[171] Am dreißigsten Oktober 1803 reiste ich von Ludwigsburg ab, begleitet von meiner Frau, welche in der Absicht mit mir reiste, die mir angewiesene freie Wohnung in Würzburg anzusehen und zur Einrichtung derselben die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen. Schon am frühen Morgen fuhren wir von Ludwigsburg ab, um bald nach Heilbronn zu kommen, wo wir Mittag halten und ich noch ein paar Stunden mit meinem Freund Gmelin zubringen wollte. Wir kamen zur rechten Zeit an, stiegen im Gasthof »Zur Sonne« ab, und ich begab mich mit meiner Frau noch vor Tisch zu Gmelin. Er empfing uns auf das freundlichste, ebenso seine Frau. Gmelin und ich hatten viel miteinander zu sprechen. Er freute sich meiner neuen Laufbahn, wünschte mir herzlich Glück zu derselben, und mit Wehmut schieden wir voneinander. Gleich nach Tisch fuhren wir von Heilbronn weg, um noch bei guter Zeit nach Neustadt an der großen Linde zu kommen, wo wir übernachten wollten. Der Oberamtmann in Neustadt Gol und seine Frau, eine Tochter des Bürgermeisters und meines Freundes Bunz in Ludwigsburg, hatten uns eingeladen, das Nachtquartier bei ihnen zu nehmen, und unsere freundschaftlichen Verhältnisse mit der Familie hatten uns bewogen, die Einladung anzunehmen. Als wir in Neustadt ankamen, war es bereits Abend geworden. Alles war zu unserer Nachtherberge bereitet, und bei dem Abendessen unterhielten wir uns auf das angenehmste mit unsern Freunden. Da wir am andern Morgen früh wieder abreisen wollten, so begaben wir uns bald zu Bette. Aber ich war noch nicht eingeschlafen, so kam ein Eilbote von Ludwigsburg an, der mir einen gleich nach meiner Abreise daselbst eingetroffenen Brief von dem Grafen von Thürheim überbrachte, aus welchem ich vernahm, daß das mir zugedachte[172] Logis in Würzburg noch nicht geräumt sei und daß ich mich einstweilen in einem Gasthof werde einquartieren müssen. Solchem nach hatte nun die Mitreise meiner Frau keinen Zweck mehr, und es ist leicht zu erachten, daß sie dieses Hindernis für ein böses Omen hielt. Nur mit schwerem Herzen konnte sie ihr Vaterland verlassen, und dieser Umstand war keineswegs geeignet, ihr die Aussicht, in einem fremden Lande zu leben, erfreulich zu machen. Indessen beruhigte sie sich, weil sie mich heiter sah, und wie hätte ich auch über jene Nachricht verdrießlich sein sollen, da ich wußte, daß mein Freund Thürheim mir meinen künftigen Aufenthalt in Würzburg auf alle Weise angenehm zu machen suchen würde. Es wurde also ausgemacht, daß meine Frau wieder nach Ludwigsburg zurückreisen und ich meine Reise nach Würzburg allein fortsetzen sollte. Wir fuhren zu gleicher Zeit von Neustadt ab, sie zurück nach Ludwigsburg, ich vorwärts nach Würzburg. In Mergentheim wollte ich mein Nachtquartier nehmen, und ich kam daselbst früh genug an, um noch das schöne Schloß und den schönen Garten des Deutschmeisters sowie das Städtchen selbst zu besehen.
Auf dem Wege von Mergentheim nach Würzburg hielt ich Mittag in dem Dorf Großrinderfeld, wo ich zwei Studenten von Würzburg antraf, welche eben im Begriff waren, dahin zurückzukehren. Das Wetter war stürmisch und regnerisch, und weil ich ganz allein war, so bot ich den Studenten Platz in meinem Wagen an. Sie nahmen das Anerbieten an, und weil mich nichts mehr interessierte, als etwas von Würzburg zu hören, so leitete ich alsbald darauf das Gespräch. Die Studenten waren Juristen und konnten mir daher weniger über die medizinische Fakultät sagen. Sie sprachen über den Zustand der Universität bloß im allgemeinen, sagten mir, daß die bayerische Regierung große Veränderungen mit derselben vorhabe, daß sie dieselbe zu einer der ersten Universitäten Deutschlands erheben wolle, daß auch eine Fakultät für die protestantische Religion errichtet werden solle und daß bereits mehrere Gelehrte aus dem Ausland berufen worden seien. Als solche nannten sie Hufeland für die juridische, Paulus für die theologische[173] und Schelling für die philosophische Fakultät. Auch für die medizinische Fakultät, fuhren sie fort, sei ein Ausländer gerufen worden, aber sie wissen nicht, woher und wie er heiße. Begreiflich sagte ich ihnen nicht, daß ich dieser Ausländer sei, und sie ahneten auch nicht, daß ich einer von den berufenen fremden Professoren sei. So kam ich, von ihnen unerkannt, abends in Würzburg an, und als ich sie beim Abschied fragte, in welchem Gasthof sie mir auszusteigen rieten, nannten sie mir den Gasthof »Zum Kleebaum«, und ich folgte ihrem Rat um so lieber, da mir auch der Postillion diesen Gasthof vor andern empfohlen hatte.
So stieg ich also in dem Gasthof »Zum Kleebaum« ab und ließ mir, um ungestört arbeiten zu können, ein nach dem Hof gelegenes Zimmer anweisen, in welchem ich mich ganz wohl befand. Gewöhnlich speiste ich an der table d'hôte und machte da allerlei interessante Bekanntschaften, namentlich mit zwei Brüdern von Zobel, beide geistlichen Standes, aber sehr verschieden voneinander, der eine ein feiner, eleganter Mann, der andere ohne Façon und ein großer Esser. Das Essen im Gasthof war gut, noch besser der Wein, doch war er mir, da ich den schwächern Neckarwein gewohnt war, zu stark, und ich durfte daher nur wenig trinken. Ebenso ging es mir auch mit dem gesalzenen Weizenbrot, da ich das ungesalzene Dinkelbrot gewöhnt war. Übrigens dauerte mein Aufenthalt in dem Gasthof nicht lange. Das adelige Seminarium, in welchem ich die mir zugedachte freie Wohnung erhalten sollte, war aufgehoben, das Haus wurde geräumt, die Einrichtung desselben für mich, Paulus und Schelling war angeordnet und die Anordnung bald so weit vollzogen, daß wir unsere Wohnungen beziehen konnten.
Es versteht sich von selbst, daß ich gleich nach meiner Ankunft in Würzburg Besuche bei den Professoren machte, mit welchen ich in der Folge zusammenleben sollte. Außer Siebold, dem Vater, kannte ich keinen, weder seine zwei Söhne, von welchem der ältere Professor der Chirurgie, der jüngere Professor der Geburtshülfe war, noch einen andern der Professoren von der Fakultät. Den alten Siebold besuchte ich zuerst.[174] Mit Vergnügen erinnerte er sich unserer frühern Bekanntschaft, freute sich, daß wir nunmehr Kollegen seien, und seine erste Frage an mich war, ob ich die vielen Stelzfüße gesehen hätte, die in Würzburg zu sehen seien zum Beweis, wie sehr die Chirurgie in Würzburg blühe. Wie von Siebold wurde ich auch von seinen beiden Söhnen wie überhaupt von allen Professoren der Fakultät, Döllinger, Pickel, Heilmann und Thomann, freundlich empfangen, nur der letztere schien etwas verlegen, ohne Zweifel, weil er der einzige war, der an mir einen Rival vermuten konnte.
Bald nach mir waren auch Paulus und Schelling in Würzburg angekommen, und ihre Ankunft war mir um so erwünschter, da ich, ungeachtet der Freundschaftsversicherungen meiner Kollegen, doch im Grunde noch niemand in Würzburg hatte, an den ich mich mit Vertrauen hätte anschließen können, als diese Landsleute. Sie sind Württenberger, und die Württenberger mögen in der Welt zusammenkommen, wo sie wollen, so begegnen sie sich als Freunde und halten als solche zusammen und meistens fester als in dem Vaterland selbst.
Da der Graf von Thürheim bei meiner Ankunft in Würzburg sich eben mit seiner Familie in Bamberg befand, wo er wegen Geschäften länger verweilen mußte, so wollte ich nicht säumen, ihn dort zu besuchen, und ich war eben im Begriff, dahin zu reisen, als ich einen Brief von ihm erhielt, worin er mich einlud, ungesäumt nach Bamberg zu kommen und Schelling mitzubringen, weil er über die vorzunehmenden Einrichtungen der Universität sich mit uns zu besprechen wünschte. Eine lange Reihe von Jahren war verflossen, seit ich ihn nicht mehr gesehen hatte, aber seine Gesinnungen gegen mich waren unverändert dieselben geblieben, deren ich mich als sein Mitzögling in der Akademie zu Stuttgart zu erfreuen gehabt hatte. Er empfing mich als seinen alten Jugendfreund, und ebenso freundlich empfing mich auch seine Gemahlin. Sie benahm sich gegen mich, als ob sie mich schon längst gekannt hätte. Das Wohlwollen des Grafen gegen mich war auch auf sie übergegangen, und gleich beim Eintritt in ihr Zimmer sagte sie mir, daß auch sie mich sehr gern in Würzburg sehe, indem sie mich[175] längst als einen der geliebtesten Freunde ihres Gemahls kenne, wie denn auch sein erstes Wort nach der Übernahme der Universitätskuratel gewesen sei, nun müsse auch sein alter Jugendfreund nach Würzburg berufen werden.
Schon vor meinem Besuch in Bamberg hatte ich erfahren, daß der Graf von Thürheim den Plan habe, die Universität von Würzburg nach Bamberg zu verlegen; allein es war noch nichts verlautet, ob die Regierung den Plan genehmigt habe oder nicht. Schelling war sehr dafür, ich, ebenso fremd in Würzburg als in Bamberg, konnte darüber nicht urteilen. Indessen hatte mir Schelling die Sache so plausibel vorgestellt und mich insbesondere auf das vortreffliche allgemeine Krankenhaus in Bamberg, welchem das Julius-Spital in Würzburg in jeder Beziehung weit nachstehe, aufmerksam gemacht. Aber wie wir nach Bamberg kamen, war die Sache bereits entschieden, die Verlegung der Universität nach Bamberg war von der Regierung verworfen worden, die Universität sollte einmal für allemal in Würzburg, wo sie fundiert sei, bleiben, und es kam nun bloß darauf an, wie die von der Regierung beschlossenen neuen Einrichtungen bei der Universität auf das zweckmäßigste auszuführen seien. Im allgemeinen war der Plan zu denselben von der Regierung vorgezeichnet, der Graf von Thürheim hatte bloß die Details zu besorgen, und dazu sollten Schelling und ich mitwirken. So unerfahren in Universitätsangelegenheiten, wie ich damals noch war, konnte ich wenig dabei tun, dagegen fand sich der ungleich erfahrenere Schelling ganz an seinem Platz, und es ist unleugbar, daß ihm auch in dieser Beziehung die Universität sehr viel zu danken gehabt hat.
Unser Aufenthalt in Bamberg dauerte zwei Tage, und wir waren täglich bei dem Grafen von Thürheim zu Tisch. Schon am ersten Tag war Marcus eingeladen, und ich war sehr erfreut, den Mann, zu dessen Ruhm mir Schelling so vieles gesagt hatte, persönlich kennenzulernen. Ich fand alles wahr, was Schelling gesagt hatte, einen Mann von Geist, von großem praktischen Talent und einen sehr angenehmen Gesellschafter. Ich besuchte mit ihm das Krankenhaus, dessen Einrichtung ganz sein Werk war, und ich mußte gestehen, daß das Julius-Spital[176] in Würzburg weit hinter ihm zurückstehe. Weniger als das Krankenhaus selbst gefiel mir sein Verfahren am Krankenbette und besonders sein Krankenexamen, welches er gemeinschaftlich mit dem Medizinalrat Kilian, der kürzlich von Jena nach Bamberg berufen worden, vornahm. Es kam mir viel zu umständlich vor, und bei aller Umständlichkeit führte es doch zu keinem um so sicherern Resultat. Zum Beweis will ich nur ein einziges Beispiel anführen. Es war ein Landsmann von mir, welcher eben erst in das Krankenhaus war aufgenommen worden, ein geborener Württenberger, mit welchem das gemeinschaftliche Krankenexamen vorgenommen wurde. Die Form der Krankheit schien mir nicht im mindesten zweifelhaft. Es war eine rheumatische Brustentzündung und kein Zeichen vorhanden, woraus man hätte auf eine damit verbundene Affektion der Lunge oder auch nur des Rippenfells schließen können. Indessen sollte das Dasein oder Nichtdasein dieser Verbindung auf das gewisseste ausgemittelt werden, und es wurde dabei so weitläuftig zu Werk gegangen, daß das Examen beinahe eine Stunde dauerte, ohne daß die beiden Kliniker ins klare kommen konnten. Haben sie, wie es mir schien, bei dieser Weitläuftigkeit die Absicht gehabt, den großen Ruf, in welchem sie als Kliniker standen oder zu stehen glaubten, auch vor mir zu bewähren, so haben sie ihre Absicht nicht erreicht. So weitläuftig darf kein Krankenexamen sein, und wenn man es gar pro forma so weitläuftig macht, so ist es töricht und lächerlich. Der Gehülfe der beiden Kliniker, ein alter, am Krankenbette grau gewordener, geschickter derber Mann, der sich über das lange, zu keinem Resultat führende Examen ärgerte, aber bisher stillschweigend zugehört hatte, sagte auf einmal ganz trocken: »Es ist Mittagessenszeit, meine Herren, wir wollen jetzt aufhören, nach Tisch will ich den Kranken allein vernehmen und schon herauskriegen, was ihm fehlt.« Wirklich examinierte nachmittags der Gehülfe den Patienten allein, und wie er am Abend den beiden Klinikern über den Erfolg des Examens referierte, so waren sie einverstanden, daß die Krankheit eine einfache rheumatische Brustentzündung sei. – Indessen bin ich weit entfernt, Marcus sein großes praktisches[177] Talent hiermit schmälern zu wollen, und wenn er glaubte, daß es keinen größern Kliniker gebe als ihn, so nehme ich es ihm nicht übel. Um so mehr aber verdenke ich ihm, daß er, im Glauben an seine Vorzüglichkeit, die Hauptperson war, welche den Grafen von Thürheim zu der Idee, die Universität von Würzburg nach Bamberg zu verlegen, veranlaßt hat. Er wollte Professor der Klinik an der Universität werden, und weil er wegen seiner anderweitigen Verhältnisse nicht von Bamberg wegziehen konnte, so sollte die Universität zu ihm nach Bamberg kommen. Marcus ist längst tot, und ich enthalte mich, noch von andern Intrigen zu sprechen, welche er, nachdem ihm seine Absicht fehlgeschlagen, gegen die Universität und insonderheit auch gegen mich gespielt hat.
Nach meiner Zurückkunft nach Würzburg war die Freude meiner Kollegen groß, als sie von mir vernahmen, daß die Universität nicht nach Bamberg verlegt werde. Sie wären alle sehr ungern dahin gezogen, besonders aber die Sieboldsche Familie, die in Bamberg nicht mehr, wie Richter sie nannte, die Academia Sieboldiana gewesen wäre. Auch ich selbst war froh, daß die Universität in Würzburg blieb. Stand das Julius-Spital in Würzburg auch weit hinter dem allgemeinen Krankenhaus in Bamberg zurück, so fehlte es doch in jenem ebensowenig an Kranken aller Art als in diesem. In dem einen wie in dem andern konnte der klinische Unterricht gleich gut gegeben werden, und es war kein Grund vorhanden, warum Thomann von Marcus hätte verdrängt werden sollen. Thomann war ein sehr guter Kopf und am Krankenbette so gewandt als Marcus, und wenn ihm vorgeworfen worden, daß er der Erregungstheorie huldige, so trifft dieser Vorwurf auch Marcus, der ebenfalls ein Erregungstheoretiker war, nur daß er, was Thomann auch vielleicht getan hätte, sich als einen Anhänger der Schellingschen Naturphilosophie bekannte, die eben ihren Kulminationspunkt zu erreichen im Begriff war.
Da die Vorlesungen auf der Universität erst mit dem Monat Dezember ihren Anfang nehmen sollten, so hatte ich hinlänglich Zeit, mich zu denselben vorzubereiten. Ich tat dies schon in meinem Gasthof »Zum Kleebaum«, aber mit mehr Muße[178] konnte ich es in meiner neuen Wohnung tun, deren Einrichtung bald so weit gediehen war, daß ich sie wenigstens für meine Person beziehen konnte. Ich verließ also den Gasthof und kam bloß noch als Kostgänger dahin. Aber in dem großen Gebäude, das ich bezogen hatte, war ich ganz allein, bloß der Torwart wohnte darin, und dieses Einsamsein in einem so großen, alten Gebäude hatte wirklich etwas Schauerliches. Indessen befand ich mich ganz behaglich in demselben, ich schlief auch recht gut, nur wurde ich öfters aufgeweckt von der am Eingang in die Torwartswohnung befindlichen Glocke, und da diese gerade so tönte wie meine Hausglocke in Ludwigsburg, so glaubte ich beim ersten Erwachen immer, ich sei in Ludwigsburg, und oft stand ich auf, um zu hören, wohin ich gerufen werde. Nur ein einziges Mal wurde ich ernstlich erschreckt. Ein sonderbares Geräusch in dem Schlot meines Schlafzimmers weckte mich aus dem Schlaf. Im ersten Augenblick dachte ich an Diebe; aber der fest verschlossene Eingang in das Gebäude machte das Eindringen eines Diebes unmöglich. Ich stand auf, machte Licht und leuchtete hinauf in den Schlot. Es war ein junger Turmfalke, welcher in den Schlot hinabgefallen war. Ich machte mich seiner habhaft, setzte ihn in mein Arbeitszimmer, und am andern Morgen entließ ich ihn zu seinen Kameraden, welche auf dem Turm der nahe gelegenen Neubaukirche hauseten.
