen Planes für den Garten, Aufrichten eines Weinlaubenganges und allerhand dergleichen Vorkehrungen, in denen der Mensch seinem flüchtigen Dasein irgendwie einen Reiz, eine Beschwichtigung oder heitere Erleichterung zu geben gedenkt und mitunter wirklich gibt.
Endlich mit dem Frühlingsanfange und nachdem ich noch kurz vorher die zweite Ausgabe der »Vergleichenden Anatomie« völlig beendigt hatte, bezogen wir jetzt das neue oder vielmehr erneute Haus und gefielen uns darin ebensowohl, wie es den Freunden da gefiel, unter welchen namentlich Tieck mir in seiner humoristischen Weise erklärte, er habe bereits einen Plan entworfen, mich aus dem Posseß zu treiben, worauf ich ihm freilich mit Wallenstein antwortete: »Mit Kettenkugeln will ich Sie empfangen!« Dabei gab es übrigens immer auch des Schweren, ja des Bedenklichen manches! Unter vielen Kranken machte einer mir besondere Sorge, und das war Prinz Friedrich, dessen trübe, quälende Gemütsstimmung von körperlichen Leiden bedingt wurde, gegen welche, wie sich immer deutlicher herausstellte, nur eine durchgreifende Brunnen- und Badekur wirksame Hilfe versprach. Eine Kur im Marienbad wurde endlich genehmigt und festgesetzt, daß ich mit Anfang Juni ihn dahin begleiten oder vielmehr dorthin ihm bald nachfolgen sollte, was denn nun wieder meinerseits mancherlei Vorkehrungen und Einrichtungen erforderte, auf die ich im Winter noch nicht gefaßt war, und namentlich die Arbeit an meinen »Briefen über das Erdleben«, die ich jetzt ernstlich zu fördern gedacht hatte, wieder ganz unterbrach. Da war es denn gut, daß bei alledem der Segen der Kunst und Literatur nicht verfehlte, Sinn und Geist frisch zu halten und[539] zu dem Schatten auch das nötige Licht in das Lebensbild zu bringen! Es gehörte zunächst dahin mehreres, was der jetzt wieder recht kräftig auflebende von Stackelberg an interessanten Anschauungen uns zuführte. So war zum Beispiel eben aus Rom die zierliche Amazone angekommen, welche er bei Salamis aufgefunden und dann in Thorwaldsens Atelier mit nötigen Restaurationen und einem nach seinem System farbiger Architektur verzierten Sockel hatte versehen lassen, und alles erfreute sich an dem reizenden Werke, welches gegenwärtig in der Dresdener Antikengalerie sich aufgestellt findet. Ebenso kam ein bedeutendes Werk von Everdingen, der große Wasserfall, den man jetzt in der hiesigen königlichen Bildergalerie sieht, zur Ausstellung. Er stammte zunächst aus Weimar, wo er sich im Besitz der Frau von Heygendorf befunden hatte, und gab mir hier Veranlassung durch seine eigene große, man darf sagen historische Naturbehandlung, einen Aufsatz darüber zu schreiben, welcher in der zweiten Auflage meiner »Briefe über Landschaftsmalerei« abgedruckt worden ist.
Im Dramatischen endlich war eben die neue Übersetzung des »Macbeth« durch Dorothea Tieck beendet worden, und wir hörten eine vortreffliche Lesung derselben durch Tieck selbst, sowie auf der Bühne der kleine Master Burton, einer von den dramatischen Wunderkindern Englands oder den »jungen Nestlingen«, wie sie Hamlet nennt, uns einige Rollen aus Shakespeare – namentlich den Juden im »Kaufmann von Venedig« – vorführte und dadurch eben nur die erste entfernte Ahnung gewährte von dem sonderbaren typischen Charakter der englischen Bühne überhaupt.
So war denn der Anfang des Juni herangekommen, der Prinz-Mitregent nebst Gemahlin und Gefolge gingen nach Marienbad ab, und am 6. Juni reiste ich ihnen nach,[540] meine Charlotte mit mir nehmend, um die langen Tage des Badelebens mir nicht zu lang werden zu lassen. Ich finde noch unter alten Heften eine Art von Tagebuch jener Zeit – nach Ovids Vorgange »Tristia« überschrieben (denn durch so vieles an Dresden gefesselt, mußte ich mir dort wohl eigentlich immer etwas wie in Verbannung lebend vorkommen) –, kann jedoch jetzt nur hie und da einiges davon mitteilen, da vieles davon zu individuell bleibt, um ein allgemeineres Interesse in Anspruch nehmen zu dürfen.