Den größten Teil des Tages brachte ich mit der Vorbereitung zu meinen hiernächst zu beginnenden Vorlesungen zu. Meine Mußestunden benutzte ich zu Besuchen bei meinen Landsleuten Paulus und Schelling, welche noch in ihren Gasthöfen wohnten, und bei meinen Kollegen, welche näher kennenzulernen mir eine Hauptangelegenheit war. Von dem Vater Siebold habe ich schon gesprochen. Er hatte sich, seit ich ihn in Ludwigsburg gesehen, auffallend alt gemacht, und besonders schienen mir seine Geisteskräfte merklich nachgelassen zu haben; nur wenn er auf die operative Chirurgie zu sprechen kam, wurde sein Geist lebendiger, obschon er jetzt keine Operation mehr verrichtete. Er hatte dies seinem ältern Sohn Barthel überlassen, so wie dieser auch seine Stelle als Professor[179] der Anatomie vertrat. Barthel war ein sehr guter Kopf und als Chirurg ein würdiger Sohn seines Vaters, nur schien er mir etwas bequem, nicht sehr geneigt, in seiner Kunst große Fortschritte zu machen, und etwas roh in seinen Sitten. Sein jüngerer Bruder Elias, Professor der Geburtshülfe, war ein minder guter Kopf, aber ausgezeichnet geschickt in seinem Fach, dabei fleißig in seinen Studien, angenehm im Umgang, überall beliebt und besonders gern gesehen von den Damen, bei denen er sich durch seine schöne Gestalt, sein feines artiges Betragen sowie durch die Eleganz seines Anzuges in Gunst zu setzen wußte.
Professor der allgemeinen Therapie und Klinik und dirigierender Arzt am Julius-Spital war Thomann, ein kleines, hageres, schwächliches, kränkliches Männchen, aber ein Mann von Geist, von ausgebreiteten Kenntnissen und ein tüchtiger Kliniker. Nur war er wie Barthel Siebold etwas bequem und ließ daher seine Zuhörer nicht selten am Krankenbette eigenmächtiger handeln, als sich geziemte. Dem äußern Ansehen nach war er gut gegen mich gesinnt, aber weil auch ich Therapie las, so betrachtete er mich als seinen Rival, doch kamen wir immer gut miteinander aus, nicht nur weil er selbst ein guter Mensch war, sondern auch weil ich in dem Julius-Spital immer für ihn vikariierte, wenn er dasselbe, was öfters geschah, Kränklichkeit halber nicht besuchen konnte.
Von den Professoren Pickel und Heilmann kann ich wenig sagen. Der erste war Professor der Chemie und Pharmazie, der andere Professor der Botanik. Beide waren tüchtige Lehrer in ihren Fächern und auch wackere brave Männer. Mit Pickel war ich oft zusammen, hörte oft, was ihm viel Freude machte, seinem Harfenspiel zu und wohnte auch mehrere Wochen vor meinem Abgang von Würzburg bei ihm im Hause. Er hat mir und meiner Frau viele Gefälligkeiten erwiesen, und mit Vergnügen vernahm ich von Zeit zu Zeit, daß er noch lebe und in seinem hohen Alter sich noch immer wohl befinde.
Weit der vorzüglichste unter den Professoren der medizinischen Fakultät, die ich in Würzburg antraf, war Döllinger, Professor der Physiologie und Pathologie. Ich hatte ihn nur[180] ein paarmal gesprochen und fand gleich an ihm einen Mann von ebenso ausgezeichneter Gelehrsamkeit als großer Geisteskraft. Sein Vortrag war vortrefflich, und er hatte daher immer ein zahlreiches Auditorium. Seiner Vorzüge sich bewußt, schmeichelte er niemand, gegen jeden sprach er sich geradezu aus, wie er dachte, schonte keines Menschen Schwächen, tadelte alles, was er tadelnswert fand, bald ernst, bald spottend, und deshalb hatte auch sein Lob mehr Gewicht als das Lob eines andern. Er war es daher auch vorzüglich, mit dem ich näher bekannt zu werden suchte, und ich darf mir schmeicheln, daß er ein wahrer Freund von mir ward und es noch ist.
Inzwischen war meine Wohnung so weit fertig geworden, daß ich sie nun mit meiner ganzen Familie beziehen konnte, und ich ließ diese daher ungesäumt nach Würzburg kommen. Meine Frau hatte alles zur Abreise vorbereitet gehabt, und schon in den letzten Tagen des Novembers traf sie mit unsern Kindern in Würzburg ein, nachdem ein paar Tage zuvor die Fuhrleute mit den Möbeln und andern Effekten, welche wir nach Würzburg mitzunehmen beschlossen hatten, angekommen waren. Wie groß unsere Freude war, uns gesund und wohlbehalten wieder beisammenzusehen, brauche ich nicht zu sagen. Gleich nachdem wir uns herzlich begrüßt hatten, führte ich meine Frau durch die Zimmer unserer Wohnung. Die Wohnung wollte ihr nicht gefallen, sie fand sie nicht nur zu geräumig für unser Bedürfnis, sondern auch unbequem. Indessen fügte sie sich gleich mir in die Umstände, und wir konnten dies auch um so eher, da der dem Seminariumgebäude zunächst gelegene schöne und große, aber noch unausgebaute Borgiasbau ausgebaut und zu Wohnungen für mich, Paulus und Schelling eingerichtet werden sollte, wozu die Vorkehrungen wirklich bereits getroffen waren. In unserer Wohnung war uns die obere Etage in dem Hauptgebäude des Seminariums, Paulus die untere und Schelling die seinige in einem Nebengebäude desselben angewiesen. Schelling war schon eingezogen, als meine Familie in Würzburg ankam, Paulus zog wenige Tage nach uns in die seinige, und so waren nun die drei schwäbischen Familien in einem Hause beisammen. Schon dies war Aufforderung[181] genug, daß wir auch treulich als Landsleute zusammenhalten sollten. Wir Männer kannten uns bereits hinlänglich, um das unter uns geknüpfte freundschaftliche Verhältnis fortzusetzen; meine Frau kannte bloß die Frau Schellings, aber die Bekanntschaft war in Ludwigsburg, wo sie sich zum erstenmal sahen, bloß im Vorübergehen ge macht, und ein näheres Verhältnis mit ihr mußte sich erst bilden. Paulus' Frau kannte sie noch gar nicht, aber wie sie diese zum erstenmal sah, ahnete sie schon, daß sie bald vertrautere Freundinnen werden, würden, und diese Ahnung hat sie nicht getäuscht. Beide Frauen wurden je länger desto vertrauter miteinander, und gewiß trug dies viel dazu bei, daß meine Frau beruhigter über die Trennung von den Ihrigen, zufriedener mit ihrer neuen Lage und gleichgültiger gegen die Unbequemlichkeiten unserer Wohnung wurde. Sie sah, daß sie auch in Würzburg eine Freundin gefunden hatte, an welche sie sich ebenso anschließen konnte als an diejenigen, welche sie in dem Vaterland zurückgelassen hatte.
Aber um so weniger wollte sich ein gleiches Verhältnis zwischen meiner und Schellings Frau bilden. Diese wollte die Rolle einer Dame spielen; wie Schelling der erste Mann auf der Universität sei, so wollte sie die erste Frau sein. Sie wollte alle vornehme Gesellschaften besuchen, sie wollte Gesellschaften bei sich geben und in beiden als die Frau des ersten Philosophen in Deutschland und in ihrer eigenen Person als eine der geistreichsten, gebildetsten und gelehrtesten Frauen glänzen. Sie hatte daher ihre ohnehin schönere Wohnung auf das schönste und geschmackvollste eingerichtet, mit Möbeln der neuesten Art ausstaffiert und überhaupt alle Vorkehrungen getroffen, um, wie man zu sagen pflegt, ein Haus in Würzburg zu machen. Indessen trug sie doch Bedenken, sich vor andern Professorsfrauen auf eine zu auffallende Art auszuzeichnen, und sie wünschte daher, daß vorzüglich meine Frau ihrem Beispiel folgen möchte. Sooft sie diese besuchte, gab sie ihr ihren Wunsch zu erkennen, nicht indem sie dieselbe zur Nachahmung ihres Beispiels direkt aufforderte, sondern indirekt, indem sie mit nichts, was sie bei uns sah, zufrieden war, alles mit Gleichgültigkeit[182] ansah oder tadelte und zur Begründung ihres Tadels unsere Professorswürde zum Vorwand nahm. Meine Frau, gewohnt, in allen Verhältnissen sich gleichzubleiben, nahm von diesen Ansinnungen keine Notiz. Sie befand sich ganz wohl bei der einfachen Einrichtung, welche sie auch in Würzburg in ihrem Hauswesen getroffen hatte, so wie auch ihre Freundin Paulus, welche darin ihr ganz gleichgesinnt war. Daß sich auf diese Weise kein freundschaftliches Verhältnis zwischen beiden Frauen bilden konnte, ist leicht zu erachten, und wie sie selten in Gesellschaft zusammenkamen, so sahen sie sich auch nur zuweilen im Hause, während Schelling und ich stets auf einem freundschaftlichen Fuß miteinander standen, so wie ich auch in der Folge seine Vorlesungen besuchte.
Am ersten Dezember hatten die Vorlesungen angefangen, und ich begann nun auch die meinigen. Ich hielt sie in meiner Wohnung und hatte dazu ein von meinen Wohnzimmern entferntes, zunächst an meinem Studierzimmer gelegenes großes Zimmer eingerichtet. Mein Pensum war spezielle Therapie, weil aber die spezielle die generelle Therapie und diese Pathologie voraussetzt, so mußte ich als Einleitung den Anfang meiner Vorlesungen bei beiden letztern machen. Anfangs meldeten sich zu meinen Vorlesungen nur acht Studenten; allein diese geringe Zahl meiner Zuhörer war mir leicht erklärlich, indem die meisten Studierenden spezielle Therapie schon bei Thomann gehört hatten, und die sie noch nicht gehört hatten, Anstand nahmen, die Kollegien eines Professors zu besuchen, ehe sie ihn als Dozenten hatten kennenlernen. Indessen schienen meine Zuhörer mit meinen Vorträgen zufrieden zu sein, und was ich als Beweis davon ansah, war, daß sich bald noch mehrere meldeten, so daß sich noch in demselben Semester die Zahl meiner Zuhörer auf funfzehn belief. Sie sahen, daß ich mir Mühe gab, und was ihnen besonders wohl zu gefallen schien, war die praktische Tendenz, die sie überall bei meinen Vorträgen wahrnahmen. Meine Zuhörer waren durchaus wackere junge Leute, und die Anhänglichkeit, die sie an mich zeigten, gewann ihnen auch mein Wohlwollen und erhöhete meinen Eifer, ihnen nützlich zu sein, mit jedem Tage mehr.[183]
Ich hatte schon einige Wochen gelesen, als der Graf von Thürheim, nachdem er seine Geschäfte in Bamberg geendigt hatte, mit seiner Familie wieder nach Würzburg zurückkam. Er war kaum in seiner Wohnung abgestiegen, so ließ er mir seine Ankunft melden, und bald darauf erschien er selbst. Hier sah ihn zum erstenmal meine Frau, auf welche seine schöne Gestalt, sein einnehmendes Betragen und seine geistreiche Unterhaltung den angenehmsten Eindruck machten. Bald darauf lernte sie auch seine Gemahlin kennen, und auch diese benahm sich so artig und wohlwollend gegen sie, daß sie leicht vergessen konnte, sie befinde sich einer vornehmen Dame gegenüber. Fast alle Abende brachten der Graf und die Gräfin bei uns zu. Der Graf bewies sich stets als meinen alten Jugendfreund, und die Gräfin gewann mit jedem Tag meine Frau lieber, so daß es ihr bald ein Bedürfnis ward, mit ihr zusammenzusein.
Dieses freundschaftliche Verhältnis der gräflichen Familie und der meinigen verdroß natürlicherweise viele der andern Professoren, am meisten aber verdroß es Schelling und seine Frau, die erwartet hatten, daß sie zu den Besuchen, welche der Graf und die Gräfin abends bei uns machten, eingeladen würden. Da diese mit uns allein sein wollten, so konnte ich begreiflich niemand einladen, allein das entschuldigte mich bei Schelling und seiner Frau nicht. Sie wurden beide kälter gegen uns, nur äußerlich bezeigten sie sich freundschaftlich wie zuvor, und wir konnten uns diesen Kaltsinn um so eher gefallen lassen, da unser Verhältnis mit der gräflichen und der Paulusschen Familie immer inniger wurde.
Man könnte denken, daß ich die Verbindung, in welcher ich mit dem Kurator der Universität und dem Generallandeskommissär, als dem ersten Staatsbeamten in Würzburg, stand, auf jede Weise zu meinem Vorteil benutzt haben werde. Aber das geschah in keinem Fall. Ich wollte nichts weiter als Professor auf der Universität sein, und wie ich es schon bei Übernahme meines Professorats zur Bedingung gemacht, nie in den akademischen Senat zu treten und noch viel weniger zum Prorektor erwählt zu werden, verlangte ich nie mehr, als was ich[184] verlangen mußte, um meinem Professorat so vorstehen zu können, wie es meinem Begriff von einem Universitätsprofessor gemäß war. Dahin ging mein ganzes Bestreben, und dazu benutzte ich allein meine nähere Verbindung mit dem Kurator der Universität.
Ich habe schon gesagt, daß mein Pensum die spezielle Therapie war. Ich hatte dieselbe bereits während eines Semesters gelesen. Aber ich hatte bald erkannt, oder vielmehr ich wußte es schon voraus, daß die spezielle Therapie ohne ein Klinikum ebensowenig mit Nutzen vorgetragen werden könne als die Arzneimittellehre ohne Vorzeigung der Arzneikörper, die Geburtshülfe ohne Phantome und ohne Schwangere und Gebärende. Ich wünschte daher ein Klinikum und bat den Grafen von Thürheim als Kurator der Universität, mir für ein solches zu sorgen. Der Graf sah die Richtigkeit meiner Gründe ein und sprach darüber mit Thomann. Als Primararzt an dem Julius-Spital, der ausschließend die innerlichen Kranken in demselben zu behandeln hatte, war er auch der einzige Lehrer der Klinik, und mein Verlangen konnte nur erfüllt werden, indem er mir einen Teil der Kranken im Spital zur Behandlung überließ. Thomann tat dies gern, nicht allein aus Gefälligkeit gegen den Grafen, sondern auch aus Gefälligkeit gegen mich, weil ich wegen seines öftern Übelbefindens für ihn vikariieren mußte, und zugleich auch aus natürlicher Bequemlichkeit, welche sich mit seiner Kränklichkeit vermehrte. So trat mir denn Thomann das Gesellen- und Dienstboteninstitut, welchen in dem Spital ein eigenes Lokal angewiesen war, ab, und zu meiner großen Freude war ich nun schon in dem nächsten Semester in den Stand gesetzt, meine Vorträge über die spezielle Therapie mit einem klinischen Unterricht zu verbinden.
Ich habe es immer für einen großen Fehler gehalten, daß, wenn nicht auf allen, doch auf den meisten Universitäten die Lehrer sich zu wenig um das Selbststudium ihrer Schüler bekümmern. Außer in den Hörsälen kommen die Studenten mit den Professoren selten in Berührung. Der Professor besteigt seinen Katheder, spricht oder liest eine Stunde vor, macht dann das Buch zu und geht seiner Wege. Der Studierende ist[185] also außer den Kollegien ganz sich selbst überlassen, er kann seine Privatstudien treiben, wie er will, niemand gibt ihm eine zweckmäßige Anleitung dazu, und er hat es lediglich seinem guten Glück zu danken, wenn er dabei den rechten Weg findet. Hierin sollten sich die Professoren der Studenten billig mehr annehmen; sie sind ihnen dies schon schuldig für die großen Honorare, die sie sich von ihnen bezahlen lassen. Aber so groß ist ihre Sorglosigkeit in diesem Punkt, daß sie nicht einmal darauf sehen, in welcher Ordnung sie die Kollegien besuchen. Um die Privatstudien gehörig zu ordnen, ist es nicht genug, daß eine Enzyklopädie der medizinischen Wissenschaften gelesen wird, und um zu bewirken, daß die Kollegien in der gehörigen Ordnung besucht werden, nicht genug, daß die Regierungen gedruckte Lehrplane ausgeben. Denn wie käme es sonst wohl, daß mancher Studierende noch Chemie hört, nachdem er schon Physiologie und Pathologie gehört hat, und noch Experimentalphysik, wenn er schon Praktikant in der medizinischen und chirurgischen Klinik ist?
Diesen Fehler habe ich gleich beim Antritt meines Professorats zu vermeiden gesucht. Schon in der Akademie in Stuttgart hatte ich gesehen, wie Lehrer mit ihren Schülern umgehen müssen, wenn der Unterricht wahrhaft fruchtbar für letztere sein soll. Dort war keine solche Absonderung der Lehrer von ihren Schülern wie auf andern Universitäten. Auch außer den Lehrstunden kamen sie vielfältig miteinander zusammen, und stets werde ich es dankbar erkennen, was ich ihnen auch in dieser Beziehung schuldig geworden bin. So wollte ich es nun auch in Würzburg mit meinen Schülern halten; ich wollte, soviel es sich tun ließ, auch ihr Gesellschafter sein, forderte sie auf, mich auf meinen Spaziergängen zu begleiten, das Theater mit mir zu besuchen, und kehrte bald bei diesem, bald bei jenem ein, nicht bloß um ihm einen Gegenbesuch zu machen, sondern hauptsächlich um zu sehen, wie sie ihre Wirtschaft führten, ihre Selbststudien trieben, welche Schriften sie läsen, was sie selbst zu Papier brächten. So lernten sie auch meine väterlichen Gesinnungen gegen sie kennen, und wenn sie mich auch als Lehrer weniger geachtet hätten, so achteten sie mich[186] doch um so mehr als ihren Freund, wovon sie mir mehrere rührende Beweise gegeben haben. Nichts ist gutmütiger als die Jugend, man darf sich nur als ihren Freund erweisen, um sie in Gutem und Bösem zu allem zu machen, was man will, da sie hingegen, sich selbst überlassen, ihrem natürlichen Triebe folgt, der leider so oft zum Bösen führt.
So trieb ich nun mein akademisches Leben fort bis zum Tode meines Kollegen Thomann, der im Jahr 1805 erfolgte. Er starb plötzlich vom Schlag getroffen auf der Jagd, auf welche er sich gegen meinen Rat begeben hatte. Er hatte mich nämlich in der gewöhnlichen samstägigen Fakultätssitzung ersucht, weil er sich zwei Tage mit der Jagd belustigen wollte, solange in dem Julius-Spital seine Stelle zu vertreten. Ich erwiderte, daß ich es zwar mit Vergnügen tun wolle, daß ich ihm aber doch rate, bei dem stürmischen und regnerischen Wetter lieber zu Hause zu bleiben, weil er seiner schwächlichen Gesundheit nicht trauen dürfe. »Nicht doch«, sagte er, »ich befinde mich vollkommen wohl, und das schlechte Wetter tut mir nichts, die Bewegung auf der Jagd und die gute Luft, die ich im Walde atme, tut meiner schwachen Brust wohl, seien Sie daher wegen meiner ganz ohne Sorgen.« Ich ließ es gut sein, Thomann begab sich noch an demselben Abend auf die Jagd, ich vikariierte für ihn am Sonntag, und am Montag früh wurde sein Leichnam nach Würzburg gebracht. Er starb, wie schon gesagt, am Schlag, der ihn beim Hinüberschreiten über einen kleinen Graben getroffen und augenblicklich getötet hatte.
Nun war die Frage, wer an die Stelle des Verstorbenen kommen, ob ein Fremder berufen oder ob einer von den einheimischen Professoren als Primararzt am Julius-Spital und als Lehrer der Klinik angestellt werden sollte. Als Lehrer der speziellen Therapie und schon bereits im Besitz eines Teils der Klinik, schien ich das nächste Recht an die erledigte Stelle zu haben. Aber erstlich stand mir entgegen, daß ich ein Protestant sei, und zweitens hatte ich einen mächtigen Mitbewerber an Röschlaub in Landshut und einen noch mächtigern an Marcus. Allein mein Freund Thürheim kehrte sich daran nicht. Er hatte mich als den Mann erkannt, der der Stelle gewachsen[187] sei, er schlug mich der Regierung unbedingt zu der Stelle vor, der Antrag des Grafen wurde genehmigt, und nach einigen Wochen ward mir die Stelle übertragen.
Freilich machte meine Beförderung zu dieser wichtigen Stelle großes Aufsehen. Schon daß ein Fremder den Einheimischen vorgezogen worden, wurde höchlich mißbilligt, denn es ist bekannt, daß die Würzburger etwas auf sich halten. Aber noch weit mehr hatten sie gegen den Protestanten einzuwenden. Noch nie war ein Protestant an dem Julius-Spital angestellt worden, so etwas, meinten die Würzburger, könne nur unter der bayerischen Regierung geschehen, deren Verfügungen überhaupt nicht nach ihrem Sinne waren. Aber die bayerische Regierung bekümmerte sich nicht um die Vorurteile der Würzburger. Sie sah bei der Besetzung der erledigten Stellen bloß auf die Qualifikation der Bewerber, nicht auf die Glaubenskonfession, zu welcher sie sich bekannten. Indessen währte der Widerwille gegen meine Anstellung als Primararzt an dem Julius-Spital nur eine Zeitlang. Auch die Würzburger sahen bald, daß ich die Stelle so gut als mein Vorfahr ausfüllte, und selbst der damals noch lebende Fürstbischof Georg Karl beehrte mich mit seinem Zutrauen, indem er, was er zuvor nicht getan hatte, seine Dienstboten als Mitglieder des Dienstboten-Instituts einschreiben ließ und jährlich 200 Fl. für sie bezahlte.
Aber Thomann war nicht bloß Primararzt an dem Julius-Spital und Professor der Klinik; er war auch Mitglied des Medizinalkollegiums, und auch diese Stelle wurde mir übertragen. Ich hatte sie nicht gesucht und wollte sie auch nicht annehmen. Allein das Verhältnis des Primararztes an dem Julius-Spital zu der Landesdirektion nötigte mich zu ihrer Annahme, jedoch machte ich dabei zur Bedingung, daß außer mir noch ein Medizinalrat angestellt werde, und schlug dazu den Stadtphysikus D. Horsch vor, nicht allein weil ich glaubte, daß der Physikus schon als solcher in das Kollegium gehöre, sondern auch weil ich mir denselben dadurch zum Freunde zu machen hoffte, woran mir um so mehr gelegen war, da ich ihn weit mehr als einen der Professoren für meinen Widersacher zu halten Ursache hatte. Auch dieser Vorschlag ging durch, und zwar[188] hauptsächlich deswegen, weil ich jener ersten Bedingung noch eine zweite beifügte, nämlich die, daß ich auf die Medizinalratsbesoldung ein für allemal verzichtete.
So hatte sich also meine Stellung in Würzburg so gut gemacht, als ich es irgend wünschen konnte, es kam jetzt nur darauf an, sie mit Ehre zu behaupten. Bei der geschwächten Gesundheit meines Vorfahrs schien mir die Aussicht auf die Erhaltung seiner Stelle nicht fern. Ich hatte daher schon, ehe ich sie erhielt, den Plan entworfen, wie ich sie bekleiden würde, und diesen Plan wollte ich nun ausführen. Thomann las bloß allgemeine Therapie, ich bloß spezielle; nach meinem Plan konnte dies jetzt nicht mehr so sein. Ein unzertrennliches Ganze sollte nicht in Teile zersplittert, noch viel weniger der eine Teil von einem andern Lehrer als der andere vorgetragen werden. Freilich wurde mein Pensum dadurch bedeutend größer; allein da ich immer der Meinung war, daß wie alle Wissenschaften auch die Medizin nicht in so viele besondere Wissenschaften zersplittert werden sollte, so hielt ich es für Pflicht, meiner Ansicht gemäß zu handeln. Diese Zersplitterung der Wissenschaften nämlich macht auch eine verhältnismäßige Menge von Lehrern nötig; allein eben diese Überzahl von Lehrern halte ich für einen großen Fehler auf den Universitäten. Man sehe nur die Lektionskataloge der Universitäten an. Ein ganzes Heer von Wissenschaften wird da auf geführt, und es wimmelt von Lehrern, ordentlichen und außerordentlichen, alten und jungen, welche sie vorzutragen stets fertig und bereit sind. So war es auch zu meiner Zeit in Würzburg, die medizinische Fakultät zählte allein ein Dutzend, so auch die andern Fakultäten, und wenn man alle bei feierlichen Gelegenheiten und in ihre Uniformen gekleidet beisammen sah, so kam es einem vor, als ob man eine Kompanie gelehrter Soldaten sähe. Freilich sind heutzutage die Anforderungen an die Studierenden groß; außer der Brotwissenschaft, welcher sie sich widmen, sollen sie auch noch in andern Wissenschaften zu Hause sein. Allein ich frage, welches Maß von geistiger Verdauungskraft muß nicht ein Studierender haben, der sich diesen Vollauf von Speisen wohlschmecken läßt und sich keine Indigestion[189] zuzieht? Vormals, wo der Köche weniger waren, die Speisen einfacher zubereitet und sparsamer aufgetischt wurden, war auch bei dem besten Appetit die Gefahr einer Indigestion weniger groß. Jetzt aber, wo der Köche so viele, die Speisen so fein zubereitet und die Tafeln so reich besetzt sind, ist es schwer, das auszuwählen, was zu einer gedeihlichen Geistesnahrung genügt, und doch verhält es sich mit der geistigen Nahrung ganz wie mit der leiblichen: nur das, was verdaut wird, nährt. Wohl kommt man wie in allen Wissenschaften auch in der Medizin immer weiter, und es ist zum Erstaunen, wenn man sieht, was in neuern Zeiten in der Anatomie, Physiologie, Pathologie, Pharmazie usw. getan worden. Aber den praktischen Arzt, dessen Bestimmung die Heilung der Krankheiten ist, kann bloß interessieren, was die Praxis von diesen Fortschritten gewinnt, und was war bis jetzt dieser Gewinn? Wie vormals gibt es auch jetzt noch ausgezeichnete praktische Ärzte genug, die von der feinern Anatomie sehr wenig wissen, die mit der jetzt in so hohem Ansehen stehenden spekulativen Physiologie und Pathologie kaum historisch bekannt sind, die in der Botanik, Mineralogie, Chemie usw. nicht mehr getan haben, als gerade nötig ist, um die in ihren Wirkungen erprobten Arzneikörper nach ihren äußerlichen Merkmalen richtig zu unterscheiden und bei Verordnung derselben keine chemischen Schnitzer zu machen. Die Bereicherung des Arzneiapparats mit neuen Arzneimitteln, die an sich so erfreulichen Fortschritte in der feinern und vergleichenden Anatomie, die neuen Systeme der Medizin haben wahrlich die praktische Heilkunde kaum um ein paar Schritte weitergebracht. Wie jeder Studierende muß sich auch der Arzt für das Leben bilden. Um spekulierende Ärzte ist es dem Staat nicht zu tun; er verlangt Ärzte, die Krankheiten zu heilen verstehen, und zu solchen müssen sie schon auf der Universität gebildet werden. Allein das ist es eben, woran es auf den Universitäten fehlt, und diesem Fehler ist nur dadurch abzuhelfen, daß für den Unterricht in den medizinischen Wissenschaften weniger Lehrstühle errichtet werden. Meines Erachtens wären vier ordentliche Professoren, nämlich zwei für die Vorbereitungswissenschaften[190] und zwei für die eigentliche Medizin, genug. Von den erstern hätte der eine Naturgeschichte, Physik und Chemie, der andere Anatomie, Physiologie und Pathologie, von den letztern der eine generelle und spezielle Therapie nebst materia medica, der andere Chirurgie und Geburtshülfe, beide in Verbindung mit klinischen Übungen, vorzutragen. Freilich erhielten auf diese Art die Lehrer sehr starke Pensa; aber auch abgesehen, daß es schon die Natur der Sache mit sich bringt, daß Wissenschaften, welche wie Anatomie, Physiologie und Pathologie im Grunde nur eine Wissenschaft sind, auch als eine vorgetragen werden, so wird das so groß scheinende Pensum schon um vieles vermindert, wenn der Lehrer von dem Schatz seiner Kenntnisse seinen Zuhörern nur so viel mitteilt, als sie zum Selbststudium bedürfen. Die Studenten auf der Universität sind keine Kinder mehr, denen man alles, was sie lernen sollen, eingießen muß. Die Hauptsache ist, daß sie zum Selbststudium und zum Selbstdenken angeregt werden, dazu aber bedarf es keinen detaillierten Vortrags der medizinischen Wissenschaften. Das macht nur dicke Hefte, die vielmehr zeigen, was der Professor weiß, als was der Studierende gelernt hat. Beschränkt sich hingegen der Lehrer bloß auf eine allgemeine, alle Zweige der Wissenschaft umfassende Darstellung ihrer Lehrsätze, so übersehen die Zuhörer nicht nur den ganzen Umfang der Wissenschaft leichter, sondern sie werden auch zum Selbststudium und zum Selbstdenken um so kräftiger angeregt, je weniger ins Detail gehend der Vortrag des Lehrers ist. Zu detaillierte Vorträge verwirren vielmehr die Studierenden, als daß sie sie unterrichten. Der minder Fähige erschrickt über die große Masse dessen, was er lernen soll, und da er das Vorgetragene nicht zu verarbeiten vermag, so sind ihm die Worte des Lehrers Orakelsprüche, welche er mit gewissenhafter Gläubigkeit annimmt; dem Fähigern hingegen sind sie überflüssig, weil er, übersieht er nur erst das Feld, welches er zu bearbeiten hat, sich bald sein eigenes System bildet, welches nicht selten ein ganz anderes ist als das, welches ihm zum Muster aufgestellt worden. Die akademischen Vorträge, wenn sie ihren wahren Zweck erreichen sollen, dürfen bloß der Stoff sein, welcher[191] dem Studierenden zur eigenen Verarbeitung gegeben wird, und das Verdienst eines akademischen Lehrers besteht nicht sowohl darin, daß er seine Gelehrsamkeit vor seinen Zuhörern auskramt, sondern vielmehr darin, daß er sie zum Selbstdenken anregt, damit jeder das Gehörte auf seine eigene Weise verarbeiten lerne. Von den vielen ausgezeich neten Ärzten, welche ich in meinem Leben kennengelernt habe, weiß ich keinen, welcher das, was er war, den vielen Kollegien, die er auf der Universität gehört, zu danken gehabt hätte. Alle sind es durch Selbststudium, Selbstbeobachtung und Selbstdenken geworden, und ich bin überzeugt, daß, wenn jetzt der ausgezeichneten praktischen Ärzte weniger sind als vormals, ein Hauptgrund darin zu suchen ist, daß man jetzt eine Wissenschaft in so viele besondere zersplittert, daß man für jede besondere Wissenschaft einen eigenen Lehrer anstellt und daß man es den Studierenden zur Pflicht macht, die Vorlesungen aller dieser Lehrer zu hören. Muß der Studierende vom frühen Morgen bis zum späten Abend nichts als Vorlesungen hören, so kann er zwar, wenn er aufmerksam ist und das Gehörte gehörig faßt und in einem feinen guten Gedächtnis behält, ein gelehrter Arzt werden, aber ein selbstdenkender Arzt wird er nicht, dazu lassen ihm die vielen Kollegien weder die nötige Zeit noch die erforderliche Freiheit des Geistes.
Diesen Grundsätzen gemäß suchte ich nun, da ich alleiniger Lehrer der Therapie war, meine Lehrvorträge einzurichten. Auf dem Katheder trug ich meinen Zuhörern bloß die allgemeinen Grundsätze der Therapie vor; mit den Vorträgen über spezielle Therapie verband ich immer den klinischen Unterricht, weil ich überzeugt war, daß ohne diese Verbindung auch die besten Vorträge über spezielle Therapie ohne Nutzen sind. Die spezielle Therapie soll die Krankheiten kennen lehren, wie sie in der Natur vorkommen, ihre Aufgabe ist daher, die mancherlei Formen der Krankheiten zu schildern, von jeder Form die charakteristischen Erscheinungen, wie sie sich gleichzeitig und in ihrer Aufeinanderfolge entwickeln, anzugeben, die entfernten und nächsten Ursachen namhaft zu machen, sodann die Indikationen zur Beseitigung derselben zu bestimmen[192] und zuletzt die Mittel anzugeben, welche laut der Erfahrung zur Befriedigung dieser Indikationen dienen. Allerdings kann alles dieses vom Katheder aus sehr gründlich und schön vorgetragen werden, aber was nützt das dem Studierenden? Sei die Schilderung einer Krankheitsform noch so genau, am Krankenbette erscheint sie doch ganz anders. Der Studierende kann die Erscheinungen einer Krankheitsform, wie sie vom Katheder aus angegeben worden, vollkommen innehaben, aber am Krankenbette erkennt er dieselbe nicht wieder. Hier in der Wirklichkeit findet er das Bild, welches er sich in der Phantasie von der Krankheit gemacht hatte, ganz anders, die wirklich wahrgenommenen Erscheinungen, mit seinen imaginären Vorstellungen von denselben zusammengehalten, verwirren ihn, und vor den vielen Bäumen sieht er, wie man zu sagen pflegt, den Wald nicht mehr. Dies alles wußte ich aus eigener Erfahrung zu gut, um nicht einzusehen, daß die spezielle Therapie nur am Krankenbette vorgetragen werden kann, und so wollte ich sie denn auch wirklich vortragen. Allein ehe ich meinen Vorsatz ausführen konnte, mußte ich vorher die Klinik selbst anders einrichten, und dies geschah nun auf folgende Weise.