Tristia
(Auszug)
Der erste Tag führte uns bei heiterm Wetter nach Annaberg. Von Tharandt den Berg hinauf wanderte Goethes Enkel, den ich schon in Dresden gesehen, mit seinem Mentor rüstig gen Freiberg hinaus. Möge etwas von dem Einflusse, den das Geheimnisvolle alles Bergwesens immer auf den Großvater gehabt hatte, auch ihm zugute kommen! Weiterhin beschäftigten mich die eigenen Physiognomien der Bergleute. Meist kluge, stille und in sich zusammengefaßte Gesichter! Ist es doch merkwürdig, wie selbst gemeine Naturen durch eine gleichmäßige, nicht ohne Gefahr geübte und auf wissenschaftlicher Basis ruhende Tätigkeit sich zu veredeln pflegen! Ihr Wesen stimmt recht zu dem Eindrucke der öden und dabei innerlich reichen Freiberger Gegend, mit ihren Halden, ihren grauen, spitz gebauten Pferdegöpeln und alten Schmelzwerken! Wir machten noch abends einen Spaziergang um das reinliche Annaberg und weilten mit Interesse auf dem Kirchhofe am Dresdener Tore am Leichensteine jener Barbara Uttmann, der Erfinderin des Spitzenklöppelns, welche im 16. Jahrhundert hier verstarb. Auch steht da eine alte Linde, eine Art Heiligtum der Stadt; denn vor ein[541] paar hundert Jahren wurde sie von einem eifernden Geistlichen als Symbol der Auferstehung umgekehrt mit der Krone in die Erde gesetzt, so daß nun Pfahl- und Nebenwurzeln sich zu Zweigen entwickeln mußten; denn so sollten sie beweisen, daß ein einmal wahrhaft Lebenskräftiges auch unter den sonst zerstörendsten Einflüssen doch sein eigenstes Wesen zu erhalten die Kraft habe; und wirklich wurden hier die Wurzeln zu Ästen, ihren frühesten Typus übrigens immer noch deutlich genug verratend. Grau und eintönig hoben sich jetzt einzelne Häuser, zumeist aber die alte hohe Kirche, über die verfallende Stadtmauer herauf, und ein spätes Abendrot schimmerte unter ziehendem Gewölk friedlich über der einsamen Landschaft.
Am andern Tage im nebeligen Morgen über den Kamm des Erzgebirges, am Fichtelberg vorüber und durch das arme graue Joachimsthal hinaus nach dem lustigen Karlsbald, wo die verschiedensten Physiognomien der Menschen wie des Baustils sich begegnen! Wir speisten an reich besetzter Wirtstafel im »Paradiese«, und wirklich war die mannigfaltigste, wenn auch nicht immer ganz paradiesische Gemeinde da zusammengekommen! Dann ein Gang zum Sprudel, diesem wunderbaren Phänomen, an welchem man nun schon so lange herumerklärt, fast wie an einem Genie! Von beiden hat ja doch eigentlich noch niemand recht sagen können, wie sie eigentlich begründet werden und zustande kommen! Abends dann über Petschau und Einsiedeln nach Marienbad, wo wir dicht neben dem Königswarter Hause, der Wohnung unsers Prinzen, eben da uns ein bequemes Quartier bereitet finden, wo ich bei meinem ersten Besuch dieses Ortes die Arbeitsleute noch mit Ausrodung des Waldes beschäftigt sah.
Von besondern Persönlichkeiten, die mir in diesen Tagen begegneten, will ich zunächst bei Streckfuß, dem Übersetzer[542] des Dante, und bei Sulpiz Boisserée etwas näher verweilen. Es gibt Menschen, welche, ohne selbst irgendwie sehr bedeutend zu sein, doch entschieden anregend auf uns wirken und merkwürdig geeignet sind, oft wahrhaft bedeutende Gedanken in uns zu entbinden, und wieder andere sind, vor denen, ohne daß wir ihnen gerade eine unmittelbar feindliche, gehässige oder durchaus geringe Natur zuschreiben müßten, unser Inneres sich gewissermaßen zuschließt, vor denen kein frischer, freier Gedanke uns aufgeht und welche nicht selten eine geradezu lähmende hemmende Einwirkung auf uns üben; wobei übrigens seltsamerweise zuweilen eine solche Wirkung sogar uns von Menschen kommen kann, denen wir außerdem ganz gern einen Blick in den innern Reichtum unsers Lebens vergönnt hätten. Es gehört dergleichen zu den merkwürdigsten Offenbarungen jener verwickelten magnetischen Verhältnisse und vielfachen geheimen Anziehungen und Abstoßungen des innern Lebens der Menschheit, wie sie nur irgend dem tiefern Beobachter klar werden! Boisserée ist eine Natur der erstern Art! Ruhig und mehr behaglich als geistreich in seinem Wesen, hatte er doch offenbar etwas eigentümlich Anregendes, und ich verstand von nun an besser, warum Goethe einst näher mit ihm sich befreunden konnte.