Zum klinischen Unterricht war täglich nur eine einzige Vormittagsstunde bestimmt, weil die Studenten, um nicht die Zeit zu andern Vorlesungen zu versäumen, nicht länger in dem Spital verweilen konnten. Nun befanden sich aber gewöhnlich sechzig bis siebenzig Kranke zugleich im Spital, und es mußten entweder die Kranken vernachlässigt oder der klinische Unterricht konnte bei denselben nur im Vorbeigehen und daher sehr mangelhaft und unzulänglich gegeben werden. Diesem Übel abzuhelfen, gab es kein anderes Mittel, als für den klinischen Unterricht eine Auswahl der Kranken im Spital zu treffen und für die zur Klinik ausgewählten ein eigenes Lokal in dem Gebäude einzurichten. Ich sprach daher darüber zuvörderst mit dem Administrator des Julius-Spitals, Hofrat Oehninger. Dieser tüchtige Administrator war ein eigener Mann, den man zu behandeln wissen mußte, um ihn zu etwas zu bestimmen, was er nicht selbst dem Spital zuträglich fand.[193] Thomann hatte es ganz mit ihm verdorben, weil er auch in administrativer Hinsicht etwas in dem Spital zu sagen haben wollte. Das war meine Sache nicht. Ich wollte nicht über meinen Wirkungskreis hinausgehen, und weil ich die Tüchtigkeit des Hofrats Oehninger als Administrators erkannt hatte, so wollte ich keine Einrichtung in dem Spital bei der Landesdirektion in Vorschlag bringen, ohne zuvor Rücksprache mit ihm genommen zu haben. Dies geschah auch jetzt. Ich entwickelte ihm die Gründe, warum ich ein eigenes Lokal für die Klinik haben wollte, er ging in die Gründe ein, gab ihnen seinen Beifall, und statt mir entgegenzuwirken, beförderte er vielmehr die Realisierung meines Plans auf das eifrigste. Auf unsere gleichzeitigen Berichte an die Landesdirektion fand auch diese meinen Plan vollkommen zweckmäßig, und alsbald erging an die Spitaladministration die Weisung, ungesäumt zur Ausführung desselben zu schreiten.
Da der Kranken, welche für den klinischen Unterricht, der nur eine Stunde dauerte, auszuwählen waren, nicht viele sein konnten, so bedurfte ich nicht mehr als vier Zimmer, für jedes Geschlecht zwei, und noch zwei Kabinette zwischen beiden Zimmern, teils zum Baden, teils zur Aufnahme einzelner Kranken. Diese Lokalitäten waren bald ausgemittelt. Am schicklichsten dazu fand ich einige leicht zu räumende Zimmer in dem hintern Hauptgebäude des Spitals, und weil nicht viel zu bauen war, so waren sie nach einigen Wochen dem Zweck gemäß eingerichtet.
Sobald die Einrichtung der Zimmer vollendet war, nahm ich auch die Auswahl der Kranken für die Klinik vor; aber zu gleicher Zeit änderte ich auch die bisherige Art meiner therapeutischen Kathedervorträge. Anstatt daß ich bisher die Krankheiten nach den Kapiteln des zum Grunde gelegten Lehrbuchs abgehandelt hatte, richtete ich mich dabei nach den Kranken, die sich in dem Klinikum befanden. Hatte ich z.B. in dem Spital einen Wassersüchtigen, welchen ich zum Klinikum geeignet fand, so versetzte ich ihn dahin und handelte auf meinem Katheder von der Wassersucht. Hatte ich einen Wechselfieberkranken, einen Typhuskranken, einen Gelbsüchtigen in[194] die Klinik aufgenommen, so handelte ich die Lehre vom Wechselfieber, vom Typhus, von der Gelbsucht ab. So hatten meine Zuhörer bei meinen therapeutischen Vorträgen nicht nur von jeder Krankheit ein wirkliches lebendiges Muster vor sich, sondern sie fanden sich auch bereits in das öffentliche praktische Leben eingeführt, wo bald diese, bald jene Krankheit vorkommt und wo die verschiedensten Krankheiten zugleich zu behandeln sind.
Es konnte nicht fehlen, diese Verbindung des therapeutischen und klinischen Unterrichts mußte bei meinen Zuhörern Beifall finden, nicht allein schon an sich, weil sie einsahen, daß auf diese Weise weit mehr zu lernen war als auf die bisher gewohnte, sondern auch weil die Art, wie ich sie dabei beschäftigte, ihnen nicht minder zusagte. Ich teilte nämlich meine Zuhörer in zwei Klassen, in Auskultanten und Praktikanten. Die erstern durften bloß zuhören und nur sprechen, wenn sie dazu aufgefordert wurden; den letztern übergab ich die Behandlung der Kranken und teilte jedem einen bestimmten Kranken zu. Diesen mußte er in meiner und aller andern Zuhörer Gegenwart examinieren, es durfte ihm keiner in das Krankenexamen einreden, und ich selbst sprach nur, wenn ich ihn auf etwas aufmerksam zu machen hatte, was von ihm übersehen worden. War der eine mit dem Krankenexamen fertig, so kam die Reihe an einen andern, bis es bei allen Kranken zu Ende war. Nun begaben wir uns in den Hörsaal, hier mußten die Praktikanten wieder der Reihe nach, jeder über seinen Kranken, referieren, die Form der Krankheit bestimmen, die in ihrem Verlauf erfolgten Veränderungen angeben, die Indikationen bilden und die Mittel zu ihrer Befriedigung namhaft machen. Auch hier durfte, solange der Referent sprach, kein anderer dareinreden, ohne daß er dazu aufgefordert worden. Nur mir selbst hatte ich das Recht dazu vorbehalten, und ich bediente mich dieses Rechts erst dann, wenn ich mit den Ansichten und Vorschlägen des Referenten nicht einverstanden war. War ich einverstanden, so schrieb der Gehülfe die Rezepte, und wir verließen den Hörsaal. Daß die Praktikanten über jeden ihrer Kranken ein Tagebuch führen mußten, versteht[195] sich von selbst, sowie auch, daß sie dieses Tagebuch jederzeit in die Klinik mit sich bringen mußten. Gewöhnlich besuchten sie ihre Kranken noch einmal am Abend und trugen die bei diesen Abendbesuchen gemachten Bemerkungen in ihre Tagebücher ein. Auch ich wohnte diesen Abendbesuchen bei, sooft ich Zeit hatte. Nach Beendigung derselben versammelten wir uns wie am Vormittag in dem Hörsaal, sprachen über die fernere Behandlung der Kranken, und wenn einer gestorben war, wurde die ganze Behandlungsart durchgegangen, die Ursache des Todes aufgesucht und, wenn Fehler begangen worden, diese geradezu eingestanden. War nach diesen Verhandlungen noch Zeit übrig, so forderte ich bald diesen, bald jenen der Zuhörer auf, sich auf den Katheder zu begeben und uns über einen ihm von mir angegebenen Gegenstand einen Vortrag zu halten. Auch diese Übung fand Beifall bei meinen Zuhörern, besonders bei denen, deren Ehrbegierde dadurch geschmeichelt ward, indem sie auch hier sich auszuzeichnen Gelegenheit fanden.
Indessen wurden durch diese Trennung des Klinikums von dem Spital weder die Auskultanten noch die Praktikanten von dem letztern ausgeschlossen. Sie konnten es besuchen, sooft sie wollten, und obschon ich die Kranken in demselben als Spitalarzt selbst behandelte, was jederzeit nach beendigter Klinik geschah, so übergab ich doch den ältern und geübtern Praktikanten gewöhnlich auch einzelne Kranke in die Kur und erleichterte mir nicht nur dadurch mein Geschäft, sondern verschaffte ihnen auch eine erwünschte Gelegenheit, sich weiter zu üben und sich desto schneller zu praktischen Ärzten auszubilden. Daß der größte Teil meiner Zuhörer diese Gelegenheit zu ihrer Ausbildung eifrig benutzte, brauche ich nicht zu sagen. Der Unfleißigen gab es nur wenige unter ihnen, die meisten zeichneten sich ebensosehr durch ihren Fleiß als durch ihre Fähigkeiten und Kenntnisse aus, und besonders muß ich dies von denjenigen rühmen, welche von andern Universitäten nach Würzburg gekommen waren und von welchen mehrere daselbst bereits absolviert hatten. Sie kamen vorzüglich der klinischen Anstalten wegen nach Würzburg, und wenn ich in der Folge[196] von so vielen, sowohl dieser Fremden als der einheimischen Studierenden, vernahm, daß sie im Zivil- und im Militärstand zu den ersten Stellen befördert worden und sich als praktische Ärzte und Staatsbeamte gleich rühmlich auszeichneten, so kann man es mir nicht verdenken, daß ich stolz darauf bin, sie zu, meinen ehemaligen Schülern zu zählen.
Habe ich mir auf diese Weise um meine Zuhörer einiges Verdienst als Lehrer zu erwerben gesucht, so lag mir nicht weniger daran, ihnen auch als Freund nützlich zu sein, nicht allein indem ich bei dem häufigen Umgang, den ich auch außer dem Hörsaal mit ihnen pflog, sie von manchem abhielt, was für ihre sittliche Bildung hätte nachteilig sein können, sondern auch indem ich ihnen zu einem bessern Fortkommen nach ihrem Abgang von der Universität behülflich zu sein suchte. Aus eigener Erfahrung mit den Schwierigkeiten bekannt, welche der Arzt bei Eröffnung seiner Laufbahn zu überwinden hat, hielt ich es für Pflicht, wenigstens für diejenigen meiner Schüler, die sich durch Fleiß, Kenntnisse und ein tadelloses sittliches Betragen mir besonders empfohlen hatten, zu tun, was ich in meiner Stellung vermochte. So befand sich z.B. unter meinen Zuhörern einer namens Eichrodt aus Karlsruhe, ein in jeder Beziehung vorzüglicher junger Mann, der im Begriff war, die Universität zu verlassen und sich nach Hause zu begeben. Er kam, um sich von mir zu verabschieden, und ich bat ihn, vor seiner Abreise noch einmal zu mir zu kommen, weil ich ihm noch einen Auftrag zu geben hatte. Er kam, und ich übergab ihm einen Brief an seinen Landesherrn, den damaligen Markgrafen von Baden Karl Friederich, mit der Weisung, ihm denselben, wenn er ihm von seinem Vater in der Audienz vorgestellt werden würde, zu übergeben. Dies geschah, der Markgraf nahm meine Empfehlung des jungen würdigen Mannes sehr gnädig auf, wies ihm ein bedeutendes Reisegeld an, und nach seiner Zurückkunft von der Reise stellte er ihn als Mitglied des Medizinalkollegiums in Karlsruhe an. – Solche Empfehlungen gab ich auch noch andern meiner Zuhörer nach ihrem Abgang von der Universität, und ich habe nicht gehört, daß eine ohne Erfolg geblieben wäre.[197]
Ich habe schon gesagt, daß ich mit der Primararztstelle in dem Julius-Spital auch die Stelle eines Mitgliedes des Medizinalkollegiums erhielt. Das Medizinalkollegium hatte seine Sitzungen gewöhnlich nur einmal in der Woche, und in der Regel am Montag vormittags. Meinen Vorbereitungen zu denselben widmete ich den Sonntag, wo ich keine Vorlesungen zu halten hatte. Die Gegenstände, über welche mir das Referat übertragen war, waren lediglich praktischer Art und betrafen die in der Stadt und auf dem Lande ausgebrochenen Epidemien und Epizootien, die Anordnung der dagegen zu treffenden Maßregeln und überhaupt die Handhabung der gesetzlichen Sanitätspolizei im Lande. Da Epidemien und Epizootien selten vorkamen und, wie die Polizei in der Stadt und auf dem Lande überhaupt, auch die Sanitätspolizei gut gehandhabt wurde, so hatte ich in beiden Beziehungen als Medizinalrat wenig zu tun und ebensowenig auch als Mitglied des Medizinalkollegiums als der Behörde, von welcher das praktische Examen der Kandidaten der Medizin vorgenommen wurde. Diese praktischen Prüfungen kamen nicht oft vor, weil jedesmal mehrere Kandidaten zusammenkommen mußten, wenn sie abgehalten werden sollten, und sie fanden daher nur ein paarmal im Jahr statt. Sie bestanden wie jetzt teils in einem mündlichen Examen, teils in der schriftlichen Beantwortung mehrerer den Kandidaten vorgelegter Fragen, nur waren sie bei der letztern weniger streng bewacht als jetzt. Da es bei diesen Prüfungen bloß auf das Praktische ankam, so beschränkte ich mich auch einzig und allein auf dieses, denn über das Theoretische waren die Kandidaten von den Professoren der Fakultät vor ihrer Promotion zu Doktoren der Medizin hinlänglich geprüft worden, und was die schriftlichen Beantwortungen der ihnen vorgelegten Fragen betrifft, so muß ich gestehen, daß ich die Antworten selten las. Ich schickte sie, wie ich sie empfangen hatte, sogleich meinem nächsten Kollegen zu, in der Überzeugung, daß ich über ihre Qualifikation viel richtiger nach dem urteilen könne, was ich als ihr Lehrer an ihnen gefunden, als nach Aufsätzen, welche sie in einer bestimmten Zeit und entblößt von allen Hülfsmitteln niedergeschrieben hatten.[198]
Waren die Kandidaten in dem Examen tüchtig befunden worden, so erhielten sie auch von der Regierung ohne weiteres die Erlaubnis, als selbständige praktische Ärzte aufzutreten. Natürlich wollten die meisten Eingebornen ihre praktische Laufbahn in Würzburg eröffnen, und allerdings schien auch wenigstens den geborenen Würzburgern desfalls nichts entgegenzustehen. Allein auch abgesehen, daß die Zahl der praktizierenden Ärzte in Würzburg im Verhältnis zur Bevölkerung der Stadt ohnehin schon zu groß war, als daß neu eintretende ihr Fortkommen in derselben hätten finden können, so fehlte es dagegen desto mehr an tüchtigen Ärzten auf dem Lande. Dieses bedenkend, stellte ich in dem Medizinalkollegium den Antrag, nur eine bestimmte Anzahl praktizierender Ärzte in Würzburg zuzulassen, die überzähligen aber auf das Land zu weisen, wo sie so lange bleiben sollten, bis eine Stelle in der Stadt erledigt werden würde. Der Vorschlag wurde von dem Medizinalkollegium angenommen, es wurde ein Verzeichnis der Ortschaften angefertigt, wo ein angehender Arzt sein Fortkommen finden könnte, und beschlossen, den angehenden Ärzten, statt ihnen die Eröffnung ihrer praktischen Laufbahn in Würzburg zu gestatten, zwischen jenen Ortschaften die Wahl zu lassen. Die Landesdirektion genehmigte den Vorschlag, dem Mangel an tüchtigen Ärzten auf dem Lande wurde abgeholfen, die jungen Ärzte, die sich dahin begaben, konnten nicht nur von dem Erwerb ihrer Praxis leben, sondern sie hatten auch die schönste Gelegenheit, sich zu praktischen Ärzten auszubilden, und konnten, wenn sie nicht auf dem Lande bleiben wollten, früher oder später bei eintretenden Vakaturen in die Stadt ziehen.
Schon als einem Fremden würde es mir schwer geworden sein, als praktischer Arzt eine Rolle in Würzburg zu spielen; auch waren der tüchtigen und gesuchten Ärzte in der Stadt genug, als daß ein Verlangen nach mehreren hätte stattfinden sollen. Allein ich wollte weder, noch konnte ich auch als praktischer Arzt in Würzburg auftreten. Nicht nur hatte ich als Professor zu wenig Zeit dazu, sondern ich hatte auch als Arzt an dem Julius-Spital und Lehrer der Klinik Gelegenheit genug, mich in der Praxis fortzuüben. Indessen konnte ich mich doch[199] nicht ganz aller Privatpraxis entziehen. Mehrere Familien, wie die Thürheimische, die Familie des Vizepräsidenten von Leyden, des Direktors von Sicherer, der Professoren Paulus und Schelling und mehrere andere, wollten mich zu ihrem Hausarzt haben, und ich konnte nicht umhin, ihrem Verlangen zu entsprechen. Auch konnte ich es nicht abschlagen, wenn ich da und dorthin zu Konsultationen gerufen wurde, welche in Würzburg viel häufiger veranstaltet werden als in den andern größern Städten. So war ich denn, zwar in einem beschränkten Kreise, auch in Würzburg praktischer Arzt; allein eben weil ich als solcher keine Rolle spielen wollte, hatte ich auch nicht nötig, um die Gunst des Publikums zu buhlen, welche zu gewinnen der Arzt so oft in die Lage gerät bei seinen Ordinationen, statt streng nach seiner Überzeugung zu handeln, manches nachgeben muß, was derselben entgegen ist und was er so oft Ursache hat zu bereuen.
Außer meinem Handbuch der praktischen Heilkunde habe ich als Professor in Würzburg nichts drucken lassen, und ich gestehe gern, daß es mich oft gereut hat, auch dieses getan zu haben, nicht allein weil ich mich darin zu den Grundsätzen der Erregungstheorie bekannte, welche die immer mehr emporkommende Schellingsche Naturphilosophie bereits zu stürzen drohte, sondern auch und hauptsächlich, weil es ein Werk der Eile war, indem einerseits die Regierung verlangte, daß jeder Professor über sein eigenes Lehrbuch lesen sollte, und andererseits meine Zuhörer, um des Nachschreibens überhoben zu sein, sobald wie möglich meine Hefte gedrückt zu haben wünschten. So geschah es, daß ich mit Abfassung des Handbuchs beschleunigte, soviel ich konnte, und die Folge davon war, daß ich weder meine Köllektaneen gehörig ordnen noch in dem, was sie enthielten, das Meinige von dem Fremden gehörig ausscheiden konnte. Mein Handbuch ward daher ein zusammengetragenes Werk von eigenem und fremdem Gut, und wenn es von mehreren Rezensenten als eine Kompilation dargestellt worden, so kann ich ihnen dieses Urteil um so weniger verdenken, da ich es selbst dafür hielt. Das einzige, was mich wegen der Herausgabe derselben entschuldigen könnte, war, daß ich mich[200] seiner bloß bei meinen Kathedervorlesungen bediente, wobei ich nie unterließ, meine Zuhörer auf die Einseitigkeit der Erregungstheorie aufmerksam zu machen, dagegen aber am Krankenbette immer nach dem empirisch-rationellen System handelte, welches ich mir als praktischer Arzt auf den Grund meiner vieljährigen Erfahrung gebildet hatte, worüber ich alle meine ehemaligen Zuhörer zu Zeugen aufrufen darf. Wäre ich länger in Würzburg geblieben, so würde ich ein ganz anderes Handbuch der praktischen Heilkunde geschrieben haben, ein Handbuch, worin ich weder der Erregungstheorie, wie Röschlaub, noch der Naturphilosophie, wie Marcus, gehuldigt hätte, ein rein auf Erfahrung gegründetes Handbuch, unbekümmert um das Urteil, welches die Spekulanten aller Art darüber hätten fällen mögen.
Soviel von meinem akademischen Leben in Würzburg. Ich gehe nun zu meinem geselligen über, und das erste, was ich hier zu berichten habe, ist die Ferienreise, welche ich im Herbst 1804 über München nach Stuttgart gemacht habe. Die Reise von Würzburg nach München machte ich mit dem Grafen von Thürheim, und wie vergnügt ich auf derselben mit diesem hochverehrten Freund war, brauche ich nicht zu sagen. Ich hatte München zuvor nie gesehen, um so mehr freute ich mich des Anblicks dieser bedeutenden, und ich setze hinzu, auch schönen Stadt. Indessen interessierte mich die Stadt selbst weniger als die Merkwürdigkeiten, welche da zu sehen waren, die Gemäldegalerie, die große Bibliothek, die Naturaliensammlung, vorzüglich aber der englische Garten, der mich so lebhaft an die schönen Anlagen in Stuttgart und Ludwigsburg erinnerte und den ich daher alle Morgen besuchte. Ich verweilte nur einige Tage in München, denn ich verlangte, sobald wie möglich mein Vaterland wiederzusehen, meine Freunde in Stuttgart und Ludwigsburg zu besuchen und einige Wochen lang ganz Württenberger zu sein. Von München reiste ich über Augsburg und Ulm, und um nicht in Ulm, welches damals noch eine Festung war, aufgehalten zu werden, fuhr ich noch ein paar Stunden weiter und übernachtete in einem Chausseehaus, was auch noch viele andere Reisende damals taten. Hier fand ich[201] zum erstenmal wieder schwäbisches Brot, meine Freude darüber war groß, denn ich hatte mich noch nicht ganz an das Würzburger gewöhnt. Ich ließ mir dasselbe herrlich schmecken, so daß ich mir beinahe eine Indigestion zuzog. In Göppingen, wo ich Mittag hielt, wurde ich in dem Gasthof, in welchem ich abgestiegen, über alle Erwartung gut bewirtet. Mir fiel dies auf, aber als ich nach der Zeche fragte, erfuhr ich, daß der Wirt der Sohn des Waldhornwirts in Ludwigsburg war, dessen Hausarzt ich gewesen und dessen freundschaftliche Gesinnungen gegen mich auf den Sohn fortgeerbt hatten.
Gleich am folgenden Tag nach meiner Abreise nach München war meine Familie nach Stuttgart abgereist, und sie war daselbst schon einige Tage vor meiner Ankunft angekommen. Wie von meiner Frau und Kindern, wurde ich auch von meinen Eltern und Schwestern auf das herzlichste bewillkommt und aufgenommen. Die Freude, den Sohn und Bruder wiederzusehen, konnte nicht größer sein, als wenn wir viele Jahre getrennt gewesen und ich von Amerika gekommen wäre. Nicht minder groß war auch die Freude in Ludwigsburg, wo wir mit der Mutter meiner Frau und ihren Geschwistern wieder zusammenkamen. Auch unsere vielen Freunde und Freundinnen sowohl in Ludwigsburg als in Stuttgart freuten sich unseres Wiedersehens, und wir dürfen wohl sagen, daß die Tage, welche wir an beiden Orten zubrachten, zu den schönsten unseres Lebens gehörten. Nicht nur alle unsere alten Freunde fanden wir wieder ganz so gegen uns gesinnt, als wenn wir nie von ihnen getrennt gewesen wären, sondern ich gewann auch neue Freunde und Gönner, besonders in Stuttgart, zu welchen ich vorzüglich den berühmten ehemaligen Professor in Göttingen und damaligen württenbergischen Geheimenrat Spittler zähle. Ich wurde mit ihm durch seinen Schwager Eisenbach, einen schon früher genannten lieben Freund von mir, bekannt, und ich hatte um so mehr Ursache, mich dieser Bekanntschaft zu freuen, da er ein großes Vertrauen zu mir zu haben schien. Er war Kurator der Universität Tübingen, und eine seiner Hauptangelegenheiten war die Errichtung eines Klinikums, woran es daselbst noch gefehlt hatte. Er wollte darüber auch meine[202] Meinung hören, und ich mußte ihm versprechen, eine Reise mit ihm nach Tübingen zu machen. Aber leider mußte die Reise unterbleiben, weil ihn dringende Geschäfte in Stuttgart zurückhielten und späterhin die Zeit meines Urlaubs zu Ende ging.
Nun hatte ich nur noch wenige Tage, die ich im Vaterland zubringen durfte, und da ich meinen Urlaub weder verlängern konnte noch wollte, so war der Tag zur Abreise bereits bestimmt, als unsere beiden Kinder, die Tochter in Ludwigsburg, der Sohn in Stuttgart, zu gleicher Zeit von dem Scharlachfieber befallen wurden. Natürlich konnte ich ihre Behandlung nicht selbst übernehmen, die Behandlung meines Sohnes in Stuttgart übernahm mein Freund Plieninger, meiner Tochter in Ludwigsburg mein jüngerer Schwager, praktischer Arzt daselbst, und ich reiste wieder ebenso allein nach Würzburg zurück, wie ich nach Stuttgart gekommen war.
So befand ich mich nun auch jetzt wieder allein in Würzburg, nur mit dem Unterschied, daß ich jetzt kein Fremdling mehr daselbst war wie bei meiner ersten Ankunft. Die Paulussche Familie, die in demselben Hause mit uns wohnte, nahm mich auch ganz als Hausgenossen auf. Wie meine eigene Frau besorgte Madame Paulus meine häuslichen Angelegenheiten. Alle Abende war ich bei der Familie zu Tisch, mittags speiste ich entweder bei dem Grafen von Thürheim oder bei einem andern Freund. Ich hatte keine Sorge, als daß meine Frau mit den Kindern bald zurückkommen möchte, allein da dies nicht eher geschehen konnte, als bis nichts mehr für die Kinder zu befürchten war, so verzögerte sich die Rückreise bis tief in den November. Endlich kam sie doch wohlbehalten mit den Kindern in Würzburg an, und, was mich sehr erfreute, begleitet von ihrer jüngsten Schwester, welcher ihre Mutter auf unbestimmte Zeit bei uns zu bleiben erlaubt hatte.
Ich habe schon gesagt, daß der zunächst an das Seminarium stoßende Borgiasbau zu Wohnungen für mich, Paulus und Schelling eingerichtet werden sollte. Die Einrichtung war bei meiner Zurückkunft nach Würzburg ihrer Vollendung nahe, und als meine Frau ankam, war sie bereits so weit vollendet,[203] daß wir die Wohnung in den nächsten Tagen beziehen konnten. Dies geschah; die erste Etage des Gebäudes bezog ich, die zweite Paulus, und die dritte sollte Schelling beziehen. Allein er zog es vor, in seiner bisherigen Wohnung zu bleiben, und er tat wohl daran, weil dieselbe nicht nur sehr schön war, sondern auch weil er zunächst an seinen Wohnzimmern einen Hörsaal hatte, dergleichen er in Würzburg keinen schönern hätte finden können und der auch groß genug war, die Menge der Zuhörer zu fassen, welche sich zu seinen Vorlesungen drängten. Statt Schelling zogen sodann der außerordentliche Professor der Medizin D. Paulus, der Schwager meines frühern Hausgenossen Paulus, und der an der philosophischen Fakultät angestellte Professor Fischer in die dritte Etage des Borgiasbaues.
Unsere Wohnung war sehr geräumig, eine lange Reihe von Zimmern stand zu unserer Verfügung, und die Schwierigkeit war nur, so viele Zimmer, um sie benutzen zu können, zu möblieren. Allein da unsere Bekanntschaften in Würzburg immer größer und die Besuche unserer Freunde bei uns immer zahlreicher wurden, so taten wir, was wir konnten, nicht nur zur Möblierung, sondern auch zur Verschönerung unserer Wohnung, indem wir mehrere Zimmer auf unsere Kosten tapezieren oder malen ließen. Hätte ich ahnen können, daß ich sie so bald wieder würde verlassen müssen, so hätte ich freilich diesen Aufwand nicht gemacht. Indessen reuete mich derselbe nicht. Die Freunde, die uns besuchten, befanden sich wohl in den geräumigen, gut möblierten Zimmern, und ihr Wohlgefallen an der Wohnung und ihre Freude, uns darin bequem und behaglich zu sehen, entschädigte uns hinlänglich für den gemachten Aufwand. Besonders war der Graf von Thürheim und seine Gemahlin mit unserer Einrichtung zufrieden, welche uns beinahe alle Abende mit ihrer Tochter, der hernachmaligen Gemahlin des Fürsten Karl von Wrede, des ältesten Sohnes des als Feldherr und Staatsmann gleich berühmten Marschalls, besuchten.
Zu den vielen neuen Freunden, welche wir in Würzburg gewönnen hatten, zähle ich vorzüglich den Vizepräsidenten der Landesdirektion Freiherrn von Leyden, den Oberjägermeister[204] Freiherrn von Zyllnhardt, den Direktor von Schilcher, den Direktor von Sicherer und seine Frau, eine Gräfin von Thörring, eine Frau von Hutten, den Rezeptoratsdirektor von Lurz und den Administrator des Julius-Spitals, Hofrat Oehninger. Bei dem Vizepräsidenten von Leyden war ich nicht nur Hausarzt, sondern auch Hausfreund, ebenso auch bei den Direktoren von Schilcher und von Sicherer, dessen Frau die meinige zu ihren liebsten Freundinnen zählte. Mit dem Oberjägermeister von Zyllnhardt, einem der bravsten Männer in Würzburg, knüpfte ich bald einen innigern Freundschaftsbund, so wie meine Frau mit der Frau von Hutten, die bis zu ihrem Tod eine immer gleich treue Freundin blieb. Mit der Frau Gräfin von Thörring, welche mit dem Oberjägermeister von Zyllnhardt in demselben Hause wohnte, wurde ich zuerst durch diesen bekannt. Sie war eine ebenso gescheite als brave Frau, welche sehr viel auf die meinige hielt und uns fast alle Wochen einmal besuchte, jedoch immer unter der Bedingung, daß auch im strengsten Winter das Zimmer nur wenig geheizt werden durfte. Überhaupt hatte sie viele Eigenheiten, unter andern auch die, daß sie sich immer schwarz kleidete. Aber wir konnten diese Eigenheiten leicht übersehen, da sie sich bei allen Gelegenheiten als eine wahre Freundin von uns betrug. – Mit dem Rezeptoratsdirektor von Lurz stand ich zwar in keinem besondern freundschaftlichen Verhältnis, aber ich achtete ihn doch, seiner vielen Wunderlichkeiten ungeachtet, als einen braven Mann, und weil ich viel mit ihm zu verkehren hatte, so war es mir lieb, ihn zum Freund und Gönner zu haben, wie er sich denn auch bei jeder Gelegenheit als einen solchen gegen mich bezeigte. Ebenso stand ich auch mit dem Administrator des Julius-Spitals, Hofrat Oehninger, auf keinem besonders vertrauten Fuß, allein da ich mit ihm in manchfacher amtlicher Verbindung stand, so lag mir viel daran, ihn zum Freund zu haben, und ich muß ihm das Zeugnis geben, daß er mir nicht nur zu allen Veränderungen, welche ich in dem Julius-Spital beabsichtigte, willfährig die Hand bot, sondern auch nach meinem Abgang wohlgesinnt gegen mich blieb, da er mich nicht nur bis zu seinem Tod alle Jahre mit einigen Flaschen Steinwein erfreute, sondern mir[205] auch nachrühmte, daß ich dem Julius-Spital während meiner Direktion desselben auch in ökonomischer Rücksicht viel genützt habe.
Aber nun kam eine Epoche, welche ich zu den interessantesten rechne, die ich erlebt habe, der heue Krieg, welcher im Jahr 1805 zwischen Frankreich und Österreich ausgebrochen war. Der Kurfürst von Bayern, dessen Armee bisher immer gegen Frankreich gefochten hatte, hatte sich für Frankreich erklärt. Die Österreicher hatten die bayerische Grenze überschritten und waren im Begriff, in München einzurücken. Der Kurfürst mit seiner Familie, seinen Ministern und einem großen Teil seines Hofs, verließ München und begab sich nach Würzburg, um sich hier zu verweilen, bis die Österreicher seine Residenz wieder verlassen hätten. Der Einzug des Kurfürsten in Würzburg war still, die Würzburger, ohnehin österreichisch gesinnt und unzufrieden, daß er zum erstenmal auf der Flucht nach Würzburg komme, betrugen sich ganz gleichgültig bei seinem Einzug, der große Platz vor dem Schloß war beinahe leer von Menschen, bloß die öffentlichen Behörden waren zum Empfang des Kurfürsten im Schloß versammelt. Aber der Kurfürst kehrte sich nicht daran. Gleich am andern Tag durchwandelte er wie in München die Straßen ohne Begleitung, grüßte jeden Vorübergehenden freundlich, begab sich in Kaufläden, kurz, überall zeigte er seine einnehmende Popularität. Natürlich gefiel dies den Würzburgern, und wie sie seinen Einzug in die Stadt mit Gleichgültigkeit angesehen hatten, so frohlockten sie jetzt über seine Anwesenheit. Diese veränderte Stimmung der Würzburger machte dem Kurfürsten große Freude, und er bezeigte ihnen auf alle Weise, daß er sich wohl in ihrer Mitte befinde. Er ging alle Tage in der Stadt herum, besah alles, was zu sehen war, und so kam er dann auch in das Julius-Spital. Ich war eben im Begriff, es zu verlassen, als er eintrat. Als Dirigent des Spitals stellte ich mich ihm vor, führte ihn dann überall im Spital herum, durch die Krankenzimmer, in die Kirche, in den botanischen Garten, in die Anatomie, in das chemische Laboratorium und zuletzt auch in die Wohnungen der Pfründner. Mit allem bezeigte er seine Zufriedenheit,[206] und welchen Anteil er an den Kranken und an den betagten und gebrechlichen Pfründnern und Pfründnerinnen genommen, mag folgendes Beispiel beweisen. Unter den Pfründnerinnen befand sich auch eine kurz zuvor aufgenommene Weibsperson, welcher von Geburt an die untern Extremitäten fehlten, welche aber außerdem ganz gesund war. Der Kurfürst bezeigte Mitleid mit dieser gebrechlichen Person, beschenkte sie mit einigen Talern, und wie er weitergehen wollte, sagte ihm der anwesende Pfarrer des Spitals, daß diese armselige Kreatur zwar wohl versorgt sei, daß sie aber vollkommen glücklich sein würde, wenn auch ihre arme Mutter ebenso versorgt wäre. »Das wird wohl keine Schwierigkeit haben«, erwiderte der Kurfürst, »man muß mir deshalb nur eine schriftliche Anzeige machen, und das kürzeste wird sein, wenn Sie, Herr Pfarrer, morgen früh mir die Anzeige selbst bringen, jedoch muß ich zuvor fragen, ob die Mutter der Unglücklichen ein Landeskind ist.« – »Das ist sie«, erwiderte der Pfarrer, »denn sie ist eine Bambergerin.« Indigniert, die Güte des Kurfürsten so mißbraucht zu sehen, trat ich vor und sagte: »Dem ist nicht also, Euer kurfürstliche Durchlaucht, die Mutter des Mädchens ist keine Bambergerin, sie ist am Rhein zu Hause. Überdies ist sie auch nicht ihre Mutter, sondern eine weitläuftige Anverwandte derselben, welche sie bisher ums Geld hat sehen lassen und, weil sie nichts mehr mit ihr erwerben kann, ihre Aufnahme in das Julius-Spital von der Landesdirektion ausgewirkt hat. Endlich gehört auch das unglückliche Mädchen selbst nicht in das Julius-Spital, sondern es sind für solcherlei Personen andere Anstalten in der Stadt, und es war ein Versehen von der Landesdirektion, daß sie das nicht bedacht hat. Sage du selbst«, fuhr ich, mich an das Mädchen wendend, fort, »ist es nicht so, daß das Weib, welches dich nach Würzburg gebracht, nicht deine Mutter, sondern bloß eine Anverwandte von dir und keine Bambergerin, sondern eine Rheinländerin ist?« – »So ist es«, erwiderte die Weibsperson, und der Kurfürst, ärgerlich über den zudringlichen Pfarrer, nahm die Aufforderung zur Beibringung der verlangten Anzeige zurück, der Pfarrer stand beschämt und schweigend, und ich konnte mich[207] nicht enthalten, ihm in Gegenwart des Kurfürsten die Lehre zu geben, daß man großen Herren die Wahrheit sagen müsse, weil sie, wenn sie ihnen unserer einer nicht sage, dieselbe unmöglich erfahren können.