Eine dritte interessante Begegnung war mir Graf Kaspar von Sternberg, auch einer der noch überlebenden Freunde Goethes, der dem Prinzen hier einen Besuch abstattete und den ich am 15. Juni an der Tafel desselben antraf. Wieder hatte ich an ihm der Erscheinung eines im höhern Alter noch frisch und aufrecht sich haltenden Geistes mich zu erfreuen! Er brachte allerhand Neues mit aus den Steinkohlenlagern Böhmens; Zeichnungen ihrer vorweltlichen Gewächse mit wunderbaren Formen von Stämmen, Blättern und Früchten, noch ungekannte Gestalten eines[543] zu der Familie der Trilobiten gehörigen Tieres jener uralten Sümpfe und Seen; kurz, die Mitteilungen, die er machte, waren ebenso anziehend als die Persönlichkeit des Mitteilenden selbst.
Sodann habe ich doch auch noch einer für den Prinzen arrangierten Fahrt nach Königswart, der Besitzung des Fürsten Metternich, zu gedenken, wohin auch mein Töchterchen uns begleitete, die ich somit dort als »Lottchen am Hofe« scherzend begrüßen konnte. Die Gebäude des Schlosses sind klein, und die Zimmer nichts weniger als glänzend eingerichtet; dafür war mir das Verhältnis des Ganzen zu dem weiterhin gelegenen Städtchen Königswart und besonders zu der oberhalb desselben gelegenen alten, mit Bäumen durchwachsenen Burgruine deshalb sehr merkwürdig, weil ich nicht umhin konnte, durch all diese Örtlichkeiten ganz entschieden an die der berühmten Goetheschen »Novelle« erinnert zu werden. War denn nicht Goethe so oft in Marienbad? Muß ihm nicht auch diese Szenerie genau bekannt gewesen sein? Und kann man wohl die angelegten Gänge in der Ruine und die hoch darüber sich wölbenden Bäume umwandeln, ohne des Ortes zu gedenken, wo der Löwe von dem wunderbaren Kinde besänftigt wird? – Die Gesellschaft speiste in dem fürstlichen Saale des Schlosses und sah nach der Tafel jene unter Obhut des ehemaligen Scharfrichters von Eger stehende, ja großenteils von diesem geschaffene Kuriositätensammlung durch, deren in den Briefen aus Goethes Badeleben oft genug Erwähnung geschieht.
Auf dem Rückwege nach Marienbad leuchtete uns dann noch ein schönes Abendlicht durch die tiefdunkeln Massen der dichten Nadelwaldung!
Während alledem schritt nun die Kur unsers hohen Kranken sehr regelmäßig vor, sein Befinden war von Tag zu Tag besser, und so wurde es denn mir möglich, zunächst[544] auf kurze Zeit wieder nach Dresden zurückzukehren, wohin allerdings die dringenden Wünsche so mancher Kranken mich riefen. Seltsam unvergeßlich war mir indes der Morgen dieser Fahrt des letzten Tages! Gibt es doch so eigene halb prophetische, halb träumerisch-hellsehende Stimmungen, die den Menschen in einzelnen vorzüglich stillen Augenblicken heimsuchen und dann mehr oder weniger klar für immer ein gewisses phosphorisches Leuchten in der Seele zurücklassen. Dieser Morgen war ein solcher! Es war auf dem Wege hinter Annaberg, da, wo die schön begrünten Hügel vor Wolkenstein sich erheben, als mich die sonderbarste Regung befiel! Wie ich so ruhig in schöner Morgensonne auf die blühenden Wiesenblumen und schwärmenden Insekten blickte, so klar den Gesang der Vögel und das Rauschen der Luft in den jungen Blättern vernahm, da kam es mir vor, als sei jetzt mit einem Male die Natur mir ganz durchsichtig geworden; ich gedachte des Geheimnisses der Metamorphose der Pflanzen und ihrer Spiraltendenz; die bewundernswerte, nie ganz zu ergründende Eigentümlichkeit ihrer innern Struktur und all ihre wunderbaren Zahlenverhältnisse traten mir vor das Bewußtsein; die bedeutungsvollen Bildungsverhältnisse ihrer Blätter und Blüten, die unzähligen merkwürdigen Organisationen der von ihnen genährten Insekten, die feinen Gebilde, welche das Luftleben und die Stimmen der Vögel bedingen. – Es war ein eigentümlicher, durchaus seliger Zustand! Kurz; wie alles höhere Glück dieses Daseins. –