Dies geschah am Vormittag. Am Abend besuchte mich wie gewöhnlich Graf Thürheim. Er war kaum in das Zimmer getreten, so frug er mich, was ich denn heute früh mit dem Spitalpfarrer gehabt habe. Ich antwortete, weiter nichts, als daß ich ihm ein wenig durch den Sinn gefahren sei, weil ich das Lügen nicht leiden könne. Er wisse alles, erwiderte der Graf, der Kurfürst habe es heute mittag an der Tafel erzählt, und ich habe mich dadurch bei ihm in großen Kredit gesetzt. Sie seien ein Mann, sagte er, auf den man sich verlassen könne, und auf solche Männer halte er etwas. »Das freut mich«, antwortete ich, »und ich hoffe, daß mich der Kurfürst noch weiter von dieser Seite kennenlernen soll; ich bin ein Fremdling in Würzburg, und nur die Achtung meiner Vorgesetzten und der Schutz des Kurfürsten können mich gegen den Neid und den Widerwillen der Würzburger sicherstellen.«
Das Interesse des Kurfürsten an dem Julius-Spital teilte sich auch seiner Gemahlin, den Prinzessinnen und mehr oder weniger dem ganzen Hof mit. Wen er sprach, gegen den pries er das Spital, und wer es noch nicht besucht hatte, wurde von ihm dazu aufgefordert. Schon einige Tage nachher, nachdem der Kurfürst das Spital zum erstenmal besucht hatte, beehrte auch die Kurfürstin dasselbe mit einem Besuch. Ich war eben in Begleitung einiger meiner Zuhörer aus dem Spital weggegangen und wollte über den Schloßplatz nach Hause gehen, als ich den Kurfürsten mit seiner Gemahlin aus dem Schloß heraustreten sah. Der Kurfürst erkannte mich von fern und winkte mich zu sich. Die Studenten entfernten sich, ich folgte, dem Wink und erwartete, ihm meine Ehrfurcht bezeigend, seine Befehle. »Wie ich an Ihrer Begleitung sehe«, sagte er, »so kommen Sie von dem Julius-Spital her, aber ich kann Ihnen nicht helfen, Sie müssen wieder dahin zurück und meiner Frau das Spital zeigen, das ist«, fuhr er fort, »der Dirigent des Spitals,[208] der wird dich überall darin herumführen, ein braver Mann und noch dazu ein Schwabe, dein Landsmann.« Die Kurfürstin bezeigte überall, wohin ich sie führte, ihr Wohlgefallen, und insbesondere über den schönen botanischen Garten und das reichhaltige anatomische Präparatenkabinett. Während sie sich in dem letztern aufhielt, hatte in dem in dasselbe führenden Zimmer ein großes, einem Sarg ähnliches, zinnernes Behältnis die Aufmerksamkeit des Kurfürsten erregt, und auf dessen Frage, was das sei, antwortete der alte Siebold, an den die Frage gerichtet war: »Das ist ein Sarg, Euer kurfürstliche Durchlaucht, in welchem die Teile, die zu Präparaten gemacht werden sollen, um sie vor Fäulnis zu bewahren, in Branntwein gelegt werden«, und um den Kurfürsten einen anschauenden Begriff davon beizubringen, befahl er dem Anatomiediener, den an einem Flaschenzug hängenden Deckel des Sargs in die Höhe zu ziehen. »Nicht doch, Herr Geheimerrat«, sagte ich, »in dem Sarge liegen mehrere Teile, die, wenn der Deckel aufgehoben wird, Gestank verbreiten, und in dem Präparatenkabinett ist die Kurfürstin, welche hier wieder durchpassieren muß.« – »Zugelassen, zugelassen«, rief der Kurfürst. Gleich darauf kam die Kurfürstin aus dem Kabinett zurück, und ich führte sie weiter.
Ein paar Tage darauf beehrten auch die Prinzessinnen Auguste und Charlotte das Julius-Spital mit ihrem Besuch. Die Ehre, sie in demselben herumzuführen, wurde mir wiederum zuteil. Ich zeigte ihnen alles wie der Kurfürstin; auch sie betrachteten alles mit Wohlgefallen, besonders aber gefiel ihnen die einfache schöne Kirche und der botanische Garten. Es blühete damals gerade eine Pflanze, welche der Gärtner als die seltenste und kostbarste in dem ganzen Garten angab. Ich weiß nicht mehr, wie er die Pflanze nannte, die Blüte bestand aus mehreren weißen Blumen von der Größe der Aurikeln, und ihr Wohlgeruch übertraf noch ihre Schönheit. Der Gärtner, sich nicht begnügend mit dem Lob der Pflanze, erzählte auch, daß sie noch von dem Fürstbischof Franz Ludwig angeschafft worden und was sie gekostet habe. Die Prinzessinnen hörten ihm mit Aufmerksamkeit zu, und er würde noch lange fortgefahren[209] haben, wenn ich ihn nicht unterbrochen hätte. »Aber lieber Herr Wolf«, sagte ich, »wozu alles dieses Gerede? Schneiden Sie die Blume ab und überreichen Sie sie der Prinzessin«, auf die Prinzessin Auguste zeigend. Der Gärtner besann sich, die Prinzessin protestierte gegen das Abschneiden. Allein es half nichts, der Gärtner mußte die Blume abschneiden, er tat's, und ich überreichte sie der Prinzessin mit den Worten: »Jetzt ist die schöne Blume an ihrem rechten Platz, schöner konnte sie an keinem andern verblühen.« Die Prinzessin war etwas verlegen, aber sie nahm die Blume wohlgefällig aus meiner Hand, und nie werde ich das holde Lächeln vergessen, mit welchem sie dieselbe an ihren Busen steckte. Zuletzt führte ich die Prinzessinnen in mein Auditorium, ein geräumiges gewölbtes Zimmer mit mehreren Reihen wohlangebrachter Subsellien, und diesen gegenüber mit einer um mehrere Stufen erhöhten Lehrkanzel versehen und mit den in Lebensgröße in Öl gemalten und in vergoldete Rahmen gefaßten Bildnissen der Fürstbischöfe, von dem Fürstbischof Julius, dem Stifter des Spitals, an bis zu dem damals noch lebenden Fürstbischof Georg Karl ausgeziert. Ich nannte den Prinzessinnen die Namen der Fürstbischöfe, welche die Bilder vorstellten, und bemerkte zuletzt, daß, um die Reihe der um das Julius-Spital verdienten Fürsten vollzumachen, nur noch ein Bildnis fehle, und auf die Frage, was ich meine, antwortete die Prinzessin mit der liebenswürdigsten Bescheidenheit: »Das Bildnis meines Vaters.« – »Sie könnten es leicht erraten«, sagte ich ihr, »auch ist das Bildnis längst bestellt und in Arbeit, und damit Sie auch die Stelle wissen, wohin es kommt es kommt an den meinem Katheder gegenüber stehenden Pfeiler, damit ich es bei meinen Vorlesungen immer vor Augen habe und mich bei seinem Anblick stets meiner Pflicht, erinnere.« – »Das werden Sie nicht nötig haben«, erwiderte sie, freundlich lächelnd, aber gewiß sehr vergnügt darüber, daß die schöne Reihe so vieler guten und edlen Fürsten mit dem Bildnis ihres Vaters geschlossen werden; soll.
So hatte ich nun als Dirigent des Julius-Spitals die bedeutendsten Personen aus der Begleitung des Kurfürsten kennengelernt,[210] indem sie alle nach und nach dasselbe besuchten. Aber näher bekannt wurde ich mit einigen als Arzt und Lehrer an der Universität, und unter diesen nenne ich vorzüglich den Minister von Montgelas und seine Gemahlin, die geheimen Referendäre von Zentner, von Ringel und von Schenk. Der Minister von Montgelas hatte, um beständig in der Nähe des Kurfürsten zu sein, in der dem Residenzschloß zunächst gelegenen Wohnung des Grafen von Thürheim einige Zimmer bezogen, seine Gemahlin hingegen wohnte mit ihrem damals einzigen Kinde, einer Tochter von ungefähr zwei Jahren, in dem »Rainacher Hofe«. Sie wollte das Julius-Spital sehen, und ein Billett von dem Vizepräsidenten von Leyden bestimmte mir den Tag und die Stunde, wenn ich sie dahin abholen sollte. Ich fand mich zu der bestimmten Zeit bei ihr ein, wurde auf das höflichste von ihr aufgenommen, und sie wollte nur noch auf ihren Gemahl warten, der auch mitgehen wollte. Allein dieser kam nicht, und wir begaben uns daher ohne ihn in das Spital. Ehe wir weggingen, zeigte sie mir ihr Töchterchen, um mich wegen desselben um Rat zu fragen. Das Kind war mit einem Nabelbruch behaftet und hatte zwar eine Bandage, aber ich fand diese nicht zweckmäßig genug und versprach ihr, für eine bessere zu sorgen, auch eines meiner eigenen Kinder sei mit diesem Übel behaftet gewesen, es hätte mir keine Bandage etwas getaugt, endlich hätte ich selbst eine angegeben, welche von meiner Frau verfertigt worden und ihren Zweck so gut erreicht habe, daß der Schade schon nach ein paar Monaten gehoben gewesen, wahrscheinlich habe meine Frau die Bandage noch, und sie werde mit Vergnügen nach dem Muster derselben eine gleiche für das Kind verfertigen, nur müsse sie zuvor das Maß an dem Kind nehmen. Die Frau Ministerin nahm das Anerbieten wohlgefällig auf, lud meine Frau gleich auf den folgenden Tag zu einem Frühstück bei ihr ein, wo sie die Bandage ungesäumt zu verfertigen und sie zum erstenmal selbst anzulegen versprach. Meine Frau erfüllte ihr Versprechen, die Bandage wurde angelegt, sie paßte vollkommen, und es war kein Zweifel, daß das Übel bald, gehoben werden, würde.[211]
Indessen war Napoleon in München angekommen. Die Ministerin, begierig den großen Mann zu sehen, reiste gleich nach erhaltener Nachricht von seiner Ankunft dahin ab, und der Minister, der seine Tochter nicht allein lassen wollte, bezog bis zur Rückkunft seiner Gemahlin den »Rainacher Hof«. Da ich das Kind gewöhnlich alle Morgen besuchte, so sah ich auch dabei den Minister, der sonst sehr schwer zugänglich war, öfter, und ich freute mich dieser nähern Bekanntschaft mit ihm um so mehr, da ich manches Gute für die Universität bewirken konnte, was außerdem wahrscheinlich unterblieben wäre. Er war bis zu dieser Zeit noch nicht in dem Julius-Spital gewesen, aber er hatte mir zugesagt, dasselbe zu besuchen, sobald er ein paar freie Stunden haben würde. Dies geschah zufällig bei einem Spaziergang, welchen er mit dem geheimen Referendar von Ringel machte. Sie gingen eben durch die Allee vor dem Julius-Spital, als mich der letztere aus demselben heraustreten sah. Ringel mußte den Minister hierauf aufmerksam gemacht haben, denn sie gingen beide auf mich zu, und der Minister sagte, er habe jetzt eben eine Stunde Zeit, das Spital zu sehen, ich möchte ihn in demselben herumführen, doch solle ich dafür sorgen, daß wir allein seien, weil er niemand sprechen wolle. Ich befahl daher dem Torwart, niemand von der Anwesenheit des Ministers in dem Spital etwas zu sagen und niemand, der nicht Geschäfte in dem Spital habe, einzulassen. Der Befehl wurde von dem Torwart pünktlich befolgt, der Minister bekam niemand zu sehen, und wir durchwanderten das Spital ungestört. Der Minister besah alles mit der größten Aufmerksamkeit, bezeigte überall seine Zufriedenheit, besonders aber gefiel ihm die Kirche, von welcher er sagte, daß er nie eine so einfache und doch so schöne Kirche gesehen habe.
Nächst der Bekanntschaft mit dem Minister interessierte mich vorzüglich die Bekanntschaft mit dem geheimen Referendar von Zentner, welchen ich schon durch den Grafen von Thürheim als einen der vorzüglichsten Staatsbeamten in Bayern kannte. Ich hatte ihn zwar schon einigemal gesehen, aber näher bekannt mit ihm wurde ich erst aus Gelegenheit einer Unpäßlichkeit, gegen welche er meine Hülfe in Anspruch nahm.[212] Seine nähere Bekanntschaft entsprach meiner Erwartung vollkommen. Ich fand an ihm einen ebenso angenehmen und wohlwollenden als geistreichen und vielfältig unterrichteten Mann, und je öfter ich mit ihm zusammenkam, desto mehr bestätigte ich mich in diesem Urteil über ihn. Er war ein sehr vertrauter Freund des Grafen von Thürheim, und wenn dieser, wie fast täglich, abends zu mir kam, brachte er gewöhnlich auch ihn mit, und so entstand bald ein wahrhaft freundschaftliches Verhältnis zwischen uns, welches auch, als er Minister geworden, unverändert blieb und bis zu seinem Tode fortdauerte.
Auch mit dem geheimen Referendar von Ringel kam ich aus Anlaß einer ihn betroffenen Unpäßlichkeit in nähere Bekanntschaft. Er war in hohem Grade hypochondrisch, und ein Anfall seiner gewohnten Krämpfe bewog ihn, mich deshalb um Rat zu fragen. Er wurde bald von seinen Krämpfen befreit, und da er so gefällig war, mir zu erlauben, ihn auch in gesunden Tagen zu besuchen, so benutzte ich diese Gelegenheit, näher bekannt mit ihm zu werden, sooft ich es für schicklich hielt. So sah ich denn auch ihn öfters, und ich darf mir schmeicheln, daß auch er, wie der Herr von Zentner, Würzburg als mein Freund verlassen hat.
Mit dem geheimen Referendar von Schenk wurde ich durch seinen Sohn bekannt, der in Würzburg Medizin studierte und auch bei mir Vorlesungen hörte. Der junge Schenk war einer der fleißigsten Studierenden, mit vielen Fähigkeiten begabt, von dem besten Herzen und untadelhaften Sitten. Natürlich war das Lob, welches ich dem Sohn geben konnte, dem Vater höchst erfreulich, und es konnte nicht fehlen, da er erfuhr, daß ich seinen Sohn jener Eigenschaften wegen besonders auszeichnete, daß er mich als den Freund seines Sohnes ansah und mich als solchen auch seiner Freundschaft würdigte.
Der Aufenthalt des Kurfürsten in Würzburg dauerte einen vollen Monat, und es verging keine Woche, wo er das Julius-Spital nicht ein- oder zweimal besuchte. Er kam gewöhnlich allein und immer in den Stunden, wo er wußte, daß er mich in dem Spital treffen würde. Unvermutet trat er in das Krankenzimmer, worin ich mich eben mit meinen Schülern befand,[213] durchging mit mir die andern, umgeben von den Studenten, fragte nach dem Befinden fast jedes einzelnen Kranken und hatte sich jeden so gut gemerkt, daß er bei dem nächsten Besuche sich selten über seine Krankheit irrte. Es war ein höchst erfreulicher Anblick, den Landesherrn an den Leiden seiner armen kranken Untertanen so teilnehmend und von Bett zu Bett von den Studenten begleitet zu sehen. Aber auch er selbst gefiel sich in dieser Begleitung; er sagte mir mehrmals, daß es ihm vorkomme, als wäre er selbst ein Student, der Kranke behandeln lernen müsse. Zum Beweis seiner großen Teilnahme an den Leiden der Kranken will ich nur einen Fall anführen. Ein Handwerksmann, der in seinen Zimmern arbeitete, hatte das Unglück, daß ihm ein schwerer Hammer auf einen Vorderfuß fiel. Der Vorderfuß war heftig gequetscht, so daß der Beschädigte weder gehen noch stehen konnte. Der Kurfürst ließ ihn sogleich in das Julius-Spital schaffen, und zugleich schickte er einen Hofbedienten zu mir mit dem Befehl, für die Heilung des Kranken auf das beste zu sorgen. Als äußerlichen Kranken hatte ihn der Professor der Chirurgie und Oberwundarzt des Spitals Barthel von Siebold zu behandeln. Er nahm ihn daher sogleich in die Kur, und auf mein Verlangen zog er auch seinen Vater bei. Beide Siebolde stimmten für die Amputation des Fußes, nicht allein wegen der Heftigkeit der Quetschung, sondern auch weil der Patient schon bei Jahren und ein starker Trinker war. Auch ich war dieser Ansicht, aber als die Frage von der Stelle war, an welcher die Amputation gemacht werden sollte, war ich anderer Meinung. Sie wollten die Amputation unmittelbar über den Knöcheln machen, ich riet, den Fuß unter dem Knie abzuschneiden, weil die Gefahr des Brandes in dieser weitern Entfernung von dem verletzten Teil weniger groß sei. Allein ich wurde überstimmt, die Amputation wurde über den Knöcheln gemacht. Aber schon am dritten Tag zeigte sich die Wunde brandig, und nun sollte eine zweite Amputation unter dem Knie gemacht werden, wozu ich jetzt nicht mehr stimmen konnte; ich riet vielmehr, sie jetzt über dem Knie zu machen. Allein auch hier mußte ich den beiden von mir völlig unabhängigen Chirurgen nachgeben. Die[214] Amputation wurde unter dem Knie gemacht, aber bald zeigte sich die Wunde auch hier brandig, und es sollte nun zur Amputation über dem Knie geschritten werden. Diese dritte Amputation litt ich nicht mehr. Der Kranke, sagte ich, ist nun ein innerlicher, er hat ein typhöses Fieber, der Brand ist nicht mehr örtlich, er ist jetzt allgemein, der Kranke ist ohne Zweifel verloren, und ich gebe schlechterdings nicht zu, daß er zum drittenmal amputiert wird. Wirklich starb der Kranke wenige Tage darauf an dem typhösen Fieber zum großen Bedauern des Kurfürsten, der natürlich sehr ungehalten über die beiden Siebolde war, als ich ihm auf sein Verlangen den Vorgang ausführlich erzählte.
Hatte ich mich schon vorher bei dem Kurfürsten in Kredit gesetzt, so konnte es nicht fehlen, er mußte durch diesen Vorgang bedeutend vermehrt werden. Davon erhielt ich bei mehreren Gelegenheiten die überzeugendsten Beweise; auch ist es natürlich, daß die günstige Meinung, welche der Kurfürst von mir gefaßt hatte, mir auch überhaupt mehr Achtung in Würzburg verschaffte. Ich wurde, was vorher nicht der Fall war, auch in allgemeinen Universitätsangelegenheiten zu Rat gezogen, und zumal bei Besetzung der erledigten Professorate. So wurde z.B. nach dem Abgang des Professors der Anatomie Fuchs, welcher wieder nach Jena, woher er berufen worden, zurückkehrte, als sein würdigster Nachfolger der Professor der Physiologie und Pathologie Döllinger von mir in Vorschlag gebracht und dazu ernannt, so daß er nun alle drei Pensa vereinigte. Von allen Kompetenten war er gewiß der würdigste, und wenn ich sonst kein Verdienst um die Universität gehabt hätte, als daß ich ihn zu der Stelle empfohlen, so würde dieses einzige schon groß genug gewesen sein, um sagen zu können, daß ich mich um dieselbe verdient gemacht habe.
Schon während der Anwesenheit des Kurfürsten in Würzburg hatte die Stadt französische Einquartierung bekommen, an welcher auch die Professoren der Universität zu tragen hatten. Zugleich sollte in der Umgegend der Stadt ein großes französisches Lazarett ein gerichtet werden, wozu das ehemalige Klostergebäude in Unterzell am Main, eine Stunde von Würzburg,[215] gewählt worden. Das Gebäude war eben verkauft worden, aber zum Glück war der Verkauf noch nicht ratifiziert und das Gebäude disponibel geblieben. Nun war zwischen dem französischen Gesandten, welcher dem Kurfürsten nach Würzburg gefolgt war, dem Staatsrat Otto, und der von dem Kurfürsten niedergesetzten Kommission, Kriegsseparat genannt, die Übereinkunft getroffen worden, daß bis zur Herstellung des Lazaretts in Unterzell die kranken Franzosen einstweilen in den Krankenanstalten in der Stadt untergebracht werden sollen. Ich wußte nichts von dieser Übereinkunft, und weil ich nichts mit dem Lazarett zu tun hatte, so erhielt ich auch von derselben keine Notiz. Aber zu meinem Erstaunen traf ich an einem Morgen drei kranke Franzosen in dem Julius-Spital, und auf die Frage, wie diese so unerwartet in das Spital gekommen, erhielt ich die Antwort, es sei auf Befehl des Kriegsseparats geschehen. Das Kriegsseparat, aus dem Vizepräsidenten, den drei Direktoren und einigen Räten der Landesdirektion zusammengesetzt, und als Präsident des Kollegiums der Generallandeskommissär Graf von Thürheim hielt seine Sitzungen gewöhnlich am Morgen, und sowie ich das Julius-Spital verlassen hatte, eilte ich sogleich in das Schloß und in das Zimmer, wo ich das Kriegsseparat noch beisammen fand. Ich sagte demselben, wie erstaunt ich war, kranke Franzosen in dem Julius-Spital zu sehen, und protestierte nicht nur gegen jede weitere Aufnahme solcher Kranken, sondern verlangte auch, daß die bereits aufgenommenen sobald als möglich wieder entfernt werden möchten. Natürlich erfuhr ich nun die mit dem französischen Gesandten getroffene Konvention mit der Bemerkung, daß bei derselben das Julius-Spital nicht habe ausgenommen werden können, daß aber die darin befindlichen Franzosen, sowie das Lazarett in Unterzell eingerichtet sei, ungesäumt dahin versetzt werden sollen. Ich ließ mir diese Zusage vorderhand gefallen; aber da ich am folgenden Tag die Zahl der kranken Franzosen um vier vermehrt und am dritten bereits auf zehn gestiegen sah, so begab ich mich abermals vor das Kriegsseparat und wiederholte meine Bitte um Entfernung dieser Kranken nachdrücklicher, indem ich zugleich bemerkte,[216] daß es mit der Einrichtung des Lazaretts in Unterzell viel zu langsam hergehe, um nicht fürchten zu müssen, daß zuletzt das Julius-Spital von kranken Franzosen überschwemmt werde. Ich erhielt von dem Kriegsseparat denselben Bescheid wie das erstemal; aber ich beruhigte mich damit nicht mehr, und als ich auf die Frage, ob denn dem Übel nicht abzuhelfen sei, eine verneinende Antwort erhielt, verließ ich das Zimmer mit den Worten: »Nun wohlan! wenn mir das Kriegsseparat nicht helfen kann, so bleibt mir nichts übrig, als daß ich mir selbst helfe.« Der Präsident lachte, und das ganze Kollegium lachte mit. Aber fest entschlossen, nicht nachzulassen, als bis ich meinen Zweck erreicht haben würde, begab ich mich zu dem französischen Gesandten, um ihm meine Not vorzustellen. Ich fand einen großen, schönen, freundlichen Mann, zu welchem ich sogleich Zutrauen faßte, und trug ihm geradezu und offen vor, was ich verlange; um ihn aber von der Notwendigkeit, dem Übel abzuhelfen, vollkommen zu überzeugen, bat ich ihn, daß er sich selbst in das Julius-Spital begeben und mir die Stunde bestimmen möchte, wann ich ihn dort erwarten sollte. Der Gesandte schien sich für die Sache zu interessieren und versprach mir, gleich am folgenden Morgen um neun Uhr sich in dem Julius-Spital einzufinden. Er kam, wie er versprochen hatte, zur bestimmten Zeit. Zuerst führte ich ihn in die Zimmer, wo die kranken Franzosen lagen, deren bereits schon einige zwanzig waren. Dann führte ich ihn in den botanischen Garten, in die Anatomie, in das chemische Laboratorium usw., und nachdem ich ihm alles gezeigt hatte, sagte ich: »Sie haben gesehen, Exzellenz, wieviel kranke Franzosen bereits in dem Spital sind, und es ist kein Zweifel, daß sich ihre Zahl mit jedem Tage vermehren wird. Nun ist aber das Julius-Spital kein gewöhnliches Spital, das bloß zur Aufnahme Kranket dient, sondern es ist auch eine Universitätsanstalt, die Krankenzimmer sind ebensoviele Lehrsäle für die Klinik, und da die wenigsten Studierenden französisch sprechen, so muß der klinische Unterricht aufhören, wenn das Spital ein Lazarett für kranke Franzosen wird. Aber das ist noch nicht genug«, fuhr ich fort, »ist das Julius-Spital ein französisches Lazarett, so werden sich[217] auch die französischen Militärärzte eindrängen, und weit entfernt, daß es ihnen bloß um die Behandlung der Kranken zu tun sein wird, werden sie auch gelegentlich die anatomische Präparatensammlung besuchen, wo sie sich leicht etwas, was ihnen gefällt, zueignen können, während die Rekonvaleszenten in dem botanischen Garten nicht nur die schönen Blumen pflücken, sondern auch manches andere verderben. Nun hat aber der Kaiser Napoleon ausdrücklich befohlen, daß auch in feindlichen Ländern die Universitäten auf alle Weise geschont werden sollen, er wird also um so viel mehr darauf sehen, daß die Universitäten in den Ländern seiner Alliierten verschont werden, und es ist daher ganz der Intention des Kaisers gemäß, daß das Julius-Spital in kein französisches Lazarett verwandelt werde.« Der Gesandte teilte meine Ansicht ganz, und nachdem ich ihm gesagt hatte, daß es zur baldigen Befreiung des Julius-Spitals vorzüglich darauf ankomme, daß die Einrichtung des Klostergebäudes in Unterzell tätiger betrieben werde, als es bisher geschehen, fügte ich die Bitte hinzu, das Nötige deshalb ungesäumt zu besorgen. Wirklich erließ er schon am folgenden Tag an das Kriegsseparat eine Note, worin er dasselbe zur schleunigen Herstellung des Lazaretts in Unterzell aufforderte und auch von seiner Seite alle die Gründe geltend machte, die ich für die Befreiung des Julius-Spitals von den Franzosen ihm mündlich vorgetragen hatte. Der Graf von Thürheim, zwar etwas unwillig über den Schritt, den ich getan hatte, konnte doch nicht umhin, ihn zu billigen. Er lobte den Eifer, mit welchem ich mich des Julius-Spitals angenommen, und das Kriegsseparat, angetrieben von dem französischen Gesandten, beschleunigte die Herstellung des Lazaretts in Unterzell dergestalt, daß es nach ein paar Wochen bezogen wenden könnte. So hatte ich das Julius-Spital von der französischen Einquartierung glücklich befreit, und wenn meine Freude darüber groß war, so war es die Freude des Administrators Oehninger nicht minder. Er hatte schon einmal den Fall erlebt, daß das Julius-Spital in ein Militärlazarett verwandelt worden, in ein österreichisches, und er könnte mir nicht genug sagen, wieviel es dem Spital gekostet habe. Größeres[218] Verdienst, versicherte er mir, hätte ich mir um das Spital nicht erwerben können, ich habe ihm mehrere tausend Gulden erspart, und das Lob, welches er mir deshalb gab, widerhallte auch von vielen andern Orten her.
Nach der Zurückreise des Kurfürsten nach München war es nun wieder ganz still in Würzburg. Der Krieg hatte sich in die österreichischen Staaten gezogen, und wir konnten nun unsere Geschäfte wieder ganz ungestört treiben. Auch bekamen wir jetzt wieder Besuche von fremden Gelehrten, herbeigelockt teils von dem Glanz, welchen die Universität unter der bayerischen Regierung überhaupt erhalten hatte, denn sie war anerkannt als eine der ersten Universitäten Deutschlands, teils von den an derselben angestellten Männern, Paulus, Schelling und andern, und, was insbesondere die Besuche von fremden Ärzten betrifft, von den vorzüglichen Anstalten für das medizinische Studium, indem nur wenige Universitäten mit der Würzburger hierin, wetteifern konnten. Es würde überflüssig sein, alle die Gelehrten, welche unsere Universität von Zeit zu Zeit besuchten, zu nennen. Ich spreche daher bloß von den ausgezeichnetern und von denen, deren Besuche in meine Zeit fielen, und hier steht nun der berühmte Voß, der Vater, obenan. Ich sah ihn zuerst bei Paulus, und da er mehrere Tage in Würzburg verweilte, so sah ich ihn auch anderwärts, bei Thürheim, Schelling und auch einigemal bei mir. Die Stunden, welche ich in seiner Gesellschaft zubrachte, zähle ich zu meinen angenehmsten in Würzburg. Er selbst gefiel sich vorzüglich in Gesellschaft mit dem Grafen von Thürheim, den er öfters besuchte und der auch bei den Besuchen, welche er bei Paulus und mir machte, meistens zugegen war. Er war sehr erfreut, sich auch über wissenschaftliche Gegenstände mit dem Grafen unterhalten zu können, und als einmal von der Behauptung seines Antagonisten Wolf, daß die Werke des Homer mehrere Verfasser gehabt hätten, die Rede war und Graf Thürheim seine Gründe dagegen entwickelte, erstaunte er, auch einige unter denselben zu finden, auf welche er, wie er sagte, als ein Mann vom Handwerk nicht gekommen sei. So gewann er denn eine sehr hohe Achtung vor dem Grafen, und es ist daher leicht[219] erklärlich, daß er nicht ungeneigt war, in bayerische Dienste zu treten, wenn ihm die Direktion des gesamten Schulwesens in Bayern angetragen werden würde. Wirklich hatte Thürheim bereits darauf bei dem Ministerium in München angetragen, allein es erfolgte keine Antwort auf seinen Antrag, dagegen erschien bald darauf der Wismayerische von dem Kurfürsten genehmigte Schulplan. Voß sah sich also getäuscht, und es ist ihm wohl nicht zu verdenken, daß er, um seiner Indignation Luft zu machen, den Wismayerischen Schulplan in der Jenaer Literaturzeitung, selbst unter seinem Namen, auf eine so derbe Art durchgehechelt hat.
Nächst Voß hatte ich bei Paulus noch mehrere andere interessante Männer kennengelernt, wie den berühmten Übersetzer Shakespeares August Wilhelm Schlegel und den gleichberühmten Übersetzer Ariosts, Tassos und Calderons Gries, weil ich sie aber bloß gesehen habe, so begnüge ich mich, sie bloß zu nennen, und verweile um so länger bei einem andern, dem D. Schlotmann aus Römhild. Ich wohnte mit Paulus schon zusammen, als ihn Schlotmann besuchte, aber ich hatte ihn diesmal nicht gesehen, Paulus hatte seines Besuchs bloß gegen mich erwähnt. Allein die Schilderung, welche er von diesem sonderbaren Mann machte, erregte meine Begierde, ihn persönlich kennenzulernen, in hohem Grade. Nun hatte er mir unter andern Zügen, die ihn charakterisierten, auch den angeführt, daß er sich überall einfinde, wo etwas Merkwürdiges vorgehe. So habe er nicht nur den größten Teil von Deutschland, sondern auch mehrere andere Länder durchreist, und zwar jederzeit zu Fuß und beinahe ohne Geld. Es verdroß mich, daß ich ihn nicht gesehen hatte und, da er erst vor wenigen Tagen Würzburg verlassen, so bald keine Hoffnung hatte, seine Bekanntschaft zu machen. Es war gerade um die Zeit, als die Franzosen unter Bernadotte über Ansbach in das Würzburgische eingedrungen waren und auch in der Stadt erwartet wurden. Die Franzosen kamen, und mir fiel ein, weil dies etwas Merkwürdiges sei, daß auch Schlotmann kommen könne. Paulus zweifelte, weil er erst vor kurzem da gewesen. Aber wir hatten kaum von ihm gesprochen, so stand er mitten unter uns.[220] Schon sein Äußeres hatte etwas Auffallendes. Ein großer, starker Mann mit großen blauen Augen, einer sonderbar gebogenen Habichtsnase, blonden, in einen dicken sogenannten englischen Zopf gebundenen Haaren und in einem Aufzug, in welchem er mehr einem verdächtigen Landstreicher als einem ansässigen Doktor der Medizin glich, aber ein Mann von Geist, vielseitigen Kenntnissen, einem stupenden Gedächtnis und höchst interessant in Gesellschaft. Besonders interessant waren die Erzählungen von seinen Reisen. Wo er war, hatte er alles auf das schärfste beobachtet und es so in seinem Gedächtnis aufbewahrt, daß er sich auch der geringsten Details erinnerte. So fragte ich ihn z.B. über Stuttgart nach Dingen, von denen ich unmöglich glauben konnte, daß sie ihm bekannt seien, aber er wußte alles so gut als ich selber. Ich habe selten einen interessantern Sonderling gesehen, und ich freue mich, vorläufig sagen zu können, daß mein Wunsch, öfter mit ihm zusammenzukommen, in der Folge zweimal erfüllt worden ist.
Ein anderer Besuch eines ausgezeichneten Mannes in Würzburg war der Besuch des Professors Samuel Vogel aus Rostock. Er war, um seine geschwächte Gesundheit wiederherzustellen, willens, in das südliche Frankreich zu reisen; allein schon in Paris, wo er sich etwas länger verweilen wollte, hatte sich sein Zustand so verbessert, daß er die Reise in das südliche Frankreich aufgab und die ganze Zeit seines Urlaubs in Paris zuzubringen beschloß. Wirklich kam er auf seiner Rückreise ganz gesund in Würzburg an, und da er einige Tage hier verweilte, so lernte ich ihn bald näher kennen, indem er täglich das Julius-Spital besuchte. Ich erkannte sogleich an ihm einen ebenso liebenswürdigen Mann als ausgezeichneten praktischen Arzt, und es tat mir sehr leid, daß er Würzburg so bald verließ, da ich seines lehrreichen Umgangs länger zu genießen so sehr gewünscht hatte.
Nicht lange nach Vogel kam der berühmte großbritannische Leibarzt Stieglitz aus Hannover nach Würzburg. Sein Aufenthalt daselbst war kürzer als der Aufenthalt Vogels. Indessen war mir sein einziger Besuch im Julius-Spital hinlänglich, um auch an ihm einen der ausgezeichnetsten Ärzte zu erkennen.[221] Das Spital gefiel ihm sehr wohl, und ebenso schien er auch mit der Art, wie ich die Klinik trieb, zufrieden zu sein, wenigstens sagte er mir beim Abschied, daß ich ja niemals von Würzburg weggehen soll, da ich nirgends anderswo eine so schöne und nützliche Stellung würde finden können.
Endlich erwähne ich noch eines ausgezeichneten Mannes, den ich in Würzburg kennenlernte, des Hofrats und Professors Ferro aus Wien. Dieser hielt sich vorzüglich an die Siebold, und ich sah ihn nur einmal bei der Amputation einer Brust, welche Barthel Siebold verrichtete. Siebold war überhaupt ein geschickter Operateur, und Ferro pries mit Recht die Dexterität, die er bei der Operation bewies. Er machte ihm darüber sehr schmeichelhafte Komplimente, aber noch schmeichelhafter machte sie ihm sein Vater. Er selbst hatte schon seit längerer Zeit keine Operation mehr gemacht, aber selten fehlte er, wenn sein Sohn operierte. Auch diesmal war er zugegen, sah mit großem Wohlgefallen der Operation zu, und wie er nach Beendigung derselben seinem Sohn, ihn umarmend und küssend, Glück wünschte, rief er frohlockend aus: »Wie freue ich mich, Professor Barthel, dieses neuen Beweises, daß deines Vaters alte chirurgische Seele in der deinigen wieder auflebt!« Ferro lachte über die Eitelkeit des Vaters, aber er verzieh sie dem alten Mann gern, weil er die Freude über die gelungene Operation mit ihm teilte.