Schnell vergingen in Dresden acht Tage unter den Meinigen und unter meinen Kranken, und schon der 29. Juni fand mich wieder auf meinem Posten in Marienbad, wo indes die Kur des Prinzen sich auch ihrem Ende zuneigte. Diesmal hatte mich Mariane begleitet, und wir wählten zur Abwechslung den Weg über Teplitz, um mich wieder[545] einmal an der großartigen Aussicht von der Nollendorfer Höhe zu erfreuen. Das Wahrnehmen der schon so rasch zunehmenden Kultur in der Nähe all dieser Straßen – der Vorläufer des spätern Eisenbahn-Zeitalters – brachte mich zu der nachstehenden Einzeichnung in die Schreibtafel, welche in ihrer Gültigkeit vielleicht jetzt sogar noch angemessener erscheinen möchte als damals:
»Sehen wir in all dergleichen, wie der Mensch die Elemente des Erdlebens mehr und mehr zu bewältigen trachtet, wie er überall das Rauhe zu glätten, das Unbestimmte zu begrenzen, das üppigst Bewachsene zu lichten und das Öde zu bepflanzen bemüht ist, so werden wir dabei nie verkennen können, wie ihm nichtsdestoweniger in alledem und nach allen Seiten hin noch so unendliche und unermeßliche Aufgaben übrigbleiben, daß zuletzt immer wieder, er habe getan, was er wolle, noch die Unendlichkeit eines noch weiter zu Tuenden vor ihm steht. Ist doch im Geistigen wie im Sinnlichen das das Außerordentliche und Geheimnisvolle unsers Daseins, daß wir, indem allerdings jeder bei der Unendlichkeit des Weltganzen als dessen besonderer Mittelpunkt sich empfinden darf, doch überall von Elementen für die Ausbildung unserer Kräfte umgeben sind, welche, während wir sie scheinbar mit großer Leichtigkeit in unserer Nähe bewältigen, andererseits wieder in so ungeheuere Fernen sich ausdehnen, daß sofort alles, was wir etwa daran zu bilden und zu ändern vermochten, hiergegen gehalten, sogleich wieder in ein wahres Nichts zu zerfallen scheint. Fühlen wir dann aber unsere Wirksamkeit zuletzt wirklich in solchem Grade reduziert und gewissermaßen vernichtet, so drängt uns dies jedenfalls zuletzt zu der Überzeugung, nicht sowohl unser Tun selbst als vielmehr unser Streben und die in diesem Streben erreichte Entwicklung der Monas in unserm Innern sei eigentlich das, worauf es ankomme, und bleibe[546] denn auch der eigentliche und unvergängliche Gewinn dieses Daseins.«
In Teplitz verfehlten wir damals nicht, eine Stunde des schönen Abends im Park unter den prachtvollen Eschen und Weiden, die dort um breite Wasserflächen hangen, uns zu ergehen; dann aber erquickte ich meine von Staub und Hitze gequälten Glieder in einer der zierlichen Badezellen des Fürstenbades. Sind dies doch die wahren Bäder im Sinne der Alten! Diese schönen abgestuften Bassins, mit rötlichen und weißen Fliesen belegt, von den kristallreinen Wellen dieser meergrünen, angenehm warmen vulkanischen Gewässer erfüllt! Viele Kranke schon hatte ich hergesendet und badete jetzt selbst zum erstenmal hier! Es war mir wunderbar zumute! Das eigene Gefühl, von dem Zentralfeuer des Planeten unmittelbar auf so milde erquickende Weise erwärmt zu werden, belebte mich sonderbar!
Du Geist der Erde bist mir näher!
rief ich mit »Faust« und senkte mich tiefer in die klaren Wellen.