Außer der schon früher erwähnten Reise in mein Vaterland machte ich, solange ich in Würzburg war, keine mehr. Dagegen erhielt ich mehrere Besuche von meinen Anverwandten und Freunden, die ich in demselben zurückgelassen hatte. So besuchte mich zuerst meine jüngste Schwester, welche zu unserer allerseitigen Freude einige Wochen lang bei uns blieb. Sie gefiel sich wohl bei uns, und ihr Besuch war uns um so erwünschter und erfreulicher, da sie meinen Eltern und meinen zwei andern Schwestern sagen könnte, daß sie sich durch selbsteigenen Anblick überzeugt habe, es gehe uns in Würzburg wohl und wir seien mit unserer Lage zufrieden.
Bald nach der Abreise meiner Schwester besuchten uns drei meiner Schwäger, der Hofprediger Harpprecht und der D. Bischoff[222] aus Ludwigsburg und der Oberfinanzrat Moser aus Stuttgart. Der Besuch war uns um so erfreulicher, da wir ganz unvermutet von ihm überrascht wurden. Sie verweilten nur ein paar Tage bei uns, aber wir taten alles, um ihnen ihren Aufenthalt bei uns so angenehm als möglich zu machen, und ihre Zufriedenheit darüber ließ uns den Schmerz unserer Trennung weniger fühlen.
Noch mehr als der Besuch meiner drei Schwäger überraschte uns der Besuch zweier Freunde, von denen wir nie erwartet hatten, daß wir sie in Würzburg sehen würden. Es war der Besuch meines lieben Freundes, des Konsulenten Mader von Heutingsheim, und eines andern alten Freundes, welchen ich schon früher hätte nennen sollen, des Oberstlieutenants Zech aus Ludwigsburg. Noch nie hatte Mader, seit er älter geworden, eine so weite Reise gemacht, und auch Zech war nichts weniger als reiselustig. Aber ebendarum legten wir auch einen desto größern Wert auf ihren Besuch und unterließen nichts, was ihnen denselben angenehm machen konnte. Wir führten sie überallhin, wo etwas Interessantes zu sehen war, auch in den Hofkeller, welcher, auch ohne Rücksicht auf die köstlichen Weine, die er enthielt, ihnen einen unerwartet schönen Anblick gewährte. Insbesondere aber gefielen sie sich in dem Thürheimschen Hause, wohin sie nicht nur mit mir zu Tisch geladen wurden, sondern auch sowohl von dem Grafen als von der Gräfin auf das wohlwollendste behandelt wurden. Ungern verließen sie Würzburg, und mit Wehmut sahen wir sie von uns scheiden.
Noch überraschender als der Besuch Maders und Zechs war der Bestich, mit welchem mich bald darauf der Prinz Paul von Württenberg, der Bruder des jetzt regierenden Königs, auf einer Reise nach Hildburghausen beehrte. Ich wußte nichts von seiner Ankunft in Würzburg und hatte mich, wie gewöhnlich am Vormittag, in das Julius-Spital begeben. Beim Heraustreten aus einem Krankenzimmer in den Gang sah ich einen großen, schönen jungen Mann mir entgegenkommen, von dem es mir schien, dass ich ihn kennen sollte. Aber ich erkannte ihn nicht, bis er mir näher getreten war. »Kennen Sie mich noch?«[223] rief er mir zu, »ich habe Sie in Ihrer Wohnung besuchen wollen, aber man hat mir gesagt, Sie seien um diese Zeit im Spital, und darum habe ich Sie hier aufgesucht; kennen Sie mich noch?« – »O ja«, erwiderte ich, ihm meine Ehrfurcht bezeigend, »Sie sind der Prinz Paul, und ich kann nicht ausdrücken, wie sehr ich mich freue, Sie nach so langer Zeit wiederzusehen.« Ich fragte ihn, ob er das Spital sehen wolle. »Diesmal nicht«, erwiderte er, aber wir unterhielten uns eine gute Weile, im Gang hin- und hergehend, und als ich ihn beim Weggehen fragte, wie lange seine Anwesenheit in Würzburg dauern werde, und die Antwort erhielt, bis zum folgenden Morgen, lud ich ihn auf den Nachmittag zum Kaffee bei mir ein. Willfährig nahm er die Einladung an und verweilte sich mit seinen Begleitern, einem General und einem Hofkavalier, bei mir bis spät zum Abend. Der Stoff unserer Unterhaltung war sehr reichhaltig, und es mochte gesprochen werden, worüber es wollte, so zeigte er sich überall als den geistreichen Mann, als welchen er sich schon in seinem frühern Alter angekündigt hatte. Was mir aber seinen Besuch besonders schätzbar und erfreulich machte, war, daß er mir viel von meinem Vater sprach, der das Regiment kommandierte, dessen Inhaber er war. Ich wußte von meinem Vater schon vorher, daß der Prinz sehr wohlwollend gegen ihn gesinnt sei, daß er ihn öfter besuche und nie von ihm weggehe, ohne ihn zu fragen, ob er nicht einen Wunsch habe, welchen er erfüllen könne. Auch bei mir sprach er seine wohlwollenden Gesinnungen gegen meinen Vater auf das unzweideutigste aus, und wenn ich ihn vorher wegen seines Verstandes verehrt hatte, so verehrte ich ihn nun nicht minder wegen seines guten Herzens, das man ihm vielfältig abgesprochen hat.
Aber ich hatte noch einen interessantern Besuch zu erwarten als die eben erwähnten, einen Besuch von Schiller, der mich auch in Würzburg wiedersehen wollte. Er hatte mir ihn für gewiß versprochen, allein sein Versprechen blieb unerfüllt. In demselben Frühjahr, wo er es erfüllen wollte, starb er im Mai 1805, noch nicht volle fünfundvierzig Jahre alt. Was ich an ihm verlor, werde ich tief fühlen, solange ich lebe. Was die[224] Welt an ihm verlor, weiß jeder, der seine Schriften kennt. Aber sein Wirken im Reich des Schönen, Wahren und Guten hat mit seinem Tod nicht aufgehört. Sein Geist lebt fort in seinen Schriften, sie werden gelesen werden, solange in den Deutschen der Sinn für das Schöne, Wahre und Gute nicht erstorben ist, und diese Zeit wird und kann nie kommen.
Mit meinen Freunden in Würzburg, deren ich immer mehrere gewann, blieb ich stets auf dem alten guten Fuß, und so auch mit meinen Zuhörern, die ich immer mehr an mich zu ziehen suchte, nicht um ihrer noch mehrere zu gewinnen, denn ich hatte ihrer sehr viele, als vielmehr um ihnen nicht allein als Lehrer, sondern auch als Freund nützlich zu sein. Sooft ich konnte, versammelte ich sie um mich, ich lud sie abwechselungsweise zu mir ein, ich besuchte sie abwechselungsweise in ihren Wohnungen, ich forderte sie auf, mit mir spazierenzugehen, wo der gewöhnliche Ort, wohin wir gingen, die angenehm gelegene Aumühle war. Hier setzten wir uns, entfernt von der übrigen Gesellschaft, zusammen an einen großen Tisch, tranken ein Glas Wein oder Bier und unterhielten uns über wissenschaftliche Gegenstände. Ebenso setzte ich mich auch öfters im Theater statt in die Thürheimsche Loge, wo ich einen eigenen Platz hatte, zu ihnen ins Parterre, und um sie in ihrem Mutwillen nicht zu stören, hatte ich nichts dagegen, wenn sie zuweilen einen schlechten Schauspieler herausriefen. Selbst im Hörsaal vergaß ich manchmal den Professor und suchte mich ihnen gleichzustellen, indem ich mich in ihre Angelegenheiten, ja selbst in ihre Herzensangelegenheiten, mischte. So befand sich z.B. unter meinen Zuhörern ein Schweizer aus Zürich, der bereits promoviert hatte. Er hatte sich in ein Liebesverständnis mit der Tochter eines Schullehrers eingelassen, welche man für das schönste Mädchen in Würzburg hielt. Abends beim Hineingehen in das Spital, wo ich noch eine Vorlesung zu halten hatte, sah ich ihn mit seinem Mädchen in einem tiefen Gespräch; ich ging vorüber, ohne ihn zu grüßen. Aber, obschon auf dem Katheder stehend, fing ich doch meine Vorlesung nicht gleich an, sondern erst, nach dem der Liebhaber des Mädchens eingetreten war. »Ich habe nur auf[225] Sie gewartet, Herr Doktor«, sagte ich, »ich sah, daß Sie im Begriff waren, die Vorlesung zu besuchen, und habe deshalb auf Sie gewartet.« Er müsse sehr um Verzeihung bitten, erwiderte er, aber er sei zufällig aufgehalten worden. »Das habe ich wohl gesehen«, antwortete ich, »aber es ist unnötig, daß Sie sich entschuldigen, denn ich habe den Fehler begangen, daß ich nicht auch bei dem schönen Mädchen stehen geblieben bin, ein Fehler, den mir alle meine Zuhörer gewiß verziehen hätten, wenn ich auch eine Stunde später gekommen wäre.« Die ganze Versammlung lachte, aber der betroffene Doktor freute sich der Teilnahme des Professors an dem Liebeshandel seines Schülers. Durch diese Teilnahme an ihren Angelegenheiten erwarb ich mir ihr Zutrauen auch in wichtigern Dingen, und indem ich demselben bei jeder Gelegenheit zu entsprechen suchte, so verlor ich, ungeachtet ich zuweilen den Professor vergaß, doch nie die Achtung, welche sie mir als ihrem Lehrer schuldig waren. – Endlich gewann ich mir auch dadurch die Gunst meiner Zuhörer, daß ich nie einen von ihnen wegen unterlassener Bezahlung des schuldigen Honorars verklagte. So umging ich zwar die Verordnung, aber ich setzte dadurch die ärmern Studenten in den Stand, andere Lehrer, die mehr auf die Entrichtung der Honorare warteten als ich, um so leichter befriedigen zu können; auch war ich überzeugt, daß die Uneigennützigkeit, welche ich ihnen dadurch bewies, manchen wohlhabenden Nichtbezahler, indem dadurch sein Ehrgefühl erregt wurde, zur Entrichtung seines Honorars bestimmt hat.
Unter diesen Verhältnissen lebte ich nun zufrieden mit meiner Lage und unbesorgt wegen der Zukunft. Der französische Kaiser hatte den Feldzug siegreich geführt, der kühne und gewagte Entschluß der bayerischen Regierung, es mit Frankreich zu halten, war gerechtfertigt, und es war zu erwarten, daß auch Bayern an den Früchten des Sieges der Franzosen seinen Anteil erhalten werde. Aber nun kam der Friede, der Kaiser hatte versprochen, Bayern großzumachen, er hielt sein Wort; allein eine Bedingung des Friedens war, daß Würzburg an den Kurfürsten von Salzburg, den Erzherzog Ferdinand von Österreich, abgetreten werden sollte. Ich erfuhr dies zuerst von dem[226] Grafen von Thürheim, ich konnte es nicht glauben, und doch war es nur zu gewiß. Welchen Schrecken diese Nachricht uns fremden Professoren verursacht hat, kann man sich leicht denken. Freilich hatten wir nicht zu fürchten, von der neuen Regierung weggeschickt zu werden, in dem schlimmsten Fall mußten uns wenigstens Pensionen bewilligt werden; auch zeigte es sich bald, daß unsere Furcht ohne Grund war. Sämtliche Professoren der Universität wurden im Namen des neuen Regenten von seinem Hofkommissär verpflichtet, und es war keine Rede von Entlassung eines fremden, im Gegenteil erhielten diejenigen, welche nicht bleiben wollten, Pensionen, welche sie bis zu einer anderweitigen Anstellung beziehen sollten. Solchergestalt hätte ich ganz unbesorgt in Würzburg bleiben können und, wie ich nachher erfuhr, hätte es die großherzogliche Regierung auch gern gesehen, wenn ich geblieben wäre. Allein erstlich war ich einer von denjenigen fremden Professoren, welchen die Beibehaltung in bayerischen Diensten vorläufig zugesichert war, und da ich mich auf diese Zusicherung verlassen durfte, so konnte ich, ohne gegen den Kurfürsten von Bayern, der mir so viele Beweise seiner Gnade gegeben hätte, undankbar zu sein, die würzburgischen Dienste nicht gegen die bayerischen vertauschen. Zweitens wußte ich zwar wohl, daß ich nie mehr eine Stellung erhalten würde wie die, welche ich in Würzburg verließ; allein da ich leicht voraussehen konnte, daß ich bei allem Schutz, welchen ich von der großherzoglichen Regierung zu erwarten gehabt hätte, doch den geheimen Verfolgungen vieler meiner Kollegen mich nicht würde haben entziehen können, so vermochte mich weder dieser Schutz der Regierung noch das Angenehme meiner Stellung in Würzburg in den großherzoglichen Diensten zu bleiben. Schon als Protestant, zumal als protestantischer Primararzt am Julius-Hos pital, konnte ich es nicht für ratsam finden; allein ich war auch ein Bayer, und wie Würzburger der bayerischen Regierung überhaupt nicht hold waren, so waren sie es auch dem einzelnen Bayer nicht, und es war leicht vorauszusehen, daß sie einen nach dem andern zu verdrängen suchen würden. So würde früher oder später die Reihe auch mich getroffen[227] haben, und so schwer es mir auch fiel, meiner schönen Stelle zu entsagen, so brachte ich doch dieses Opfer der ruhigern Existenz gern, welche ich in Ansbach, wo ich als erster Rat in dem Medizinalkollegium angestellt ward, zu erwarten hatte. Ich verlangte daher meine Entlassung und erhielt sie auch sogleich. Allein da es einerseits mit meinem Eintritt in das Medizinalkollegium in Ansbach keine Eile hatte und ich es andererseits für Pflicht hielt, meine Funktionen wenigstens an der Universität bis zur Ernennung meines Nachfolgers fortzusetzen, diese aber sich mehrere Wochen verzögerte, so blieb ich bis zu Ende des Semesters in Würzburg.
Natürlich beeilte ich mich nun um so mehr, meine neue Stelle in Ansbach anzutreten; allein ehe ich Würzburg verließ, hatte ich noch einen kleinen Streit mit dem Universitätsrezeptorat auszugleichen, welches mir meine Besoldung nicht länger als bis zum Tag meiner Entlassung ausbezahlen wollte. Mir, für meine Person, konnte dies gleichgültig sein, denn von dem Tag an, wo die Bezahlung in Würzburg aufhörte, fing sie in Ansbach an. Allein da ich noch mehrere Wochen nach meiner Entlassung meine Funktionen in Würzburg fortgesetzt hatte, so war es natürlich, daß ich mich nicht in Ansbach dafür bezahlen lassen wollte, sondern, was ich noch zu fordern hatte, von dem Rezeptorat verlangte. Das Rezeptorat wollte nicht darauf eingehen, und zur Begründung seiner Weigerung wies es mir ein Reskript von der Universitätskuratel vor, worin bestimmt ausgesprochen war, daß mir meine Besoldung nur bis zum Tag meiner Entlassung ausbezahlt werden soll. Ich bat mir eine Abschrift von dem Reskript aus, und sowie ich sie erhalten, erließ ich unmittelbar an den Großherzog eine Vorstellung, worin ich ihn um die Entscheidung dieses Streites bat. Die Entscheidung fiel, wie ich vermutet hatte, zu meinem Vorteil aus, zugleich aber erging ein allgemeiner Befehl an die Universitätskuratel, des Inhalts, daß, wenn ähnliche Streitigkeiten zwischen dem Rezeptorat und einem abgehenden Professor vorkämen, sie jederzeit zugunsten des letztern entschieden werden sollen.
Gleiche Billigkeit erfuhr ich von dem Großherzog im betreff[228] einer andern Forderung, welche ich an die Regierung machte. Ich hatte nämlich zur Verbesserung und Verschönerung der mir angewiesenen Wohnung in dem Borgiasbau eine nicht unbedeutende Summe aus eigenen Mitteln aufgewendet und bat daher bei der Regierung um Entschädigung. Die Regierung legte mein Gesuch dem Großherzog vor, der Großherzog fand die Entschädigung billig, auf seinen Befehl wurde die Wohnung von einigen Mitgliedern der Regierung eingesehen, diese, überzeugten sich von der Wahrheit meiner Angaben, auf den Bericht der Regierung an den Großherzog wurde die verlangte Entschädigung von diesem dekretiert, und nachdem ich meine Forderung durch die beigebrachten Quittungen der Handwerksleute liquidiert hatte, erhielt ich dieselbe nach wenigen Tagen bezahlt.
So gerecht und edel hat der Großherzog gegen mich gehandelt, und wenn nicht frühere Pflichten mich an Bayern gebunden hätten, so hätte ich mich glücklich preisen können, in den Diensten dieses Fürsten zu stehen. Nur mit seinen Diensten hätte ich die bayerischen vertauschen mögen, und wenn ich hätte ahnen können, daß nach wenigen Jahren Würzburg wieder unter bayerische Herrschaft kommen würde, so weiß ich nicht, ob ich nicht in Würzburg geblieben wäre, wiewohl ich gestehen muß, daß ich jetzt nicht mehr Professor daselbst sein möchte.
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