In Karlsbad sah ich mich wieder von mancherlei Kranken in Anspruch genommen, und endlich fand sich auch mein Töchterchen wieder zu mir, mit welcher ein gemeinsamer Spaziergang dann noch den Tag beschloß. In Wahrheit! An solch herrlichem Sommerabend dies bunte Gewühl verschiedenartigster Menschen, diese ganze lustige Örtlichkeit, die ausgelegten Schätze der Kaufleute, die überall hereinsehenden hohen, üppig belaubten Bergwände, der durchziehende Fluß und die mancherlei hier und da aus dem Stegreife sich ergebenden Festlichkeiten; es vermag wohl in die heiterste Stimmung zu versetzen! Wir gingen über die sogenannte Wiese, welche eben alles andere eher ist als eine Wiese, und stiegen dann den Berg gegen »Marianens Ruhe« hinan. Hier schallte nun der[547] Lärm von Bereitern und Gymnasten, dort flog eine aerostatische Figur mit zwei kleinen Ballons in die Luft, und drüben lagerten bunte Menschengruppen auf den wahren Bergwiesen, während von überallher Musik tönte – man glaubte sich kaum mehr in einem Lande des halben Nordens! Von da nun hinauf, unter tüchtig gewachsenen Kiefern und Buchen, an den schönen, mit großen Feldspatkristallen gezierten Granitfelsen vorbei zu jener umwaldeten Felsspitze, welche, nach alter Sage von Entdeckung des Bades, mit dem Namen des Hirschensprunges bezeichnet wird; und hier war denn die Umsicht wirklich die reizendste! Westwärts, im Lichte der untergehenden Sonne, das weite Egertal mit der großartigen Kette des Erzgebirges; ostwärts aber und zu unsern Füßen das enge Tal der Tepel mit seiner reichen Vegetation; und südwärts endlich, über dunkeln Tannenbergen, eine prächtige, hellerleuchtete Gewitterwolke, ruhig hingelagert: »come il lion quando si posa!« –
Zurückgekehrt stiegen wir nach leichtem Souper um 9 Uhr zu Wagen und fuhren bei sinkender Nacht und milder Sommerluft gegen die Höhen des Erzgebirges hinan. Nach und nach wird es dunkel, Gewittergewölk erhebt sich von mehrern Seiten, es leuchtet, und ein aufgeregter Luftstrom verkündet »geschäftige Bewegung am Himmel«. So gelangen wir nach Joachimsthal, wo wir Pferde wechseln und genau in der Mitternachtsstunde wieder abgehen. Es gab nun eine eigene Fahrt so in diese weitschichtigen Berge hinein. Blitze umleuchteten uns; dann wieder alles so dunkel, daß der neben den Pferden wandernde Postillion kaum den Weg sah, dabei Rauschen der Tannenwälder, aber kein Sturm; der Donner nur selten als fernes Rollen hörbar. Immer fester zieht sich jetzt die Wolkendecke des Himmels zusammen, und als wir endlich zwischen 1 und 2 Uhr bei dem auf der äußersten[548] Höhe gelegenen Zollhause ankommen, gießt der Regen so in Strömen herunter, daß selbst die mühsam angezündeten Wagenlaternen auszulöschen drohen. Endlich Ruhe! Im Hinabfahren bricht die erste Morgendämmerung durch die Wolken, und von da an nun der indifferente Weg nach Annaberg und so fort bis Dresden.
Das Einförmige letztern langen Weges ließ ich mir einige Stunden hindurch mit Vorlesen aus »Wilhelm Meister« verkürzen und fühlte mich doch immer wieder von neuer Bewunderung dieses seit einer Reihe von Jahren nicht angesehenen Werkes tief durchdrungen. Muß man auch da nicht immer wieder ausrufen:
O Glück der Jugend! O goldner Stern!
Welch andere Frischheit der Darstellung hier, selbst gegen das außerordentlichste der spätern Sachen und namentlich gegen jenes sonst so tiefsinnige Bild der »Wahlverwandtschaften«!
Buchempfehlung
Der Waldbrunnen »Ich habe zu zwei verschiedenen Malen ein Menschenbild gesehen, von dem ich jedes Mal glaubte, es sei das schönste, was es auf Erden gibt«, beginnt der Erzähler. Das erste Male war es seine Frau, beim zweiten Mal ein hübsches 17-jähriges Romamädchen auf einer Reise. Dann kommt aber alles ganz anders. Der Kuß von Sentze Rupert empfindet die ihm von seinem Vater als Frau vorgeschlagene Hiltiburg als kalt und hochmütig und verweigert die Eheschließung. Am Vorabend seines darauffolgenden Abschieds in den Krieg küsst ihn in der Dunkelheit eine Unbekannte, die er nicht vergessen kann. Wer ist die Schöne? Wird er sie wiedersehen?
58 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro